Kluges Kabinettstück

Das Buch „Russland-Kontainer“ von Alexander Kluge regt Geist und Fantasie an

Liefert Material, keine Fertigprodukte: Alexander Kluge

Die russische Revolution hätte wenigstens ein Problem lösen können. „Unwahrscheinlich, daß ausgerechnet die Liebe, welche die Intimität, unser Wichtigstes, reguliert, in der PERIODE DES KAPITALISMUS nicht vom Kapitalismus ergriffen sein soll.“ So hebt Alexander Kluge seine Zusammenfassung eines Berichts über den „Warencharakter von Liebe, Theorie und Revolution“ an. Ein westlicher Besucher besucht Trotzki, es ist das Jahr 1923, und setzt diesem auseinander, dass im Kapitalismus alles Ware sei und einer „quasi theologischen Wandlungsfähigkeit“ unterliege. Wieso das für Liebesbeziehungen anders sein sollte, fragt der Besucher, schließlich werde in fortgeschrittenen industriellen Gesellschaften „der Warenaustausch durch Glückssuche gespeist“, die bei „Liebes- und Haßwaren“ nur verdeckt, wie unter einem schwarzen Tuch, gehandelt werden könnten.

Trotzki entgegnet, „zwischen den Geschlechtern werde offen überhaupt nichts ausgetauscht. Sie koexistieren feindselig und mißtrauisch, dies sei das Problem des Kontinents.“

Aber die ungelöste Blockade der Geschlechter stehe dem Fortschritt in Russland seit 400 Jahren entgegen, insistiert der Besucher. „Die Sowjetmacht habe das Problem ererbt, es sei fahrlässig, dies nicht analytisch zu durchdringen“. Die Theorie dafür sei doch vorhanden.

Aber das mit de schwarzen Tüchern gelte nicht, sagt Trotzki. „Kein verdeckter Tausch. Theorie schämt sich nicht.“ Sie wandle sich permanent. Das mache die Theorie „ZU EINER ÖFFENTLICHEN LUSTBARKEIT“.  Nach diesen Worten steht Trotzi auf und geht – zur Sitzung der Volkskommissare.

Nicht totzukriegen: die Heartland-Theorie

Kluges „Russland-Kontainer“ birgt Seite für Seite die Früchte jahrzehntelanger Beschäftigung mit der Sowjetunion und Russland, Kurioses, Überraschendes, Erstaunliches, Assoziatives, Bedenkenswertes, die Fantasie Anregendes – bis hin zur Behauptung, dass die Bundeskanzlerin in Putins Pokergesicht lesen könne.

Kluge holt auch Halford Mackinder in den Kontainer, dessen Heartland-Theorie längst als überholt gilt: „Wer Osteuropa regiert, beherrscht das Heartland; wer das Heartland regiert, beherrscht die Weltinsel; wer die Weltinsel regiert, beherrscht die Welt.“ Die Sorge des Geopolitikers zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Wenn Europa, insbesondere Deutschland (Industrie!) und Russland (Rohstoffe!) zusammenfinden, dann entsteht ein eurasischer Kontinent, der die auf Seeherrschaft beruhende britische Weltmacht herausfordert. Dass die USA und China das Heartland nicht brauchen würden, um zu Weltmächten zu werden, konnte Mackinder 1904 ja noch nicht wissen. Aber die Leserinnen und Leser werden das doch aus Kluges Präsentation schließen? Und vielleicht darüber nachdenken, ob Mackinders Theorie und das „eurasische Schachbrett“ (Zgbiniev Brzezinski) vielleicht noch heute Bedeutung haben könnte? Kluge beantwortet das nicht. Er stellt nicht einmal die Frage.

Aber er behauptet guten Grundes, dass kein deutscher Soldat es in Friedenszeiten für begehrenswert gehalten hätte, im aufkommenden Winter 1941 in Russland einzudringen. „Keiner wollte dieses weite Land haben, dort wohnen oder später dort arbeiten.“ Diejenigen, die den Soldaten das eingebrockt hatten, erlaubten ihnen Weihnachten 1941 Ferntrauungen – auch ohne Unbedenklichkeitsbescheinigung. Wie kurios.

