Atomkrieg: Bluff oder reale Gefahr?
Wie Putin die Furcht vor einem Atomkrieg instrumentalisiert. Aber plant er den wirklich?
Eine Furcht geht um in Europa, die Furcht vor einer Zuspitzung des Ukraine-Kriegs in eine nukleare Auseinandersetzung mit Russland. „Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben.“ Diese Mahnung oder Warnung von Bundeskanzler Olaf Scholz kann als die zentrale Aussage in seinem Spiegel-Interview gewertet werden.
Auffallend ist jedoch, dass die Regierungsspitzen von Ländern wie Norwegen, Finnland und die drei Baltischen Staaten, die direkt an Russland angrenzen, nicht ebenso öffentlich die Gefahr eines Atomkriegs in den Kontext ihrer Waffenlieferungen an die Ukraine stellen. Und schon gar nicht die USA, die mehr finanzielle und militärische Unterstützung leisten als alle EU-Staaten zusammen.
Der Kreml weiß aus historischer Erfahrung um die massenpsychologische Bedeutung insbesondere der Kategorie „Atomkrieg“ in Deutschland. Beispielhaft sind die von 1980 an von Moskau und Ostberlin gesteuerten Anti-Raketen-Bewegung-Kampagnen in der alten Bundesrepublik gegen den Nato-Doppelbeschluss. Aber hinsichtlich der Atomkriegsfurcht stehen wir nicht allein. Bereits in den ersten Wochen nach Beginn der Invasion war dies in sechs untersuchten EU-Staaten eine signifikante Größe.
Schon Chruschtschow drohte mit Atomeinsatz
Die rhetorische Melange aus atomarer Drohung, Bluff und brinkmanship zur machtpolitischen außenpolitischen Zielsetzung beherrschte virtuos bereits der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow.
Am 6. November 1956 verband er sein Ultimatum an Frankreich und Großbritannien, ihre Kämpfe am Suezkanal einzustellen, mit der „Gefahr schrecklicher Verwüstungen", vulgo Atomeinsatz.
Die Wirkung dieser List und Finte im Suez-Konflikt erkennend, setzte er ein Jahr später Norwegen und Dänemark mit der atomaren Kriegsdrohung erfolgreich unter Druck. Danach stellten sie der Nato keine Stützpunkte für nukleare Fernlenkwaffen zur Verfügung.
Am 23. Juni 1959 versuchte Chruschtschow, dem russischen Berlin-Ultimatum noch mehr Gewicht zu verleihen. Gegenüber dem US-Diplomaten Averell Harriman erklärte er, dass nur wenige Raketen nötig seien, um Europa zu zerstören: „Eine Bombe reichte für Bonn und drei bis fünf würden Frankreich, England, Spanien und Italien ausschalten. Die Vereinigten Staaten wären nicht zu einer Vergeltung in der Lage, weil ihre Raketen einen Sprengkopf von nur zehn Kilogramm tragen könnten, während russische Raketen 1.300 Kilogramm tragen könnten.”
Putin instrumentalisiert Atomfurcht
Präsident Putin ist ebenfalls willens, mit drastischen Worten die Funktion und Qualität der russischen atomaren Abschreckung zu beschreiben. Exemplarisch dazu seine Aussage auf dem jährlichen Internationalen Waldai-Forum in Sotschi 2018: „Aber dann sollte jeder Angreifer wissen, dass Vergeltung unvermeidlich ist und er vernichtet wird. Und wir als Opfer einer Aggression, wir als Märtyrer würden ins Paradies kommen, während sie einfach zugrunde gehen würden, weil sie nicht einmal Zeit hätten, ihre Sünden zu bereuen.“
Im Vorfeld des russischen Einmarschs in der Ukraine instrumentalisierte er offensichtlich die Atomkriegs-Furcht in Europa als Faktor der kommunikativen und psychologischen Kriegsführung. Beispielhaft: Am 19. Februar, als vielerorts noch die Hoffnung auf Abwendung eines Angriffs bestand, veranstaltete Russland eine strategische Atomübung mit ballistischen Raketen und Marschflugkörpern.
