Russische Küche: schnitsel, schtokfisch und salat

Wie Peter der Große Geschmack, Genuss und kulinarische Kompetenz in die russische Küche brachte

So isst man in Zarskoje Selo: Jedem ein eigener Teller, so wollte es schon Zar Peter der Große.

#33 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt der Gastrosoph der russischen Küche nach.

 

Es ist klar, daß man ihm niemals beigebracht hat, wie man anständig ißt, aber ich mochte seine natürliche und entspannte Art.

Sophie Charlotte von Hannover, Kurfürstin von Brandenburg 1697 über Peter den Großen als Gast

 

Von Europa lernen: Man weiß, dass der hünenhafte Zar Sankt Petersburg mit italienischen und preußischen Architekten aus dem Sumpfboden stampfte, dass er in Holland als Zimmermann lernte, wie man Kriegsschiffe zusammenbaut, dass er den Bojaren eigenhändig die Bärte abschnitt und ihre Gattinnen zwang, beim dîner wie französische Damen Dekolleté zu zeigen und Menuett zu tanzen.

Weniger bekannt ist, dass sein Modernisierungsprogramm auch den gastronomischen Alltag umfasste und bis heute nachwirkt.

Fangen wir beim weiblichen Geschlecht an. Indem er es aus der häuslichen Separation des abgeschiedenen terem, des Frauengemachs, heraustrieb, führte er auch einen gendergerechten Paradigmenwechsel weg von Asien, weg vom „skythischen“ Image Russlands Richtung Europa ein. Damit legte er den Grundstein für eine Galanterie nach westeuropäischer Manier, die, wie er glaubte, seinen russischen Patriarchenuntertanen anerzogen werden müsse.

So ist eins der wichtigsten Werke, die Peter der Große übersetzen bzw. kompilieren ließ, eine Tischzucht. „Der Jugend ehrwürdiger Spiegel“ lehnt sich eng an das 200 Jahre alte Etikettebuch De civilitate morum puerilium des Erasmus von Rotterdam an und fordert, sich nicht trompetend die Nase zu schneuzen oder die Zähne mit dem Messer zu reinigen.

Sich grobianisch die Hände am Tischtuch abwischen, gemeinsam aus Riesenschüsseln löffeln oder gigantische silberne Metbottiche herumgehen lassen, mit diesen moskowitischen Sitten soll es in der neuen Hauptstadt vorbei sein. Stattdessen werden holländische Damastservietten eingedeckt, jeder Gast bekommt einen Teller (und immer öfter auch eine zweizinkige Gabel). Statt Kwas aus Trinkhörnern wird ungarischer Tokajer aus gläsernen riumki (Römer!) geschlürft.

Peter war kein Gourmet

Peter der Große war kein Gourmet, eher ein immer hungriger Gourmand. Er hütete penibel seine Limburger-Ration, ließ es sich, so die Fama, auch bei Bauern schmecken und überließ lukullische Events seinem Günstling Menschikoff, der von silbernem Esstisch speiste. Der Zar verstand sich eher als Macher, als Antreiber, als eine Art früher food scout, der Lebensmittel und Kochtechniken auf ihre Verwendbarkeit für Russland prüfte.

Er sendet einen Sack Kartoffeln aus Rotterdam an einen Großgrundbesitzer (ohne nachhaltigen Erfolg). Er schickt einen französischen Kellermeister nach Astrachan, um aus persischen Rebstöcken modernen Wein zu keltern. Er lässt Versuchsgärten für Gemüse und Medizinpflanzen anlegen, gibt den Anstoß zu Russlands erstem Bade- und Trinkkurort.

Und er öffnet den Markt für westeuropäische Produkte, lockt Deutsche, Holländer, Finnen, Italiener nach Sankt Petersburg, die das erste Kaffeehaus Russlands eröffnen und ihre Speisegewohnheiten mitbringen. Küche wird jetzt mit dem deutschen Fremdwort kuchnja belegt, Wörter wie frukt, salat, schnitsel, klops, schpik, apfelsin, schtokfisch, forel oder wafel verdrängen russische Begriffe oder bezeichnen neuartige Genüsse.

Ananas, 1721 zum ersten Mal importiert, wird zur Prestigefrucht des Adels, der die sündteuren Früchte in Gewächshäusern ziehen lässt. Exzentriker legen sie in Salz ein und kochen daraus Luxus-Schtschi und Borschtsch – ein extremer Fall von conspicuous consumption. Auch Artischocken verdrängen Kohlsuppen – während ausländische Gesandte und Beobachter die Brot-Brei-Knoblauch-Ernährung der zwangsverpflichteten Bautrupps, welche die neue Hauptstadt hochziehen, als ungenügend monieren.

