Wassili Grossmans Jahrhundertroman

Leben und Schicksal: Der deutsch-sowjetische Krieg aus der Sicht eines russischen Schriftstellers

Stalingrad Wassili Grossman
1941 folgten die Russen Stalin, der Angreifer war ein noch bedrohlicherer Tyrann. Deshalb entschied sich in Stalingrad das Schicksal der ganzen Welt. Mutter-Heimat-Statue auf dem Mamajew-Hügel in Wolgograd.

Als Wassili Grossman seinen Roman Anfang der 1960er-Jahre abgeschlossen hatte, hoffte er, dass es ihm gelingen würde, das Buch, das in schonungsloser Weise mit der Hitlerschen und mit der Stalinschen Tyrannei abrechnet, in der Sowjetunion zu publizieren. Dies war immerhin die Zeit des 22. Parteitags der KPdSU, auf dem Chruschtschow, anders als auf dem 20. Parteitag fünf Jahre zuvor, den stalinistischen Terror nicht in einer geheimen Rede, sondern öffentlich anprangerte. Dies war die Zeit, in der die Moskauer Zeitschrift Nowyj mir die Erzählung Alexander Solschenizyns über einen Tag im Leben eines Gulag-Häftlings („Ein Tag im Leben von Iwan Denissowitsch“) veröffentlichte.

Dessen ungeachtet rief der Roman Grossmans Entsetzen bei den sowjetischen Partei- und Kulturfunktionären hervor. Im Gespräch mit dem Schriftsteller erklärte der Chefideologe der Partei, Suslow, der Roman sei für die Sowjetmacht noch schädlicher als Pasternaks „Doktor Schiwago“.

Einer der Kulturfunktionäre, der die Veröffentlichung des Romans kategorisch ablehnte, sagte, das Buch spiegle zwar bestimmte Seiten der stalinistischen Realität wider, man müsse aber noch etwa 250 Jahre damit warten, es zu publizieren. Das Manuskript des Romans wurde vom KGB beschlagnahmt.

Es grenzt an ein Wunder, dass das Buch trotz aller Versuche der Behörden, es für 250 Jahre, also für immer, in der Versenkung verschwinden zu lassen, letztendlich doch die Leser erreichte. Für den Autor geschah dies allerdings zu spät. Der Roman wurde erst 16 Jahre nach seinem Tod im Exil veröffentlicht.

Der Roman befasst sich zwar in erster Linie mit der Schlacht von Stalingrad, die Darstellung dieser militärischen Auseinandersetzung wird allerdings durch eine beeindruckende und tiefgreifende Gesamtanalyse des damaligen Wendepunkts der Geschichte begleitet. Denn in Stalingrad entschied sich wohl das Schicksal der ganzen Welt. Hätte die Wehrmacht diese Schlacht gewonnen, so hätte dies wahrscheinlich das nationalsozialistische Besatzungsregime auf dem europäischen Kontinent für Jahre gefestigt, und dies hätte das vorläufige Ende der europäischen Zivilisation, wie wir sie kennen, bedeutet.

Wassili Grossman schreibt: „Faschismus und Mensch können nicht gemeinsam existieren. Wenn der Faschismus siegte, würde der Mensch aufhören zu existieren, es würden nur innerlich verformte, menschenähnliche Wesen übrigbleiben. Doch wenn der Mensch siegte, ausgestattet mit Freiheit, Vernunft und Güte, würde der Faschismus untergehen, und diejenigen, die sich ihm unterworfen hatten, würden wieder zu Menschen werden.“

Die Paradoxie von Stalingrad

Die Paradoxie von Stalingrad bestand allerdings darin, dass hier ausgerechnet ein Regime die Belange der vom Nationalsozialismus bedrohten Menschheit verteidigte, das auf einem ähnlich hohen Leichenberg aufgebaut worden war wie das nationalsozialistische und das ebenso wie das Dritte Reich die tyrannische Willkür versinnbildlichte. Man hätte in diesem Zusammenhang die Worte Grossmans paraphrasieren und sagen können: Stalinismus und Mensch können nicht gemeinsam existieren.

