Karabach: Auf verlorenem Vorposten
Warum Russland sich im Karabachkrieg nicht auf die Seite Armeniens geschlagen hat
Jahrzehntelang galt für den Karabachkonflikt die sicherheitspolitische Prämisse, dass Russland als Schutzmacht der Armenier fungiere. Die beiden Staaten sind dabei nicht nur im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) militärisch, sondern auch wirtschaftspolitisch verbündet, nachdem Armenien 2015 auf russische Initiative Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) geworden war. Weitaus bedeutender dürfte jedoch die geopolitische Bedeutung Armeniens für Russland sein.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion verlor Moskau stark an strategischer Tiefe: Im Süden fiel die Grenze auf die natürliche Barriere des Hochgebirgszugs des Großen Kaukasus zurück, die jedoch aufgrund der unterschwellig bestehenden Gefahr des Separatismus im Nordkaukasus stets gefährdet ist. Wenn es daher um die geopolitische Bedeutung Armeniens geht, wird in Russland immer wieder das deutsche Lehnwort Форпóст (Vorposten) verwendet.
In der Tat bildet der 102. Militärstützpunkt in der Republik Armenien einen geographisch vorteilhaft gelegenen und nach Süden vorgelagerten militärischen „Vorposten“ Russlands in Transkaukasien. Dass die selbstproklamierte, jedoch von niemandem anerkannte Republik „Arzach“ (vormals Republik Bergkarabach) dabei nur eine oberflächliche Tarnung für die armenische Kontrolle Karabachs bildete, war ein offenes Geheimnis. Die Bündnispflicht der OVKS galt dabei jedoch nie für Karabach.
Als im September 2020 der Zweite Karabachkrieg ausbrach, blieb die von vielen erwartete Unterstützung der Armenier seitens Russlands aus. Die Entscheidung Moskaus, weder direkt noch indirekt zu intervenieren, besiegelte das Schicksal der armenischen Kräfte.
Niederlage der Armenier im Interesse des Kremls?
Gestützt auf seinen Rohstoffreichtum hatte sich Aserbaidschan mehr als 25 Jahre auf diesen Waffengang vorbereitet. Modernste Waffensysteme russischer, türkischer und israelischer Herkunft standen bereit. Ohne moderne russische Flugabwehrsysteme hatten die armenischen Streitkräfte der aserbaidschanischen Offensive wenig entgegenzusetzen.
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Das außenpolitische Journal:
"Aufrüstung und die Folgen", Ausgabe 174, April 2021
Nach dem Fall der strategisch und symbolisch bedeutsamen Stadt Schuscha – als auf Seiten der Armenier ein Zusammenbruch der Front drohte und nur noch wenige Kilometer die Hauptstadt Bergkarabachs von den aserbaidschanischen Vorausabteilungen trennten – kam es durch Vermittlung Russlands zum Waffenstillstand. Neben den bereits während der 44-tägigen Kampfhandlungen verlorenen Gebieten übergab Armenien die um Karabach gelegenen, besetzten Bezirke Kelbajar, Lachin und Agdam. Darüber hinaus mussten sich die armenischen Streitkräfte auch aus Restkarabach selbst zurückziehen.
Der aserbaidschanische Sieg wird häufig vor dem Hintergrund des türkisch-aserbaidschanischen Bündnisses gesehen. Nur wenige stellten sich dabei die Frage, ob eine bedingte Niederlage der Armenier nicht durchaus auch im Interesse des Kremls war.
Dissonanzen im russisch-armenischen Verhältnis
Wieso unterstützte also Russland einen so wichtigen Verbündeten nicht? Der Krieg im Donbass verdeutlicht, dass es für Russland jenseits eines direkten Eingreifens auch im Karabachkrieg durchaus möglich gewesen wäre, durch Irreguläre und Freischärler sowie durch die Lieferung moderner Luftabwehrsysteme die Streitkräfte Karabachs indirekt zu unterstützen.
