Ukraine: Klare Kante gegen den Kreml

Unerschütterlich und frei von Zweifeln: Sabine Adlers Rückblick auf „Die Ukraine und wir“

Sabine Adler über "die Ukraine und wir"
Sabine Adler: „Den Krieg in der Ukraine hat niemand vorhergesehen, zumindest nicht in dem Ausmaß, nicht in der Brutalität.“

Der erste Satz in Sabine Adlers Buch „Die Ukraine und wir“ lautet: „Den Krieg in der Ukraine hat niemand vorhergesehen, zumindest nicht in dem Ausmaß, nicht in der Brutalität.“ Inzwischen sei Wladimir Putin „der Bezug zur Realität längst abhandengekommen“, schreibt sie wenig später. „Er wird nicht freiwillig an den Verhandlungstisch zurückkehren, sondern nur, wenn eine Niederlage droht, seine Rechnung nicht aufgeht.“ Leider sei es so, dass Putins „Spiel mit der Angst“ vor einem Atomkrieg zwar nicht die Ukrainer beeindrucke, aber die Deutschen schon. Und Putin wisse das.

Putins Rigorosität und die westliche Zögerlichkeit sind der Rahmen, in dem die Journalistin des Deutschlandfunks rückblickend stets äußerst eindeutige Urteile fällt. Einige Beispiele:

Zum angestrebten Nato-Beitritt der Ukraine (und Georgiens) schreibt sie, es sei eine „falsche Behauptung, die Nato hätte sich verpflichtet, nie eine Osterweiterung vorzunehmen“. Putin selbst sei es gewesen, der die Nato-Osterweiterung mit seiner Politik am meisten forciert habe. Dabei könne von einer Bedrohung Russlands, gar einer Einkreisung nicht ernsthaft gesprochen werden, nur am kürzesten, dem europäischen Abschnitt der Grenze lägen Nato-Länder; im Übrigen sei Russland „seinen europäischen Nachbarn militärisch haushoch überlegen“ gewesen.

2005 in der Ukraine habe keine Mehrheit für einen Nato-Beitritt bestanden, räumt die Journalistin ein (was bis März 2014 galt). Auch die Bundeskanzlerin sei damals skeptisch gewesen: „Das Land, das im Hintergrund immer noch von Oligarchen und Korruption beherrscht wird, scheint ihr viel zu wenig demokratisch gefestigt.“

George Bush jedoch hatte weniger Bedenken und stellte der Ukraine (und Georgien) 2008 eine Aufnahme in die Nato in Aussicht. Merkel und Macron stellten sich damals quer.

Für Adler war dies offenbar eine Fehlentscheidung: Die Ukraine, die mit dem Bukarester Memorandum von 1994 „ihre Nuklearsprengköpfe“ abgegeben habe – gegen das Versprechen der Souveränität und Unverletzlichkeit der Grenzen – „hätte die russische Invasion wohl nie erlebt, wäre die Entscheidung von 2008 anders ausgefallen“.

Dass der Westen die Chance verstreichen ließ, „das eigene Bündnis zu stärken“, habe Putin und Medwedew bestätigt, „mit ihrem Aggressionskurs fortzufahren, wie der anschließende Georgienkrieg zeigte“. Moskau habe die Separatisten in Südossetien und Abchasien unterstützt, die sich „von Georgien lösen und zu Russland überlaufen“ wollten, habe Milizen trainiert und schließlich eine Eskalation „orchestriert“, die im August „in einen Krieg mündet“. Im Fall der Ukraine habe sich dieses Szenario 2014 und 2022 wiederholt.

Sabine Adler

Die Ukraine und wir. Deutschlands Versagen und die Lehren für die Zukunft

Ch. Links
248 Seiten
Hardcover
20 Euro
ISBN 978-3-96289-180-0
Zum Verlag

Anzumerken ist hier, dass Georgiens Militär am 8. August 2008 in Südossetien eingerückt ist und die Stadt Zchinwali bombardierte. Heidi Tagliavinis UN-Bericht hat Georgien für den Kriegsausbruch verantwortlich gemacht (aber auch die russische Antwort als unangemessen gerügt).

