Putin macht mobil und droht

Die Kriegstreiber im Kreml haben sich verrechnet, der Westen muss einig und standhaft bleiben

von Dina Khapaeva
Putins Mobilmachung und Drohung mit Atomwaffen

Vorige Woche kündigte der russische Präsident Wladimir Putin eine „Teilmobilmachung” der russischen Streitkräfte an – angeblich sollen 300 000 Reservisten einberufen werden, obwohl manche Berichte von 1,2 Millionen Menschen sprechen. Nachdem ich diese Nachrichten vernommen hatte, rief ich eine Freundin in St. Petersburg an, die mir unter Tränen erklärte, dass ihr 30-jähriger Sohn lieber ins Gefängnis gehen würde, als in der Ukraine zu kämpfen, jenem Land, in dem seine jüdisch-ukrainische Großmutter begraben ist.

Aus Angst, auf der Straße erwischt zu werden, arbeitet er jetzt zuhause. Es war das zweite Mal, dass ich meine Freundin weinen hörte. Zum ersten Mal geschah es am 24. Februar, als Russland in die Ukraine einmarschierte.

Die Geschichte meiner Freundin ist kein Einzelfall. In ganz Russland nehmen Menschen, die Politik einst als weit entfernt und abstrakt ansahen, die politischen Entwicklungen heute sehr genau wahr – und sind vielfach verstört. Doch nicht alle potenziell Einzuberufenden reagieren auf die Mobilmachung – oder „Mogilisierung“ wie es im aktuellen russischen Sprachgebrauch heißt (mogila bedeutet „Grab“) – wie der Sohn meiner Freundin. Wer hofft, der Widerstand der Bevölkerung würde die Mobilisierung vereiteln, wird wohl enttäuscht werden.

Auch wenn viele russische Männer nicht in einem Krieg sterben wollen – rund 200 000 haben sich bereits ins Ausland abgesetzt – so macht doch der größte Teil keine Anstalten, sich der Einberufung zu entziehen. Das wohl teilweise aus Furcht vor – den kürzlich von der Duma verschärften – strafrechtlichen Konsequenzen, wenn sie sich der Einberufung entziehen. Viele plappern allerdings auch Putins Propaganda nach und sagen, die „Ukrainer sind ja doch Faschisten“ und der Westen und die Ukraine „hassen uns ohnehin“.

Junge Russen: Kanonenfutter

Junge Menschen trösten sich mit der Vorstellung, doch nicht eingezogen zu werden oder zumindest vor ihrem Einsatz eine – vielleicht drei oder vier Monate dauernde – „ausreichende Ausbildung” zu erhalten. Zu Beginn des Kriegs im Februar und März wurden jedoch junge Rekruten an die Front geschickt, und es besteht kein Grund zu glauben, dass es diesmal anders wäre, nicht zuletzt, weil es Russland an entsprechender militärischer Infrastruktur und an Ausbildern fehlt.

Die meisten jungen Russen scheinen also geneigt zu sein, ihr Schicksal einfach hinzunehmen, selbst wenn das bedeutet, für den verbrecherischen Krieg eines verbrecherischen Regimes sterben zu müssen. Sie werden als Kanonenfutter zum Einsatz kommen, aber nicht, um ein hehres Ziel zu erreichen, sondern, weil Putin Angst vor einer Revolution hat, insbesondere vor einer „orangen”, wie sie die Ukraine erfunden hat.

Diese Angst wurde unerträglich, als die Ukrainer 2019 Wolodymyr Selensky zum Präsidenten wählten, der in seinem Wahlprogramm für Demokratie eintrat und sich gegen Korruption aussprach. Eine wohlhabende, demokratische, westlich orientierte Ukraine ist Putin ein Gräuel, denn das würde zeigen, dass die Russen nicht im kleptokratischen Autoritarismus leben müssten.

Und Putin fühlte sich ganz eindeutig vom Verlust der politischen Kontrolle über die Opposition bedroht. Der Kreml unternahm fast nichts, um die Menschen in der Covid-19-Pandemie zu unterstützen und die massenhafte Weigerung der Russen, sich mit Sputnik V impfen zu lassen, führte vor Augen, wie dramatisch der Vertrauensverlust in das Regime war.

Ein Blitzkrieg im Februar, gefolgt von einer Siegesparade in Kiew hätte Putins schwindende Beliebtheit wiederherstellen und damit sein Regime erhalten sollen. Der Kreml scheute keine Mühen, um die Russen für die „militärische Spezialoperation” zu gewinnen, insbesondere durch die Erinnerung an den „Großen Vaterländischen Krieg” gegen den Nazismus.

Putins Drohung mit Atomwaffen

Putins Pläne kollidierten jedoch bald mit dem hochmotivierten ukrainischen Widerstand und es wurde deutlich, dass sich Russlands Annexion der Krim im Jahr 2014 – die von den meisten Russen begrüßt wurde und gegen die der Westen wenig Widerstand leistete – nicht so einfach wiederholen lässt.

