Welche Russlandpolitik möglich ist
Das deutsche Russland-Triptychon: Nicht aufgeben, nicht nachgeben, nichts vorgeben
Russland politisch nicht aufgeben, Moskaus Politik nicht nachgeben, dem Kreml aber auch nichts politisch vorgeben: Dieses Triptychon ist eine inhaltlich zusammenhängende, gleichgewichtige Denkfigur. Die zu erbringende Leistung besteht darin, dass die deutsche Russlandpolitik sich in einer solchen dreifaltigen Gestalt manifestiert.
Gefragt ist nicht allein die Kunst, das politisch Mögliche machbar zu machen, sondern zugleich das Machbare politisch möglich zu machen. Wenn die beiden optionalen Regierungskoalitionen in Berlin ein neues Beziehungskapitel zu Moskau aufschlügen, wäre das ein Sieg der Vernunft – oder existiert diese Chance gar nicht?
Richtig ist: Es wird „keinen radikalen Neustart geben“. Aber die künftigen Regierungsparteien FDP und Bündnis 90/Die Grünen, seit Jahren ohne außenpolitische Regierungserfahrung, stehen für eine „härtere Haltung“ gegenüber Russland. Was heißt das konkret? Heute ist noch gar nicht abzusehen, welche Folgen das im derzeit ohnehin sehr gespannten Verhältnis zwischen den beiden Staaten hätte.
An Russland festhalten
Egon Bahr schrieb einmal, für Deutschland sei „Amerika unverzichtbar und Russland unverrückbar“. Dies bedeutet: Die USA sind auf Zeit unsere Elementarversicherung, Russland bleibt unser geographischer Nachbar und Teilhaber am politischen Tisch in Europa. Realpolitisch so schlicht wie treffend.
Daraus folgt: Eine verlässliche Sicherheitspartnerschaft mit Washington wird so lange benötigt, bis eine Vertrauenspartnerschaft mit Moskau auf stabilen Pfeilern steht. Jetzt einen Prolog für eine solche Zukunftsvision zu skizzieren ist schier aussichtslos. Andererseits sollte auch Kleinmut nicht das Handeln leiten.
Es kann unterstellt werden, dass der Kreml auf russlandpolitische Ideen und Vorstellungen der drei Spitzen beim politischen Schaulaufen um das Kanzleramt erwartet hatte. Dass im Wahlkampf des einflussreichsten EU-Mitglieds überhaupt keine außenpolitische Agenda zur Debatte stand, hinterließ sicherlich nicht nur dort, sondern auch in anderen wichtigen Staaten beklemmende Ratlosigkeit. Der Wahldiskurs war verengt auf innenpolitische Fragen zu Wirtschaft und Gesellschaft.
Beim Klimafokus entstand hingegen der Eindruck, Deutschland hätte die Aufgabe, die Welt zu retten – und könne das auch. Dieser Spagat zwischen Unter- wie Übertreibung der eigenen geopolitischen Bedeutsamkeit könnte auch Misstrauen säen.
Wie weiter mit Russland?
Die neue Bundesregierung steht deshalb vor der Aufgabe, ihren außenpolitischen Gestaltungswillen herauszustellen. Deshalb sollte das Verhältnis zu Russland noch einmal auf den Prüfstand gestellt werden. Aus Wladimir Putins Zusage in seiner Rede an die Nation vom 21. April, den Klimawandel zu bekämpfen sollten sich Anknüpfungspunkte für kooperatives Handeln formulieren lassen.
Putins Ansprache verdeutlichte den russlandpolitischen Scherbenhaufen, aus dem sich auf lange Zeit keine Vase kitten lässt. Zunächst kann es nur darum gehen, den bestehenden kalten Konflikt auszubalancieren. Die Diplomatie ist gefordert, dafür schöpferische Lösungsschritte zu entwickeln.
Eine deutsche Einbahnstraße ist wirkungslos. Die russische Regierung muss gleichermaßen erkennbar den Willen zu konstruktiven Beiträgen aufbringen. Das wird wahrscheinlich Teil harter politisch-diplomatischer Arbeit werden.