Richtig ist, dass sich die Demonstranten auf dem Maidan im Winter 2013/2014 „immer klarer für das europäische Bündnis aussprechen“. Ob die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung das damals so sah, ist nicht so eindeutig. Sabine Adler vermisste „eine entschlossene moralische Unterstützung für die Demonstranten“.

Adler kennt und nennt auch Namen der Anführer des Rechten Sektors sowie die rot-schwarzen Flaggen der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die neben einem „Meer der blau-gelben Ukraine- und Europafahnen geschwenkt“ worden seien und wie manche rechte Parole die gesamte Protestbewegung auf dem Maidan in Misskredit gebracht hätten; sie erzählt auch von der Geschichte des Asow-Bataillons.

Auf solche Kräfte bezieht sich Putin, wenn er von den Faschisten oder Nazis spricht, von denen er die Ukraine befreien will. Adler stellt fest, mit den „Faschisten auf dem Maidan“ sei „ein Gespenst an die Wand gemalt“ worden, „auf das der Westen … hereingefallen“ sei.

Das Referendum nach der Annexion der Krim (97 Prozent für Beitritt zur Russischen Föderation) „liest sich beinahe wie eine Volkskammerwahl in der DDR“, schreibt Adler. Die daraufhin verhängten Sanktionen gegen Russland nennt sie „Sanktiönchen“.

Bei den Minsker Vereinbarungen sei klar gewesen, „dass das Abkommen niemals umgesetzt werden wird“, weil die Ukraine eine „Kröte“ nicht schlucken konnte: Regionalwahlen im besetzten Donbass. Einen Teilerfolg habe damit nur Putin erzielt. Welcher Teilerfolg? Vermutlich befürchtet sie, dass Analysten das Scheitern von „Minsk“ (auch) der Ukraine zuschreiben könnten.

Harte Kritik an Brückenbauern

Im zweiten Teil nennt Adler die deutschen Verantwortlichen für die Entwicklung in der Ukraine: Die Protagonisten der Ostpolitik, „Bahr, Eppler, Schmidt und Schröder“ sind für sie „das Quartett der eitlen Alten“. Auch andere Politiker, vor allem der SPD, ernten Kritik.

Matthias Platzeck, Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, ist bei Adler der „angebliche Brückenbauer“, der Russlandkritikern die Tür verschließt. Bundespräsident Steinmeier „wischt sogar deutsche Sicherheitsinteressen beiseite“ und singe „Putins Lied“.

Die Gaspipeline Nord Stream 2 nennt die Autorin „Merkels größter europapolitischer Fehler“. Der Verzicht auf fossile Brennstoffe sei stets und „ausschließlich unter Klimaaspekten“ diskutiert worden; die Abhängigkeit von Russland habe keine Rolle gespielt. Auch Merkels Nachfolger habe sich bei der Pipeline „verzockt“, und nach Kriegsbeginn habe er sich noch immer mehr den russischen Befindlichkeiten gewidmet als der Not der Ukrainer.

Olaf Scholz billigt sie gegen Ende des Buchs mit Blick auf die spärlichen Waffenlieferungen zu, dass der Bundeskanzler die Sicherheit der Bundesrepublik niemals aus den Augen verlieren dürfe und abwägen müsse, ob seine Entscheidungen zu einer unbeabsichtigten Eskalation führen könnten.

Statt seiner andauernden zögerlichen oder abwägenden Politik hätte Adler sich offenbar ein klares Wort des Beistands gewünscht, etwa am 24. Februar ein bedingungsloses „Heute sind wir alle Ukrainer“. Abschließend rät sie der SPD, sich „ihres Ex-Kanzlers als Altlast“ zu entledigen. Und sie müsse „ihre bisherige Ostpolitik hinter sich lassen“.

Unterm Strich sind das alles klare Worte einer offenkundig wütenden Journalistin. Sabine Adler urteilt unerschütterlich und frei von Zweifeln auf Basis der heutigen Gefechtslage; rückblickend erscheint bei ihr alles klar. Nur eine ihrer eigenen Fragen bleibt offen: „Warum musste es erst zum Krieg kommen, damit Deutschland zum Umdenken bereit ist?“ Möglicherweise weil zum Zeitpunkt, als Entscheidungen zu treffen waren, kaum jemand diesen Krieg vorhergesehen hat. Auch sie nicht.

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