Bei einem Treffen russischer Freischärler-Verbände am 31. Oktober 2020 erklärte Alexander Borodai, ehemaliger Premierminister der nicht anerkannten „Volksrepublik Donezk“, die auffallende Abwesenheit derselben auf dem karabachischen Kriegsschauplatz mit der prowestlichen Haltung der armenischen Regierung. Im gleichen Atemzug wurde jedoch mitgeteilt, dass russische Freiwillige durchaus bereitstünden und ein Einsatz stattfinden könnte, sobald der Faktor „Paschinjan“ entfalle.
Was ist damit gemeint? Seit geraumer Zeit bestehen im russisch-armenischen Verhältnis deutliche Dissonanzen. Obwohl Russland als Schutzmacht Armeniens fungiert, hat Jerewan weder die Unabhängigkeitserklärungen Abchasiens noch Südossetiens anerkannt. Auch während der Krimkrise unterstützte Armenien den Prozess des Anschlusses der Halbinsel an Russland nur halbherzig.
Zwar stimmte Jerewan gegen die UN-Resolution 68/262 und sprach sich damit faktisch für die Gültigkeit des Referendums aus, doch offiziell erkennt die armenische Regierung die Krim bis heute nicht als russisches Territorium an. Für Verstimmungen sorgt zudem die Tätigkeit russlandkritischer Nichtregierungsorganisationen in Armenien.
Doch wirklich kritisch wurde die Situation aus russischer Sicht erst 2018, als die geopolitische Orientierung Armeniens in Gefahr geriet. Während im Zuge der sogenannte Samtenen Revolution der als prorussisch geltende Karabach-Clan seine Machtposition verlor, gelangte mit Nikol Paschinjan ein Politiker an die Staatsspitze, der in seiner Zeit als Oppositioneller eine außenpolitische und wirtschaftliche Emanzipation von Russland gefordert hatte.
Auch wenn er öffentlich nach dem Regierungsantritt die Mitgliedschaft zur EAWU und OVKS nicht mehr in Zweifel stellte, dürfte dies in Moskau kaum jemand geglaubt haben. Vielmehr erweckten Maßnahmen wie das Einstellen russischsprachiger Fernsehsendungen und jüngste Mediengesetze zum Schutz der armenischen Sprache den Eindruck einer schleichend betriebenen Entfremdung und Emanzipation. Auch wenn es von offizieller Seite keine Äußerungen in diese Richtung gab, kann davon ausgegangen werden, dass man in Moskau lieber jemand anderes auf dem Posten des armenischen Ministerpräsidenten sehen würde.
Als der Krieg ausbrach, sah sich Moskau vor die Wahl gestellt einen – aus russischer Sicht undankbaren – Verbündeten zu unterstützen, an dessen Staatsspitze ein Ministerpräsident steht, der probierte, sich aus der russischen Einflusssphäre zu lösen, oder bewusst dessen Niederlage in Kauf zu nehmen, wohl wissend, dass sich bei einem militärischen Debakel die innenpolitische Stimmung zuungunsten Paschinjans verschieben würde.
Russland kontrolliert nun Karabach
Mit dem Einzug russischer Friedenstruppen bei gleichzeitigem Abzug der armenischen Truppen geht die politische und militärische Kontrolle über das Gebiet Restkarabachs von Armenien an Russland über. Bergkarabach wird damit de facto zum russischen Protektorat. Weder militärische noch zivile Entscheidungen werden dort zukünftig ohne Zustimmung Moskaus getroffen. Für die dortige armenische Bevölkerung wird Russland zum einzigen Sicherheitsgaranten.
Aufgrund der Anwesenheit der Friedenstruppen wird zwangsläufig eine dauerhafte russische Militärbasis in der Enklave entstehen. Moskau erhält damit neben den Stützpunkten in Abchasien, Südossetien und Armenien einen weiteren Militärstützpunkt in Transkaukasien und gewinnt an strategischer Tiefe gen Süden. Mit der Kontrolle des (noch zu bildenden) Korridors durch Armenien, der Aserbaidschan mit der Exklave Nachitschewan verbinden soll, erhält Moskau auch ein Druckmittel gegenüber Aserbaidschan.
