Putin: Alles unter Kontrolle

Die für die UdSSR charakteristische Zwangseinmütigkeit ist in Putins Russland wieder hergestellt

von Lew Gudkow
Gedankenkontrolle Russland
Dem Durchschnittsbürger in der Provinz stehen nur drei bis vier Informationsquellen zur Verfügung. Ergebnis: Der organisierte Konsens ist zurück.

Laut einer Ende April erhobenen Umfrage des Lewada-Zentrums befürworten 74 Prozent der Russen Putins Krieg in der Ukraine. Die absolute Mehrheit der Russen hält die USA und die Nato für den Konflikt und den Krieg verantwortlich.

Die Unterstützung oder Zustimmung für Aktionen der russischen Armee in der Ukraine ist unter älteren Menschen und den Bewohnern der Provinz am stärksten ausgeprägt. Eine ablehnende Haltung zeigen 20 Prozent der jungen Menschen, während es bei den älteren nur neun Prozent sind. Dabei weist die Auswertung keine Unterschiede hinsichtlich Bildungsstand und Familieneinkommen auf.

Die antiwestliche Stimmung ist das Ergebnis einer langen systematischen Beeinflussung des gesellschaftlichen Bewusstseins durch die Behörden und die Propaganda, die sich der Mittel der Ideologie des Kalten Kriegs bedient. Mit der Etablierung von Putins Herrschaft hat der Staat schrittweise seine Kontrolle auch über Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens ausgedehnt, die zuvor nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fielen.

Den Widerstand von Teilen der Gesellschaft gegen diese ideologische Ausweitung beantworteten die Behörden mit zunehmender Härte. Die Handlungsmöglichkeiten der Zivilgesellschaft wurden immer weiter eingeschränkt, sodass mittlerweile eine fast vollständige Kontrolle über die Medien einschließlich des Internets erreicht ist.

Alle alternativen Informationsquellen zu den offiziellen Kanälen wurden verboten oder blockiert, ganz zu schweigen von ausländischen Medien. Mehr als 3000 Webseiten wurden geschlossen. Nur relativ wenige Menschen wissen, wie sie die Verbote umgehen können, es handelt sich dabei vor allem um junge, gebildete Bewohner von Großstädten.

Darüber hinaus haben die Behörden auch verwaltungs- und strafrechtliche Sanktionen für die Veröffentlichung von Meinungen eingeführt, die von der offiziellen Position abweichen, oder für das Wiedereinstellen von Nachrichten von „unerwünschten Organisationen und Kanälen“. In einer solchen Situation haben die Menschen gar keine andere Möglichkeit, als sich über die von der Kreml-Propaganda aufgezwungen Quellen mit dem staatlichen Fernsehen als Hauptinstrument zu informieren.

Kaum unabhängige Informationsquellen

Heute gibt es in Russland 22 Fernsehsender, von denen 20 in vier Medienholdings zusammengeschlossen sind. Sie stehen vollständig unter der Kontrolle der Präsidialverwaltung und sind zu einer mächtigen Maschine zur Manipulation des Massenbewusstseins geworden.

Putins Politik der Wiederherstellung eines totalitären Systems bedeutet, dass Macht, Recht und das Monopol auf die Wahrheit oder das, „was Realität ist“, zwangsweise miteinander verbunden sind. Durch die Zerstörung der Medienfreiheit wird das Fernsehen von der Bevölkerung als der maßgebliche und vertrauenswürdige Informationskanal und als Stimme der Macht wahrgenommen.

Auch das Internet steht heute weitgehend unter Kontrolle der Behörden. Die beliebtesten sozialen Netzwerke Vkontakte und Odnoklassniki befinden sich im Besitz von kremlnahen Unternehmensgruppen und erreichen 45 bis 60 Prozent aller Social-Media-Nutzer.

Weniger abhängige Telegram-Kanäle sowie Youtube und andere erreichen nur rund zwölf Prozent der Nutzer. Ihr Publikum steht Putins Politik wesentlich kritischer gegenüber.

Jeder Moskauer verfügt im Durchschnitt über 15 bis 18 Informationsquellen aller Art. Das können Fernsehen, Radio, Printmedien, Internet, soziale Netzwerke, Telegrammdienste, Freunde und Bekannte, die über Ereignisse berichten, und anderes sein.

In den Provinzen, wo etwa 62 Prozent der russischen Gesamtbevölkerung leben, stehen dem Durchschnittsbürger nur drei bis vier Quellen zur Verfügung: ein oder zwei föderale Fernsehkanäle, lokales (oft regionales) Fernsehen oder Radio. Das Internet spielt in ländlichen Gebieten eine viel schwächere Rolle als in den Städten, nicht nur wegen des niedrigen Bildungsniveaus der Bevölkerung, sondern auch wegen der relativ hohen Kosten für Computer oder Mobiltelefone. Daher ist die Abhängigkeit von Propaganda in diesen sozialen Gruppen deutlich höher als in Großstädten.

Der organisierte Konsens ist zurück

In 20 der insgesamt 30 Jahre postsowjetischen Bestehens befand sich Russland in einem chronischen Zustand von Kriegen an der Peripherie – zwei Tschetschenienkriege, die Feindseligkeiten in Syrien, im Donbass sowie andere lokale Konflikte. Soziologische Untersuchungen deuten darauf hin, dass die für die Sowjetzeit charakteristische Zwangseinmütigkeit in der Gesellschaft – der „organisierte Konsens“ – wiederhergestellt ist.

