Ischinger: Was Deutschland tun muss
Ischinger will die Frage von Verhandlungen nicht Russland und der Ukraine überlassen, Foreign Affairs, 10.8.2022
Die Bundesregierung müsse die Abneigung Deutschlands gegen den Einsatz militärischer Gewalt und tiefe Veränderungen überwinden, schreibt Wolfgang Ischinger in Foreign Affairs. Das aber sei „leichter gesagt als getan“.
Das Alptraumszenario eines direkten Kriegs mit Russland habe im Land für ernsthafte Opposition gegen das Zeitenwende-Programm von Bundeskanzler Scholz gesorgt. Für Vorbehalte gegen eine größere Beteiligung in der Ukraine seien mehrere Sicherheitsbedenken verantwortlich: Am offensichtlichsten sei die Sorge vor einer militärischen Eskalation durch Russland, einschließlich Nuklear- und Chemiewaffen. „Keine Nato-Beteiligung“ sei (auch in anderen westlichen Ländern) ein „beliebtes Mantra“.
Aber auch wenn die Nato nicht direkt eingreife, blieben Risiken für Deutschland. Der ehemalige deutsche Botschafter in London und Washington und Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz nennt Waffenlieferungen, die „Deutschland und andere Staaten zu naheliegenden Zielen für eine mögliche russischen Eskalation machen könnten“. Darauf müssten Deutschland und seine Verbündeten vorbereitet sein.
Russland könnte zum Beispiel Vergeltungsmaßnahmen gegen einen oder mehrere der baltischen Staaten ergreifen oder alternativ westliche Waffenkonvois in Richtung Ukraine schon auf Nato-Territorium angreifen, schreibt Ischinger. Sollte die Ukraine die russischen Truppen aus dem Donbass verdrängen, befürchteten deutsche Analysten, dass Russland brutal zurückschlagen könnte.
Deutschland ängstlicher als andere Staaten?
Ischinger fragt, weshalb Deutschland empfänglicher sei für solche Ängste und Bedenken als andere. Seine Antwort: „Es gibt kein anderes Land in Europa, für das die russische Invasion in der Ukraine zu einem ähnlich grundlegenden und weitreichenden politischen Wandel geführt hat.“
Deutsche Außenpolitik habe jahrzehntelang auf militärischer Zurückhaltung beruht, unterstützt durch pazifistische Strömungen. Nun werde das Land zu einem Grundpfeiler der europäischen Sicherheit.
Deutschland habe bei Beginn des Kriegs über zu wenig militärische Ausrüstung verfügt, die schnell in die Ukraine hätte geschickt werden können. Das habe ein Dilemma erzeugt: „Sollte Deutschland akzeptieren, dass die eigene Sicherheit derzeit von ukrainischen Streitkräften am Dnjepr in der Ukraine und nicht an der Elbe in Deutschland verteidigt wird?“
Auch die Gasabhängigkeit von Russland müsse beendet werden, über die Verlängerung der Laufzeiten der verbliebenen drei Atomkraftwerke werde verhandelt.
Kriegsende in aller Interesse
Es sei aber „nicht schwer, für mehr deutsches Engagement in der Ukraine zu plädieren“. Ein schnelles Ende des Kriegs liege in seinem Interesse. Denn: „Für Deutschland und seine europäischen Verbündeten könnte die Folge eines langwierigen Kriegs in der Ukraine eine jahrelange Instabilität an Europas Grenzen sein.“
Eine Lösung dürfe aber nicht durch ein „russisches Diktat“ zustandekommen. Deshalb müsse Berlin zusammen mit den europäischen Alliierten der Ukraine mehr schwere Waffen liefern, damit Kiew „die nötigen Voraussetzungen für Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen“ schaffen könne. Das sei allerdings im Moment noch nicht denkbar: „Russland hat nicht genug verloren, die Ukraine hat nicht genug gewonnen.“ Deutschland solle anstreben, diese Gleichung zu ändern und „alles in seiner Macht Stehende tun, um der Ukraine zu helfen, besser zu kämpfen“.
Was die EU erreichen muss
Für Europa hat Ischinger folgende Ratschläge:
Die EU müsse „militärisch handlungsfähiger werden, wenn die NATO nicht handeln kann oder will“.
Der Entscheidungsfindungsprozess der EU müsse sich ändern. Viele Mitglieder hätten vorgeschlagen, das Einstimmigkeitserfordernis abzuschaffen und durch Mehrheitsentscheidungen zu ersetzen. Ischinger: „Solange die EU das kostenlose Veto nicht abschafft, wird sie als wichtiger Akteur für globale Sicherheit nie ernst genommen.“
Deutschland sehe sich gleichzeitig mehreren Herausforderungen gegenüber: der schwersten Krise der europäischen Sicherheit seit Jahrzehnten; einer Vertrauenskrise, weil viele europäische Regierungen an der Bereitschaft Deutschlands zweifelten, sich gegen Russland behaupten zu wollen; dem Zusammenbruch seiner traditionellen Wirtschaftsdiplomatie, die Wohlstand schaffen wollte durch Export von Waren und Import von Energie, „während es die Sicherheit auslagert, und versucht, durch Handel und Investitionen Veränderungen in Russland und China zu bewirken“. Außerdem sieht Ischinger eine Krise der EU.
Ischinger beklagt, dass es im Westen üblich sei zu sagen, dass Entscheidungen über einen Waffenstillstand oder Friedensverhandlungen vollständig der Ukraine und Russland überlassen werden müssten. Er sieht das anders: „Länder, die der Ukraine erhebliche militärische, nachrichtendienstliche, finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung angeboten haben, haben ein legitimes Interesse sowohl an der Führung des Kriegs als auch an den Bemühungen, ihn zu beenden.“
Ischinger plädiert für ein breiteres Forum, in dem Europa, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten die Optionen gemeinsam mit der ukrainischen Führung erörtern können. Das Treffen der Verteidigungsminister in Ramstein seien dafür ein Modell. Deutschland könne und solle im Rahmen der G7-Präsidentschaft die Initiative ergreifen. PHK