Biden und Putin

Biden und Putin, seid umsichtig

Was die Welt vor dem Gipfeltreffen der beiden Präsidenten aus der Kubakrise lernen kann

Sorge um den Frieden, Angst vor Krieg: Frauen während der Kubakrise in New York.

Angesichts der Vorbereitungen auf ein Treffen von US-Präsident Joe Biden mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin mag es aussehen, als ginge es dabei um nicht allzu viel. Da die bilateralen Beziehungen schlechter sind als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Ende des Kalten Kriegs und die USA sich mehr Gedanken um China als um Russland machen, ist eine weitere Verschlechterung der Beziehungen kaum vorstellbar. Und doch kann, wie der Historiker Serhii Plokhy von der Universität Harvard uns in seinem neuen Buch „Nuclear Folly: A New History of the Cuban Missile Crisis“ erinnert, ein einziger falscher Schritt diese alten Feinde an den Rand einer Katastrophe führen.

Tatsächlich war die Vermittlung dieser Botschaft Plokhys Hauptziel, als er das Buch schrieb. Wie er in der Einleitung erklärt, leben wir derzeit in einem „zweiten nuklearen Zeitalter“, das durch die gleiche Art von nuclear brinkmanship geprägt ist, die die 1950er- und frühen 1960er-Jahre kennzeichnete. Der Unterschied ist, dass wir die Gefahr diesmal viel weniger ernst nehmen als 1962.

Laut Plokhy „gibt es heute Weltpolitiker, die bereit sind, eine deutlich unbekümmertere Haltung in Bezug auf Nuklearwaffen und einen Atomkrieg einzunehmen“ als US-Präsident John F. Kennedy und der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow.

Die Kubakrise, neu interpretiert

Um uns aus unserer Gleichgültigkeit aufzuschrecken, erzählt Plokhy die Geschichte der Kubakrise nicht einfach neu; er schreibt sie um. Laut dem vorherrschenden historischen Narrativ vermied die Welt damals einen Atomkrieg dank der sorgfältigen Berechnungen eines brillanten US-Präsidenten, der es mit Hilfe seiner engsten Berater „schaffte, die richtigen Annahmen zu treffen und die richtigen Schlussfolgerungen über die sowjetischen Absichten und Fähigkeiten zu ziehen“. Doch die Realität, so erklärt Plokhy, habe ganz anders ausgesehen.

Zugegeben habe ich als Nachkommin Chruschtschows auch eine persönliche Motivation, eine Darstellung zu bestreiten, die JFK faktisch heiligspricht. Tatsächlich habe ich mich das eine oder andere Mal selbst mit der Kubakrise und anderen Konfrontationen zwischen Chruschtschow und Kennedy befasst; daher begrüße ich jeden Versuch, diese neu zu fassen. Das gilt umso mehr, wenn dies jemand wie Plokhy tut, dessen letztes Buch Chernobyl: History of a Tragedy zum Besten gehört, was je über dieses Thema geschrieben wurde (es reicht an das Niveau des Meisterwerks Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch aus dem Jahre 2005 heran).

Leider hat Plokhys Darstellung ihre Schwächen. Zunächst einmal übertreibt er den Neuigkeitswert seines Punkts, dass sich Kennedy im Gegenzug für den Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba zum Abzug der amerikanischen Jupiter-Atomraketen aus der Türkei verpflichtete. Das stimmt natürlich; es wurde nur damals 1962 nicht öffentlich gemacht, um Kennedys Ruf zu schützen (Chruschtschow war nicht kleinlich). Doch sind diese Informationen seit Jahrzehnten allgemein zugänglich.

Kennedys Leichtfertigkeit

Problematischer ist, dass die „neu freigegebenen KGB-Archive“, auf die sich Plokhy bei seiner Darstellung stützt, nicht ganz so glaubwürdig sind, wie er das vermutlich gern glauben würde. Sie kommen schließlich aus der Ukraine. Was für „besondere“ Kreml-Akten hätte man in einer sowjetischen Teilrepublik statt in Moskau aufbewahrt?

In ähnlicher Weise verdient der „Augenzeugenbericht“ für Chruschtschows „Lawine widersprüchlicher Befehle“, den Plokhy vorlegt, mehr als nur ein bisschen Skepsis. Schließlich war dieser Augenzeuge der rumänische Kommunistenführer Gheorghe Gheorghiu-Dej, ein überzeugter Stalinist, der glaubte, dass Chruschtschow ihn im Oktober 1962 nach Moskau kommen ließ, um seine Ermordung zu befehlen und seinen Tod zu nutzen, um die Chinesen zur Unterstützung der sowjetischen Bemühungen zur Stützung von Fidel Castros kubanischem Regime zu bewegen.

Das reichte aus, um viele andere Historiker dazu zu bewegen, Gheorghiu-Dejs Behauptungen – darunter, dass Chruschtschow „einen Wutanfall hatte“, Kennedy eine „Millionärshure“ nannte, „drohte, das Weiße Haus zu ‚atomisieren‘ und jedes Mal laut fluchte, wenn er die Worte Amerika oder Amerikaner aussprach“ – nicht in ihre Darstellungen aufzunehmen. Hierzu gehörten etwa Aleksandr Fursenko und Timothy Naftali, deren 1998 erschienenes Buch „One Hell of a Gamble: Khrushchev, Castro, and Kennedy, 1958-1964“) zahlreiche Berichte aus erster Hand umfasst, die alle auf den KGB-Archiven basieren. Michael Beschloss („The Crisis Years: Kennedy and Khrushchev, 1960-1963“) und Michael Dobbs („One Minute to Midnight: Kennedy, Khrushchev, and Castro on the Brink of Nuclear War“) haben Gheorghiu-Dejs Bericht ebenfalls ausgelassen.

Im Gegensatz dazu scheint Plokhy die Leichtfertigkeit von JFKs unglückseliger Schweinebucht-Invasion des Jahres 1961 zu unterschätzen. Er legt nahe, dass Kuba bis zu Chruschtschows Stationierung von Raketen auf der Insel für JFK nur geringe Priorität hatte, obwohl es bloß 145 Kilometer von Key West (Florida) entfernt liegt.

In Wahrheit widmete Chruschtschow Kuba gerade deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil die USA eifrig darum bedacht waren, die Castro-Regierung zu stürzen. Während Plokhy also für sich beansprucht, historische US-Voreingenommenheiten in Frage zu stellen, scheint er doch beiden Seiten nicht die gleiche Behandlung angedeihen zu lassen.

Fatal: Vermutungen und Fehlinterpretationen

Jedoch ist Plokhys Darstellung, wiewohl nicht perfekt, gut recherchiert und äußert detailliert. Durch seine meisterhafte Schilderung einer breiten Gruppe von Charakteren verleiht er den komplexen Szenen, die er erzählt, Klarheit. All dies verschafft den Lesern ein echtes Gefühl für die brodelnden Spannungen – und existenziellen Ängste –, die die Welt im Oktober 1962 im Griff hielten.

Letztlich zeigt Plokhy, dass es überwiegend deshalb zur Kubakrise kam, weil die „mit gegenseitigem Misstrauen und basierend auf Vermutungen und Fehlinformationen agierenden“ Amerikaner und Sowjets „einander schlicht fehlinterpretierten“. Die Botschaft an moderne Leser ist klar: Während sowohl Putin als auch Biden behaupten, eine „stabile und berechenbare“ bilaterale Beziehung anzustreben, sollte die übrige Welt ihre Fähigkeit dazu mit Argwohn betrachten.

Aus dem Englischen von Jan Doolan. Copyright: Project Syndicate, 2021.

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