Indes nahm an der Schlacht von Stalingrad neben den beiden unmenschlichen Regimen noch ein anderer Akteur teil, der, ähnlich wie das stalinistische System, um sein Überleben kämpfte und der den Charakter dieser Schicksalsschlacht ebenfalls entscheidend prägte – dies war die sowjetische Gesellschaft. Und es bestand keineswegs eine Übereinstimmung zwischen ihr und dem System, das sie nach außen repräsentierte. In den 1930er-Jahren führte die stalinistische Despotie einen brutalen terrorostischen Feldzug gegen das eigene Volk, der sich zunächst gegen die Landbevölkerung gerichtet hatte und sich danach – während des sogenannten Großen Terrors von 1936 – 1938 – auf beinahe alle Schichten der Gesellschaft erstreckte.

Stalins Krieg gegen ganz Russland

Im April 1938 – auf dem Höhepunkt des „Großen Terrors“ – schrieb der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow: „Stalin führt einen Krieg gegen ganz Russland., wenn man ein einseitiges Abschlachten von… wehrlosen Gefangenen einen Krieg nennen kann. … Ein Mann gegen das ganze Land. Noch nie war die Lage Russlands derart verzweifelt.“

Dabei waren die Übergänge zwischen Tätern und Opfern fließend. Auch unzählige Massenmörder gerieten in das Räderwerk der von ihnen selbst aufgebauten Terrormaschinerie. Inmitten einer Friedenszeit erklärte also das Regime seinem eigenen Volk den Krieg, und viele Facetten dieses Terrorfeldzugs, der die Gesellschaft nicht nur physisch, sondern auch moralisch gebrochen hatte, werden im Roman Grossmans minuziös geschildert.

Wenn man all das bedenkt, so ist der Ausgang der Schlacht von Stalingrad umso erstaunlicher. Eine in den 1930er-Jahren bis zum Äußersten drangsalierte und gedemütigte Nation vermochte nun, ungeachtet eines beispiellosen militärischen Debakels in den ersten Monaten des deutsch-sowjetischen Kriegs, zum zweiten Mal, und zwar noch nachhaltiger als bei der Schlacht von Moskau (Dezember 1941), der siegesgewohnten Wehrmacht eine empfindliche Niederlage zuzufügen.

Dabei darf man nicht vergessen, dass dem Dritten Reich und seinen Verbündeten zum damaligen Zeitpunkt das gesamte rücksichtslos ausgebeutete wirtschaftliche und menschliche Potential beinahe des ganzen europäischen Kontinents zur Verfügung stand. Darüber hinaus gelang es den deutschen Truppen auch etwa zwei Millionen Quadratkilometer des sowjetischen Territoriums zu besetzen, das vor dem Krieg von etwa 80 Millionen Menschen bewohnt war (etwa 40 Prozent der Bevölkerung) und etwa die Hälfte der sowjetischen Industrieproduktion lieferte.

Die moralische Komponente des Siegs

Warum war dann der unbesetzt gebliebene Teil der Sowjetunion innerhalb kürzester Zeit imstande, so viele Rüstungsgüter zu produzieren wie das Dritte Reich samt seiner Satellitenstaaten? Warum war die Rote Armee in der Lage, trotz beispielloser Niederlagen im Sommer/Herbst 1941 und im Sommer 1942, um die Jahreswende 1942/43 die wohl entscheidendste Schlacht dieses Krieges zu gewinnen? Materielle, messbare Faktoren allein wären für diesen Sieg keineswegs ausreichend gewesen. Die moralische Komponente spielte hier eine vielleicht noch wichtigere Rolle.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion schloss die sowjetische Gesellschaft eine Art Waffenstillstand mit ihrem bis dahin wohl größten Widersacher – dem eigenen Regime. Es stellte sich nun heraus, dass sie mit einem noch schlimmeren Feind konfrontiert war. Denn Hitlers Ziel war nicht nur eine weitgehende Dezimierung und Versklavung der überfallenen Nation, sondern auch die gänzliche Zertrümmerung ihrer Staatlichkeit.

Als man dies begriff, kam eine Kollaboration mit dem Dritten Reich für die große Mehrheit der Sowjetbürger nicht in Frage. Die Kollaborateure stellten während des gesamten Kriegs nur ein Randphänomen innerhalb der Gesellschaft dar.

