Champagner: Die Physiologie des Geschmacks
Aus gegebenem Anlass: Wie der Champagner nach Russland kam und weshalb er dort lange süß blieb
#5 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt er der russischen Küche nach.
Die Russen haben den Champagner nicht erfunden. Aber wenige wissen, dass es der Champagnerdurst der zaristischen Eliten war, der dem moussierenden Getränk zu Weltruhm verholfen hat.
Es begann im Winterfeldzug 1814, als Kosaken die Stadt Reims besetzten und sich an den Champagnervorräten gütlich taten. Ob sie auf das Sabrieren der Bouteillen mit dem Säbel spontan von selbst verfielen oder damit Napoleon nachahmten, ist umstritten. Der Korse soll nach einem siegreichen Gefecht des Russlandfeldzugs 1812 zum ersten Mal im Kreis seiner führenden Offiziere mitgeführte Champagnerflaschen per Säbel geköpft haben. Wie auch immer, die Champagnerorgien wurden fortgesetzt, als Zar Alexander I. im März 1814 im eroberten Paris einzog.
Für die großen Champagnerhäuser wie Ruinart oder Moët mögen die Requirierungen zunächst finanziell schmerzvoll gewesen sein. Aber letzten Endes entpuppten sie sich als eine Frühform ungewollten kulinarischen Tourismusmarketings.
Märchenhafte Gewinne der alten Witwe in Russland
„Aus allen Teilen Europas strömen die Fremden zusammen, um nun im Frieden die reizenden Gewohnheiten der Kriegszeit aufzufrischen. Sie müssen nach Paris, und sind sie dort, so müssen sie auf alle Fälle gut speisen“, analysierte 1826 der Gourmet Brillat-Savarin in seiner „Physiologie des Geschmacks“.
„Und Champagner trinken“ könnte man ergänzen. Denn das russische Offizierskorps vergaß die köstlichen Schaumweine des Frankreichfeldzugs nicht. Er bescherte vielmehr einer Geschäftsfrau aus Reims märchenhafte Gewinne. Barbe-Nicole Clicquot-Ponsardin, besser bekannt als Veuve Clicquot, setzte 1814 aufs Ganze, als sie 11 000 Flaschen Champagner nach Königsberg transportieren ließ, obwohl der Weiterexport nach Russland infolge der Kontinentalsperre noch untersagt war. Als die Sperre wenig später fiel, war sie die Schnellste auf dem russischen Markt und konnte Phantasiepreise erzielen.
Der Schaumwein aus der Champagne wurde damit erstmals zum internationalen Modegetränk. Und der Durst der russischen Eliten soll ihm indirekt sein heutiges klares, transparentes Aussehen verliehen haben. Denn die Witwe Clicquot konnte die riesige Nachfrage aus dem Zarenreich nicht mehr mit der traditionellen zeitaufwändigen Methode befriedigen, bei der man monatelang warten musste, bis sich die Hefe absetzte. Sie erfand das Rüttelpult, in das sie die Flaschen mit dem Hals nach unten steckte. Innerhalb weniger Wochen bildete sich ein relativ kompakter Hefepfropfen, der leichter herausgeschnellt werden konnte. Der so entstandene Leerraum wurde mit einer gezuckerten Dosage aufgefüllt.
Den Trend verpasst: Die Krim baute weiter süß aus
À propos Zucker. Wir Heutigen, die jederzeit billigen Rübenzucker kaufen können, können uns kaum noch vorstellen, wie gierig die Menschheit noch im 19. Jahrhundert auf Süßes war. Auch wenn die Witwe Pommery 1874 speziell für den britischen Markt einen champagne brut kreierte, so war französischer Champagner bis zum Ersten Weltkrieg gewöhnlich doux, sprich süß. Und nach Russland exportierter, der ähnlich wie Asti Spumante gern nach dem Festmahl gereicht wurde, sowieso.
Insofern darf bezweifelt werden, dass ein moderner Roederer Cristal demjenigen gleicht, der 1876 beim Dreikaisermahl Zar Alexander II. im Café Anglais in Paris kredenzt wurde. Auch wenn die Flasche noch weitgehend die gleiche ist. Der Autokrator aller Russen speiste damals aufs Luxuriöseste mit dem Zarewitsch, Kaiser Wilhelm I. und Bismarck und hatte sich aus Furcht vor nihilistischen Attentaten eine glasklare Flasche ausbedungen, in der ein etwa versteckter Sprengkörper sofort aufgefallen wäre.
Champagner- statt Wodkaräusche: Als die Sowjets Mitte der 1930er-Jahre die einst von adligen Weinbergbesitzern begonnene Produktion von Krimsekt in großem Stil wieder aufnahmen, machten sie geschmacklich einfach weiter wie vor der Oktoberrevolution. Während der kapitalistische Westen auf immer schlankere und trockenere Sekte setze, huldigte man in der von internationalen Trinkertrends abgekoppelten Heimat der Werktätigen dem Geschmack des ancien régime und baute weiterhin süß aus: sladkoje schampanskoje wurde erst seit den 1980er-Jahren zögerlich durch polusuchoje (halbtrocken) oder gar extravaganten brut ersetzt.
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