Putins Strategie-Dekret zur Nationalen Sicherheit vom 2. Juli zeigt, wie der russische Präsident die Lage sieht: dass der politische Westen auf breiter Front „offenen politischen und wirtschaftlichen Druck auf Russland ausübt“, um dessen Sicherheit, kulturelle Identität und Eigenentwicklung zu torpedieren. Das gibt wenig Hoffnung auf Moskaus Bereitschaft, sich mehr als Diskursmacht und weniger als potenziell bedrohliche Konfliktmacht aufzustellen. An Russland festhalten heißt letztlich, dennoch daran zu arbeiten, das Land am europäischen Tisch des Dialogs zu halten, an dem auch die USA noch länger sitzen.
Moskaus Politik nicht weichen
Die Hürde für ein besseres Verhältnis zwischen Deutschland/EU und Russland ist nicht mangelndes Vertrauen. Das Problem ist vielmehr ein russisches politisches Ordnungsmodell, das nur schwer mit dem Politikverständnis Deutschlands und seiner Verbündeten vereinbar ist.
Das russische Politikbild steht im Zentrum jeder russlandpolitischen Handlungsoption. Die Analysen über die außenpolitischen Treiber und ihre Strategiekonzepte werden in Deutschland und vor allem bei den ostmittel- und nordeuropäischen/baltischen Verbündeten kontrovers diskutiert.
Grob zusammengefasst geht es um zwei Interpretationen: Eine Denkschule sieht das russische auswärtige Handeln vorrangig aus innenpolitischen Motiven situativ geleitet. Anders gesagt: Die zunehmende sozialökonomische Unzufriedenheit wird durch die Demonstration außenpolitischer Stärke kompensiert, begleitet von einem wachsenden staatliche-orchestrierten Nationalismus. Mehrheitlich sehen Experten eine autoritäre, revisionistische (Ostukraine/Krim) und gleichzeitig eine offensiv ambitionierte (Syrien, Libyen, Rüstung) Großmacht.
Die Empfehlung: strategische Geduld
Wie wäre mit dieser Großmacht umzugehen? Deutschlands außenpolitische Klasse ist uneinig. Das gilt auch in den westlichen Hauptstädten. Nicht überraschend korrespondiert die Option für eine harte Gangart mit der geographischen Nähe zu Russland.
Für Antworten auf russische Politiken ist der deutsche/europäische Werkzeugkasten weiterhin überschaubar. Was sich empfiehlt, ist strategische Geduld. Erforderlich wäre jedoch ein Risiko-Strategie-Management, das vorausschauend potenzielle Änderungen der russischen Politik identifiziert, Ziele und Leitlinien benennt und Handlungsoptionen entwickelt.
Die Krim-Annexion, das Eingreifen in den Syrienkrieg, Russlands Verharren an der Seitenlinie bei der aserbaidschanisch-türkischen Rückeroberung von Gebieten Berg-Karabachs waren alle nicht auf dem deutschen Radar für potenzielle Krisen. Die Folge war wiederholte Kaltstart-Politik. Um die zu vermeiden, muss mehr in Szenarios investiert werden.
Dem Kreml nichts vorschreiben
Charles de Gaulle wird der Ausspruch zugeschrieben: „Nationen haben keine Freunde, Nationen haben Interessen.“ In welchem Kräfteverhältnis Interessen im auswärtigen Handeln zu den eigenen Werten stehen sollen, ist eine fortbestehende Debatte in Deutschland. So kann es geschehen, dass der Wert von internationalem Recht hinter die Interessen zurückfällt. Die USA unterzeichneten die Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs nicht, und Russland widerrief 2016 seine Anerkennung.
Die faktische Kraft des Normativen, die Stärke des Rechts in der internationalen Interaktion, ist für Deutschland konstitutiv. Die russische Politik folgt dagegen der normativen Kraft des Faktischen, dem Recht des Stärkeren; in dem Sinn, dass international geschaffene Tatsachen durch Gewöhnung eigene Rechtsqualität entwickeln sollen. Der Zusammenbruch deutscher werthaltiger Entwicklungspolitik in Afghanistan und die nur bescheidenen Resultate auf dem Westbalkan geben der Interessen-Fraktion Auftrieb. Man darf gespannt sein, ob sich das auch auf die Wertediskussion in der Russlandpolitik auswirkt.