Jetzt muss sich der Westen mit Putins neuen Drohungen hinsichtlich des Einsatzes von Atomwaffen auseinandersetzen. Derartige Drohungen kommen nicht überraschend: Putin bedient sich der Weltuntergangsrhetorik häufiger als alle anderen europäischen Spitzenpolitiker zusammen. Im Jahr 2000 – Putins erstem Jahr als Präsident – wurde eine neue Militärdoktrin vorgelegt, die eine implizite atomare Erpressung enthielt. Im Jahr 2010, während der Präsidentschaft der Putin-Marionette Dmitri Medwedew – mittlerweile Russlands Kriegstreiber Nummer eins – erklärte man, dass Atomwaffen als Reaktion auf eine „Bedrohung der Existenz des russischen Staates“ zur „Verteidigung“ eingesetzt werden könnten, womit aus der impliziten eine explizite Erpressung wurde.

Dieser atomaren Erpressung durch den Kreml liegen zwei Annahmen zugrunde. Erstens glaubt man, der Westen würde aufgrund seiner „verantwortungsvollen Politik” nachgeben; angesichts der Aussicht auf einen Atomkrieg würden die verängstigten Bürger ihre gewählten Regierungen zu Verhandlungen und Appeasement drängen.

Zweitens geht man davon aus, dass die politische Einigkeit des Westens gegenüber Russland einem drohenden nuklearen Armageddon nicht standhalten könne; vielmehr würde jedes Land einzeln versuchen, durch einen Deal mit dem Kreml zu retten, was zu retten ist. Die Entscheidung des Westens, sich nach Russlands Einmarsch in der Ukraine im Jahr 2014 zurückzuhalten, hat diese Annahmen wohl verstärkt.

Jetzt geht Putin mit seiner atomaren Erpressung noch einen Schritt weiter. Mit den Scheinreferenden in den besetzten Teilen der ukrainischen Oblaste Luhansk, Donezk, Cherson und Saporischschja scheint er den Weg für einen Atomwaffeneinsatz zu ebnen, um die von Russland usurpierten ukrainischen Gebiete gegen deren Befreiung durch das ukrainische Militär zu „verteidigen“.

Zwar hat es, wie Beobachter immer wieder betonen, bereits Angriffe auf russisches Territorium gegeben – in den Regionen Belgorod und Kursk – doch zum Einsatz von Atomwaffen kam es nicht. Außerdem sind weder der „Bunkerbewohner”, wie Putin von einigen bloggenden Kritikern genannt wird, noch die Diebe aus seinem innersten Kreis bereit, für irgendeine Sache zu sterben.  Sie sind womöglich in geringerem Ausmaß bereit, einen Atomkrieg zu beginnen, als sie die Welt glauben machen wollen.

Putins Erpressung nicht nachgeben

Wir wissen nichts über die russische Befehlskette für den Einsatz von Atomwaffen, auch nicht darüber, ob jeder in dieser Kette einen Abschussbefehl befolgen würde. Während der Kuba-Krise 1962 weigerte sich der sowjetische U-Boot-Offizier Wassili Archipow eine Atomrakete abzufeuern. Außerdem funktionieren Putins Waffen manchmal einfach nicht.

Da ihr Leben und ihr Reichtum die einzig wahren Werte der Kumpane Putins sind, sehen sie sich wohl schon nach einem geeigneten Nachfolgekandidaten um. Wenn es Putin mit seinem Krieg in der Ukraine nicht gelingt, ihr mafiöses Regime abzusichern, kann es vielleicht ein Nachfolger, mit dem der Westen zu verhandeln bereit ist.

Betrachtet man Putins Taktik, drängt sich unweigerlich der Vergleich mit einem Straßenräuber auf, der versucht, seine Opfer mit einem Messer einzuschüchtern. Ob das Messer schließlich zum Einsatz kommt oder nicht, hängt von der Reaktion des Opfers, den Begleitumständen (ob etwa jemand anderes eingreift) und von Glück ab. Das sollten die westlichen Mächte als mutmaßliche Mitstreiter der Ukraine beachten.

Die Drohung mit einem Atomkrieg ist ernst zu nehmen. Doch wenn der Westen der Erpressung Putins nachgibt und ihm zugesteht, ukrainische Gebiete zu vereinnahmen und den Krieg für gewonnen zu erklären, dann wird die Weltordnung, wie wir sie kennen, zusammenbrechen und die Hoffnung auf zukünftige Sicherheit und Achtung des Völkerrechts unter sich begraben.

Dina Khapaeva ist Professorin für Russisch am Georgia Institute of Technology. Copyright: Project Syndicate 2022. Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

 

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