Sorokin über russische Literatur: Totale Lüge

Vladimir Sorokin: Jetzt ist es besser, auf Russisch zu denken als zu sprechen

Wladimir Sorokin
"Es kommt bis jetzt nichts raus." Vladimir Sorokin

Vladimir Sorokin gehört zu den renommiertesten zeitgenössischen Schriftstellern Russlands. Anfang der 2000er-Jahre galt er als skandalös, zurzeit ist er fast schon ein Klassiker. Nun lebt er in Berlin, wie viele andere russische Künstlerinnen und Künstler, die wegen des Kriegs ins Exil gingen.

Am Freitag las er im Panda-Theater in Berlin. In einer Erzählung geht es um ein Frauenarbeitslager in Deutschland zu Kriegszeiten. Die Metaphern sind satirisch grotesk und gnadenlos: Eine brutale Aufseherin des Lagers steht am Rande des Grabens mit den Leichen ermordeter Menschen und wirft einen Käfer in den dämmernden Himmel, auf dass ein Wunsch in Erfüllung gehe. Sie wünscht sich einen Mann. Am Ende wird ihr Wunsch „erfüllt“ – sie „kriegt“ einen. Und zwar einen kürzlich aus dem Gefängnis erlassenen Rotarmisten, der sie vergewaltigt. Auf der Hand des Mannes ist ein Käfer tätowiert.

So ist Sorokin in seiner schriftlichen Prosa, aber nicht im Gespräch mit dem Publikum. Er spricht langsam (in seinen früheren Interviews erzählte er über sein früheres Stottern), aber so, dass die Erzählung dich mitnimmt. Du weißt, dass Sorokin auf unerwartete Wendungen der Handlung steht, und du willst unbedingt wissen, was als Nächste kommt.

Zwei Tage vor dem Krieg fuhr Sorokin mit seiner Frau nach Berlin, wo er seit langem eine Wohnung besitzt. Zurzeit schreibt er nicht viel, aber er hört viele Bitten seines Publikums, etwas mit einem „positiven“ Finale zu schreiben.

Über Politik

Dieses positive Finale in Sorokins Werken ist erwünscht vor allem deswegen, weil viele seiner Leserinnen und Leser ihn als eine Art Prophet sehen. Das hat einen Grund: 2006 schrieb er seinen Roman „Der Tag des Opritschniks“, in dem eine Mauer Russland von der westlichen Welt abschottet und es von einem brutalen Herrscher regiert wird. Dieses Russland existiert vom Verkauf von Gas und vom Transit chinesischer Waren. Und die Chinesen bauen ihre Siedlungen in Sibirien.

Nun, im Jahr 2022, wünscht das Publikum, dass Sorokin in seinem neuen Buch eine Welt zeichnet, wie sie ihm gefällt – mit der Hoffnung darauf, dass sein Text Realität wird. „Viele Menschen fragen danach, aber es kommt bis jetzt nichts raus“, antwortet der Autor auf die Frage aus dem Saal etwas bedauernd.

Für Sorokin ist klar: Die Ukraine kämpft nicht nur für sich selbst, sondern auch für Europa und „für uns alle“. Es geht um einen Kampf „der Vergangenheit, des dunklen Mittelalters mit der Zukunft angesichts der Ukraine“.

Genau so, als dunkle sowjetische Pyramide der Vergangenheit, versteht er das gegenwärtige Russland. Diese Pyramide als Symbol nutzt Sorokin gerne: „Die Pyramide wurde im 16. Jahrhundert vom Iwan den Schrecklichen erschaffen und änderte sich seitdem substanziell gar nicht, es änderte sich lediglich die Oberfläche dieser Pyramide.“

Oberfläche – sprich: Regierung. Nun steht an deren Spitze der Mann, Wladimir Putin, „von dessen Psychosomatik, Organismus und Gehirn Dutzende Millionen Menschen abhängen“. Wenn diese Pyramide sich durchsetzt und gegen die Freiheit gewinnt, dann wird das Europa und die Welt stark ändern; sie wird moralisch, wirtschaftlich und politisch zersetzt. Das Westen hat das endlich begriffen. „Es brauchte dafür 22 Jahre, aber besser spät, als niemals“, fügt der Schriftsteller hinzu.

Über Literatur

Es hat den Anschein als spreche Sorokin über russische Literatur viel lieber als über Politik. Auch die leide seit 22 Jahren unter der Hegemonie der Pyramide und entwickle sich in einer Situation der „totalen Lüge“.

Er nannte keinen einzigen Namen eines modernen russischen Schriftstellers oder einer Schriftstellerin, die ihm zusagt. „Diese zwei Jahrzehnte haben mich bedauerlicherweise nicht gefreut“, sagt er. „Es wurden keine neuen Literatursterne geboren.“ Zurecht. Denn wenn die friedliche offene Gesellschaft zwei Jahrzehnte lang zerstört wird, wie könnte sich dann Literatur entwickeln?

Ob die russische Literatur überhaupt diese Kriegszeiten überlebt? Darauf hat Sorokin keine klare Antwort. Er denkt, dass „irgendetwas bleibt“, aber vieles verschwinden wird. „Nun haben wir eine Zeit, in der es besser ist, auf Russisch zu denken als zu sprechen.“

Über Berlin

Sorokin liebt Berlin, weil, wie er es nennt, die Stadt seine erste Liebe ist, seine erste Erfahrung mit dem Ausland, wo er kurz vor der Wende war. Besonders warm spricht er über Kreuzberg, über seine damals zerstörten Fassaden einerseits und die blühenden Bäume andererseits. Aus dem Gespräch ist nicht klar, ob er in Berlin bleiben möchte oder sich nach Rückkehr sehnt. Diese Frage lässt er offen.

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