Kluge berichtet von James Baker, Secretary of State, der 1991 die zerfallende UdSSR durchstreifte. Eines nachts, vorsichtig am Whisky nippend, sagte er seinen Mitarbeitern, man müsse aus der Demütigung des Deutschen Reichs nach 1918 die richtigen Schlüsse ziehen. „Man dürfe das neue Rußland nicht demütigen.“ Damit überlässt Kluge die Lesenden ihren Gedanken.

Kurioses Russland

Auch viel zu lernen ist mit Kluge, wahr oder nicht: Nach einer Anschlagserie auf Eisenbahnlinien brauchte es einen Täter, um Nachfolgetäter abzuschrecken. Der verdeckte Ermittler Wsewolod Gratschow musste sich zur Verfügung stellen. Laut Drehbuch einer bahnkriminalistischen Truppe sollte er zu „lebenslänglich“ verurteilt werden, aber nach einiger Zeit würden sie ihn wieder herausholen. Zu Gratschows Unglück wurden die Verschwörer wenig später liquidiert. Eine wahre Geschichte? Jedenfalls könnte so etwas in Russland jederzeit geschehen, nicht wahr?

Man lernt, dass es in den 1940er-Jahren üppige Walfischbestände vor russischen Häfen gab, aber kein großes Walfangschiff. Als die Sowjetskaja Rossija in den 60ern endlich fertig war, so groß wie ein Flugzeugträger, waren die Bestände geschrumpft. Das Schiff wurde später benutzt als schwimmender Schlachthof für australische Schafe. (Kein Quellennachweis im Buch, nicht mal auf Wikipedia)

Man lernt: Ein Dekret des Rats der Volkskommissare vom 14. Februar 1918 führte den westlichen Kalender in Russland ein. Was war das? „Eine Fehlleistung Lenins“. Dass die Russen seither 13 Tage am Stück feiern und „Alkoholgenuß und gegenseitige Einladungen zu den Festessen nicht aufhörten“, habe nämlich zu einer „volkswirtschaftlichen Ergebnislücke“ geführt. Nicht einmal Putin war bisher in der Lage, das und damit die hedonistischen Neigungen seiner Landsleute zu ändern.

Dazu passt eine Aussage Chruschtschows, wonach „unsere Landbewohner von Haus aus keinen besonderen Ehrgeiz für das Klettern besitzen“, obwohl die Gipfel des Kaukasus doch zum Bergsteigen einladen, ja verführen. Bei Kluge lernt man, dass diese Aussage sich auf die Trägheit der Menschen beziehe, sich auch in der Partei um Aufstieg zu bemühen. Wenig später berichtet Kluge, dass auch die sowjetischen Alpenvereine von 1937 an Opfer der Säuberungen wurden, weil sie Kontakt zu Bergsteigern anderer Länder hatten.

Man lernt, dass sibirische Hirsche „den Kampf nicht mit Vernichtungswut, sondern in der Form vorsichtiger Abschreckung“ beginnen und flüchtende Unterlegene nicht bis zur Vernichtung verfolgen.

Man lernt, was Pud ist, was Dessjatina und Werschok, Arschin und Saschen. Weshalb aber 1 Saschen (2,14 Meter) 3 Arschin (à 77 Zentimeter) sein sollen, wird leider nicht erklärt.

Man erfährt, dass Kluge von einem Naturtalent von Kindermädchen „instant gesetzt“ wurde, das später auch den Nachwuchs eines russischen Stadtkommandanten in Burg bei Magdeburg auf Ministeramt und Oligarchenkarriere vorbereitete, man erfährt, dass Kluge russische Briefmarken sammelt und dass es noch immer möglich ist, auf alte Rechtschreibung zu bestehen.

Der Russland-Kontainer ist ein riesiges Puzzle, bei dem viele Teile fehlen, aber doch ein Bild von Russland entsteht.

„Was ist der Grund dafür, daß ich ‚Materialsammlungen‘ gegenüber Fertigprodukten vorziehe?“, fragt Kluge auf einer der ersten Seiten. „Fertigprodukte schließen die Zuarbeit des Lesers aus.“ Also, lesen Sie Kluge und arbeiten sie der Menschheit zu.

Alexander Kluge

Russland-Kontainer

Suhrkamp Verlag
444 Seiten
Hardcover
34 Euro
ISBN 978-3-518-42892-4
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