Es gehört zum Standard von Nuklearmächten, kontinuierlich die Systemverlässlichkeit von Trägerwaffen ohne armierte Sprengköpfe zu testen. Auch die Nato-Luftstreitkräfte trainieren regelmäßig in ihren „Steadfast Noon“-Manövern Transport, Beladung, Schärfung und Abwurfeinsatz der nuklearen Sprengmittel. Die letzte Feldübung erfolgte im Oktober 2021.
Die Planung dafür haben einen mehrmonatigen Vorlauf. Moskau und Washington informieren sich entsprechend einer vor 20 Jahren getroffenen Vereinbarung in Den Haag wechselseitig über das zu testende Raketensystem, den Starttermin und die Flugrichtung. Zudem werden Zivilluftfahrt und Schifffahrt über die errechneten Koordinaten in Kenntnis gesetzt, um Unfälle durch herabstürzende Raketenteile zu vermeiden.
Das russische Manöver im Februar wurde in breiter medialer Darbietung von Präsident Putin als Oberbefehlshaber in Begleitung des belarussischen Präsidenten Lukaschenko im Gefechtsstand abgehalten. Den Rahmen bildete die hochspannungsgeladene Lage, ob der von den US-Nachrichtendiensten terminierte militärische Angriff in den nächsten Tagen tatsächlich erfolgen würde. Insofern diente der Waffentest gezielt der Demonstration von nuklearen Fähigkeiten, aber insbesondere wohl auch, um die europäischen Gesellschaften zu verunsichern.
In seiner Rede an die russische Nation zum Kriegsbeginn am 24. Februar warnte Präsident Putin dann verklausuliert den Westen, sich nicht in seine „besondere Militäroperation“ einzumischen: „Wir möchten niemanden bedrohen, aber wir möchten auch nicht, dass unser Volk bedroht wird. Alle müssen wissen, dass wir sofort reagieren werden, und es werden solche Folgen entstehen, die sie in ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.“ Das kann nicht anders verstanden werden als die Drohung mit einer atomaren Bestrafung.
Drei Tage nach dem Angriff zündete der Kreml eine weitere psychologische Eskalationsstufe, indem die Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft („spezielles Regime“) versetzt wurden. Das bedeutete die Herstellung von elektronischen Kommandoverbindungen, damit die entsprechenden Systeme überhaupt funktionsfähig werden.
Man muss sehr weit zurückgehen, bis zum Jom-Kippur-Krieg 1973 – damals aktivierte die damalige UdSSR das letzte Mal diese zweite des vier-stufigen nuklearen Mobilsystems. Der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hatte demgegenüber eine Woche nach Kriegsbeginn kurzfristig den sechs Monate vorbereiteten Testflug einer Minuteman III Interkontinentalrakete gestoppt, damit Moskau keiner bedrohlichen Fehlperzeption unterliegt.