Die Küchentechnik ändert sich: Statt des altrussischen Ofens mit seinen langsamen Schmorgerichten im Tontopf verwenden die neuen Adelsköche, die meist aus Sachsen, Bayern, Österreich und Dänemark stammen und die leibeigenen Hausköche verdrängen, nun Herde und eiserne kastriula (Kastrol, Kasserole), protiven (Bratpfanne) oder durchschlag (Sieb).

Die Reformpolitik von Pjotr Pervyi, von Peter I. (1682 – 1725), versucht nicht nur, einen gefühlten Zivilisationsrückstand im Hauruck-Tempo aufzuholen. Sie ist wirtschaftspolitisch dominiert und scheut sich nicht vor absolutistischen Zwangsmaßnahmen, die bewusst in die Ernährung der Untertanen eingreifen.

Manche hatten durchaus positive Folgen. Etwa der Meeresfisch-Ukaz von 1721, der Archangelsk, das durch den Konkurrenten Sankt Petersburg als Handelsplatz dramatisch zurückgefallen war, frische Einnahmen verschaffen sollte. Während das einfache, lediglich an Süßwasserfische gewöhnte Volk skeptisch blieb, entdeckte der Adel die Vielfalt an Fischen aus dem Weißen Meer, die – ganz natürlich tiefgefroren – auf Eilschlitten nach Piter sausten, so das dem Holländischen entlehnte Kurzwort für die neue Metropole.

Gefürchtet: die Wodkafolter

Dieser selbstherrliche Grundton äußert sich auch in groben Streichen und Jähzornanfällen des Selbstherrschers. Peter vertrug Unmengen Alkohol, und er erwartete es auch von seinen Offizieren, Beamten – und den Hofdamen. Viertägige Trinkgelage, die Korpsgeist schufen, aber auch ungewollt Geheimnisverrat auslösen konnten, waren nicht ungewöhnlich.

Gefürchtet war die Wodkafolter: das zwangsweise Leeren riesiger Trinkgefäße, teilweise durch dressierte Bären forciert, konnte Fehlgeburten und plötzliches Hinscheiden auslösen. Pornographische Übergriffigkeit spricht aus der Idee, für die Hochzeitsnacht des Grafen Buturlin, eines trinkfesten Mitglieds der petrinischen Kneipereien, vor dem Senat eine Holzpyramide, ausstaffiert mit Wodka-, Wein- und Bierfässern, aufzustellen: Nachdem das junge Paar Wodka aus Kannen in Form männlicher und weiblicher Geschlechtsorgane getrunken hatte, vergnügte sich der Zar und seine Entourage damit, durch in die Pyramide gebohrte Gucklöcher der Defloration auf dem mit Hopfendolden bestreuten Brautbett zuzusehen: peeping Peter.

Man tut sich leichter, wenn man versucht, den Politiker und Imperator Peter der Große vom Menschen zu trennen. Seine kaiserlichen Initiativen haben nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Gastronomie Russlands, deren Fremdartigkeit (oder Eigenständigkeit) früheren europäischen Reisenden aufgefallen war, nachhaltig reformiert.

Was als aufgepfropfte Mimesis und erzwungener Dialog begann, mündete bald in ein Oberschichtideal weltläufiger kulinarischer Kompetenz, abzulesen an der auffallenden Häufung lukullischer Charakterisierungen in der Literatur. Die unter den Nachfolgerinnen und Nachfolgern Peters I. einsetzende Frankreichfixierung, verbunden mit russischer Extravaganz und dem Hang zu alkoholischen Exzessen, verschaffte reichen zaristischen Gourmets in ganz Europa einen märchenhaften Ruf als Connaisseure und Luxusgastgeber.

Als nachhaltiger erwies sich ein praktisches Detail. Unsere Sitte, im Restaurant à la russe Einzelportionen auf Einzeltellern zu servieren, soll ursprünglich auf eine Anordnung des Monarchen zur Kultivierung des Appetits zurückgehen: So sollte das gierige Prassen bei bojarischen Festtafeln bezähmt werden. Der „Bär mit Gabel“ (Darra Goldstein) prägt bis heute unsere Essgewohnheiten!

Von Senf bis Samowar, vom Reich der Salzgurke bis zum Reiz des Reizkers: Alle Essays von Peter Peter über die russische Küche finden Sie unter der Rubrik Kulinarisches.

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