Die anhaltende Wirkung der aggressiven und totalen Propaganda hat zu einer gewissen Abschwächung der Unterschiede in den Einstellungen geführt, die zuvor für Gruppen mit unterschiedlichem sozialem und kulturellem Kapital charakteristisch waren, aber sie hat diese Unterschiede nicht vollständig beseitigt. Daher sollte man nicht von einer ideologischen Spaltung sprechen, die auch die Haltung zum Krieg in der Ukraine einschließt, sondern von einem Meinungskontinuum, bei dem der eine Pol der Skala durch die Haltung der Kriegsgegner und der andere durch die regierungstreue Mehrheit bestimmt wird.

Es ist schwierig, die ideologischen Gründe für die Wirksamkeit von Putins Propaganda zu erklären. Sie schafft keine neuen Wahrnehmungen, Ideen oder Werte. Ihre Wirksamkeit beruht auf der Tatsache, dass sie mit seit Langem etablierten Stereotypen und ideologischen Klischees arbeitet, die während der Stalin-Ära oder in jüngster Zeit während des Kalten Kriegs entwickelt wurden – obwohl einige dieser Mythen und ideologischen Haltungen auf vorsowjetische Epochen zurückgehen.

Das Hauptthema dieser traditionellen Erzählungen ist die immerwährende Russophobie sowie die Feindseligkeit des Westens, der das immer mächtiger werdende Russland zerstören will. Auf diesem Narrativ als Basis wird eine Schicht von Ideologien aufgehäuft, welche die Rolle der UdSSR in den 1930er-Jahren als Anführer der antifaschistischen Bewegung, als Legitimation für Stalins Terrorregime und nach 1945 als Sieger über Nazideutschland festlegt. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR schwächte sich die antiwestliche Stimmung drastisch ab, doch mit dem Machtantritt Putins erhielt sie neuen Aufschwung.

Eine Erklärung für die enorme Stabilität dieser Wahrnehmungen bietet die politische Kultur, die von den gesellschaftlichen Institutionen reproduziert wird und seit der Perestroika nicht reformiert wurde: die Machtstrukturen, die Armee, die geheime politische Polizei und das Massenschulwesen. Dies hängt mit den Minderwertigkeitskomplexen eines Lands zusammen, das nicht in der Lage war, seine demokratischen Reformen erfolgreich umzusetzen und somit aus einem Zustand der nachzuholenden Modernisierung herauszukommen.

So kommt es, dass es noch immer starke Ressentiments gegenüber den USA und Europa hegt. Einerseits möchten die Russen alles haben, was sie mit ihrem Bild von den USA oder europäischer Länder verbinden, nämlich einen hohen Lebensstandard, einen Rechtsstaat, einen entwickelten sozialen Bereich, Freiheiten und Menschenrechte und anderes mehr, andererseits sind sie sich aber darüber im Klaren, dass dies unter dem derzeitigen Regime nicht möglich ist.

Keine Reform ohne Niederlage

Alle innenpolitischen Bemühungen Putins haben das Ziel, die Idee der Demokratie, des Liberalismus und der Menschenrechte zu diskreditieren und die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass diese Prinzipien mit den Traditionen Russlands unvereinbar sind und von Russlands Feinden als Instrument zur Destabilisierung und Degradierung der russischen Gesellschaft eingesetzt werden.

Die russische Opposition und die Vertreter der Zivilgesellschaft erscheinen in diesem Diskurs als „fünfte Kolonne des Westens“; sie sind Feinde und Landesverräter, die das Land in die gleiche Katastrophe führen wie die Ukraine nach dem Maidan, als nach einem „von den USA provozierten Putsch ukrainische Faschisten“ an die Macht kamen und eine „Politik des Völkermords gegen die Russen im Donbass“ betrieben.

Die Propaganda der ukrainischen „Nationalisten“ anstelle der „Nazis“ beruht darauf, dass die Nationalisten und „Russophoben“ dieser Länder die Rolle der UdSSR beim Sieg im Zweiten Weltkrieg leugnen und damit die Größe Russlands als Nachfolger der UdSSR und Erbe der Autorität und des Ruhms der Sieger über Hitlerdeutschland untergraben.

Der Sieg von 1945 ist das zentrale Symbol der postsowjetischen Identität und die Grundlage für Putins militaristische Politik, die die Armee als Trägerin traditioneller Werte und als Stütze des Imperiums preist. Weder die katastrophalen Folgen für die russische Wirtschaft noch das Wissen um die Zahl der toten Soldaten in diesem sinnlosen Krieg werden daher das ideologische Konstrukt der Realitätswahrnehmung verändern.

Wie die Erfahrungen früherer tiefer Krisen des russischen Reichs zeigen – denken wir an die Niederlagen im Krimkrieg 1856, im Russisch-Japanischen Krieg 1904, im Ersten Weltkrieg oder im Afghanistankrieg 1979 bis 1989 – wird sich die Haltung eines Großteils der russischen Bevölkerung erst dann ändern, wenn Russland im Krieg mit der Ukraine militärisch besiegt wird. Dann folgt entweder eine Reform – oder eine Revolution.

Lew Gudkow ist Soziologe und Wissenschaftlicher Direktor des Lewada-Zentrums, des letzten unabhängigen Meinungsforschungsinstituts in Russland. Sein Beitrag ist ursprünglich erschienen im Rotary Magazin.

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