Am 24. Februar ging die russische politische und militärische Führung wahrscheinlich noch davon aus, dass die „Operation“ in der Ukraine kurz und erfolgreich sein werde. In diesem Sinne liest sich der Sieges-Jubelartikel vom 26. Februar von Petr Akopow, Redakteur der offiziellen Nachrichtenagentur RIA Novosti. Gleich zu Beginn schrieb er: „Eine neue Welt wird vor unseren Augen geboren. Russlands Militäroperation in der Ukraine hat eine neue Ära eingeläutet. (...)Russland stellt seine Einheit wieder her – die Tragödie von 1991, diese schreckliche Katastrophe unserer Geschichte, ihre unnatürliche Verwerfung, ist überwunden. (...)Russland stellt seine historische Fülle wieder her, versammelt die russische Welt, das russische Volk – in seiner ganzen Gesamtheit von Großrussen, Weißrussen und Kleinrussen.“
Fehlinterpretation der Atomwarnung
In mehreren deutschen Talkshows wurde hervorgehoben, Außenminister Lawrow habe in einem Interview am 26. April mit dem Dritten Weltkrieg gedroht, wenn der Westen mit seiner Unterstützung den Widerstand in der Ukraine weiter stärkt. Das ist jedoch eine Fehldeutung. Er sagte vielmehr: „Die Gefahr ist ernst, sie ist real, sie darf nicht unterschätzt werden (...) Auf keinen Fall sollten wir einen Dritten Weltkrieg zulassen.“
Das liest sich jedoch als eine Warnung vor einem Hineinrutschen aller in einen sehr großen Krieg und nicht als eine Drohung. Zudem verwies er auf die im Januar des Jahres von den fünf Nuklearstaaten im Weltsicherheitsrat gemeinsam verabschiedete Erklärung, ein Atomkrieg „kann nicht gewonnen und darf nie geführt werden“.
Und Lawrow weiter: „Das ist unsere grundsätzliche Position. Davon gehen wir aus.“ Gleichwohl, Lawrow scheint hier im verteilten Rollenspiel mit Putin den Part des besonnenen Mahners zu übernehmen.
Ein russischer Atomwaffeneinsatz im Kontext des Ukraine-Kriegs kann nicht ausgeschlossen werden. Er ist aber mehr hypothetisch als voraussichtlich.
Die Präzisierung der russischen nuklearen Abschreckungsdoktrin vom 2. Juni 2020 benennt nur zwei Voraussetzungen des Atomwaffeneinsatzes: Wenn das eigene Land oder die Verbündeten mit Atomwaffen oder anderen Massenvernichtungswaffen angegriffen werden oder „im Fall einer Aggression gegen die Russische Föderation mit dem Einsatz herkömmlicher Waffen, wenn die staatliche Existenz selbst bedroht ist“.
Putin kann natürlich jederzeit willkürlich und vorsätzlich die wachsende westliche ukrainische Waffenunterstützung als eine solche existentielle Bedrohung statuieren und sie als Rechtfertigung für den atomaren Ersteinsatz vorbringen.
Auch Lawrows Feststellung im Interview ist so zu verstehen, dass die Nato von Russland längst als Kriegspartei perzipiert wird. Damit ließe sich ebenfalls eine existentielle Bedrohung konstruieren: „Die Nato führt im Grunde genommen einen Krieg mit Russland durch einen Stellvertreter und rüstet diesen Stellvertreter auf. Krieg bedeutet Krieg.“ Drei Tage später, am 29. April, argumentierte er dann sophistisch, dass Russland sich nicht im Krieg mit der Nato befinde. Damit wurde die Tür je nach Bedarf geöffnet.
Ein Einsatz von russischen Atomwaffen würde dann sehr wahrscheinlich mit dem Einsatz von taktischen Nuklearwaffen erfolgen, als Warn-Stopp-Signal an den Westen durch eine singuläre Zündung beispielsweise im Asowschen Meer oder sogar als Einsatz gegen militärische ukrainische Infrastruktur. Bei einem absichtsvollen taktischen Nukleareinsatz gegen ein Nato-Land würde der Kreml eine beiderseitige völlig unbekannte Dynamik auslösen.
Ein numerischer Vergleich seines Arsenals an taktischen Atomwaffen zu dem der USA offenbart, dass Russland hier eine Eskalationsdominanz besitzt. Aber ein Kernwaffeneinsatz verändert unmittelbar und radikal jede vorherige versuchte Schlachtfeld-Kalkulation.
Wladimir Putin führt den Krieg als von ihm ausgegebene historische russische Geschichtsmission. Ein Atomwaffeneinsatz könnte jedoch das Ende aller Geschichte bedeuten. Das weiß er, und das ist nicht sein Plan.