Dass die geopolitischen Auswirkungen des Friedensschlusses in einem größeren Gesamtzusammenhang gesehen werden müssen, verdeutlichen die Gespräche zwischen Wladimir Putin, Nikol Paschinjan und Ilham Alijew am 12. Januar 2021. Den Schwerpunkt des Treffens bildete nicht etwa der Status Karabachs, sondern die Öffnung der Transportverbindungen zwischen Aserbaidschan, Armenien und der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan.
Geplant ist unter anderem eine Eisenbahnverbindung von Russland durch Aserbaidschan nach Armenien und von dort in den Iran und die Türkei. Damit dürfte vor allem Georgien als Transitland sowohl zwischen Russland und Armenien, als auch Aserbaidschan und der Türkei enorm an Bedeutung verlieren.
Faktisch lässt sich damit Georgien mit seinem schwierigen Verhältnis zu Russland zukünftig umgehen und erleidet einen Bedeutungsverlust. Bezeichnend dürfte auch sein, dass der türkische Präsident nicht geladen war.
Für Armenien kamen die Bedingungen des Waffenstillstandsvertrags einer Kapitulation gleich. Ministerpräsident Paschinjan geriet mit der Unterzeichnung massiv unter Druck. Ein breites Oppositionsbündnis forderte, unterstützt durch hohe kirchliche Würdenträger, den Rücktritt des Regierungschefs. Es kam zu wochenlangen Massenprotesten.
Da diese nie eine kritische Massenmobilisierung erreichten, sah es zunächst so aus, als ob es Ministerpräsident Paschinjan gelingen würde, sie erfolgreich auszusitzen. Nachdem sich Ende Februar jedoch auch die Armeeführung auf die Seite der Opposition schlug und dabei Rückendeckung durch den Präsidenten Armen Sarkissjan erhielt, kündigte Paschinjan Neuwahlen sowie eine Verfassungsreform an.
Ob es zu einem Regierungswechsel kommt, ist trotzdem fragwürdig. Nikol Paschinjan demonstrierte in den letzten Tagen, dass er mehr Anhänger mobilisieren kann als die – aufgrund zurückliegender Korruptionsskandale weiterhin diskreditierte – Opposition. Ende März kündigte er allerdings an, bis zu Parlamentswahlen 2021 geschäftsführend im Amt zu bleiben.
Mehr Einfluss in der Region für Moskau
Fasst man die Ergebnisse zusammen, ergibt sich ein beachtlicher geopolitischer Einflussgewinn Russlands in der Region. In Armenien ist die Regierung Paschinjans diskreditiert, Georgien verliert seine Funktion als Transitland, Restkarabach wird von nun an durch Russland kontrolliert, während die Türkei, aber auch der Westen bei dem Vertragsschluss weitestgehend außen vor blieben.
Verärgert charakterisierte der ehemalige US-Botschafter in Georgien, Ian C. Kelly, den Waffenstillstandsvertrag als „ein Abkommen, das eine weitere russische Besatzung im Kaukasus beinhaltet und den Westen aussperrt“. Auch wenn das Waffenstillstandsabkommen das zentrale Problem des Status‘ Bergkarabachs keinesfalls löst, so hat sich doch das geopolitische Szenario grundlegend geändert. Die Putin-Administration signalisiert der gesamten Nachbarschaft, dass eine multivektorielle Außenpolitik, wie zuletzt von vielen russischen Verbündeten betrieben, von nun an mit dem Risiko verknüpft ist, im Ernstfall nicht auf die Unterstützung Moskaus hoffen zu können.
Der Politikwissenschaftler Leonardo Salvador (geb. 1992) studierte an den Universitäten Halle-Wittenberg, Havanna und Woronesch und ist Mitarbeiter/Projektkoordinator des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Moskau.