Einer der Helden des Romans, dessen Familie zu den Opfern der Kollektivierung der Landwirtschaft zählte, erklärt, warum eine Kollaboration mit den Deutschen, für die die Armee von General Wlassow plädierte, für ihn inakzeptabel war: „In den Wlassowschen Aufrufen stand das, was sein Vater erzählt hatte. Er wusste schon, dass es die Wahrheit war. Doch er wusste auch, dass diese Wahrheit aus dem Mund der Deutschen und der Wlassow-Leute eine Lüge war.“

Es blieb der sowjetischen Bevölkerung im Grunde keine andere Wahl als die Unterstützung des eigenen Regimes. Dies war allerdings keine vorbehaltlose Unterstützung. Das Regime musste seine Kontrollmechanismen über die Gesellschaft etwas lockern und ein gewisses Ausmaß an Eigeninitiative akzeptieren.

Die „spontane Entstalinisierung“

1941 – 1942 fand in der UdSSR ein Vorgang statt, den der Moskauer Historiker Michail Gefter während der Gorbatschowschen Perestroika als „spontane Entstalinisierung“ bezeichnete und der sich im Roman Grossmans anschaulich spiegelt. Viele seiner Helden prangern den Terror der 1930er-Jahre, die Zwangswirtschaft und die propagandistische Lüge an und träumen von einer Auflösung der Kolchosen und von der Pressefreiheit.

„Ich will die Freiheit: für sie kämpfe ich“, sagt einer der Verteidiger von Stalingrad im Roman. „Das wollen wir alle“, antwortete ihm sein Gesprächspartner, ein Politkommissar. „Ach was“, winkte der Soldat ab. „Was würde sie ihnen bedeuten? Ihnen geht es nur darum, mit den Deutschen fertigzuwerden.“

Die Gesellschaft, der die Stalin-Riege in den 1930er-Jahren praktisch das Rückgrat gebrochen hatte, hat nun, in der Stunde der tödlichen Bedrohung für den eigenen Staat zumindest ein Stückchen ihrer Würde wiedererlangt: „Welch stürmische Freiheit, atmen wir nun ein“, schrieb die Dichterin Olga Berggolz im Winter 1942 im belagerten und durch den Hunger furchtbar dezimierten Leningrad.

Die Sehnsucht nach der Freiheit spiegelt sich auch in vielen Dialogen des Romans wider. Einer seiner Helden sagt: „Könnt ihr euch vorstellen, was das ist – Pressefreiheit? Da öffnet ihr an einem friedlichen Nachkriegsmorgen die Zeitung und findet darin – statt eines jubelnden Leitartikels, statt der Briefe der Werktätigen an den großen Stalin (…) Wisst ihr, was ihr stattdessen in der Zeitung findet? Information! Könnt ihr euch eine solche Zeitung vorstellen? Eine Zeitung, die Information liefert!“

„Oh, die wunderbare, klare Kraft eines offenen Gesprächs, die Kraft der Wahrheit!“, kommentiert Grossman Gespräche dieser Art, die damals nicht nur in der fiktiven Welt des Romans, sondern auch in der sowjetischen Wirklichkeit stattfanden. So beschreibt etwa der bekannte polnische Dichter Aleksander Wat, der die Kriegszeit in der Sowjetunion verbrachte, die Atmosphäre dieser Jahre:

„Es gab keine Slogans, keine Losungen, keinen Kommunismus. (…) Alle glaubten, wenn diese Woge der Millionen Helden und Märtyrer von der Front zurückkäme, dann könnte kein Stalin mehr etwas ausrichten, dann würde Russland sich ändern, und zwar von Grund auf.“

Das Regime, das seit dem 22. Juni 1941 um sein Überleben kämpfte, hatte keine andere Wahl als die halbherzige Duldung dieser partiellen Emanzipation seiner Untertanen, die nun als Verteidiger ihrer tödlich bedrohten Heimat zu einem neuen Selbstbewusstsein gelangten. Zu diesem Selbstbewusstsein trug auch zusätzlich die Tatsache bei, dass sie vor den Toren Moskaus, Leningrads und in Stalingrad nicht nur ihr eigenes Land, sondern die gesamte vom Nationalsozialismus bedrohte Welt verteidigten.

Dazu sagte Winston Churchill am Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion: „Der Kampf jedes Russen (…) ist der Kampf aller freien Menschen und aller freier Völker in allen Teilen der Welt.“

Undank nach dem großen Kampf

Man darf auf der anderen Seite nicht vergessen, dass auch nach dem Ausbruch des Kriegs Millionen von Menschen sich weiterhin im Archipel Gulag befanden. Ganze Völker wurden ins Innere der Sowjetunion deportiert, weil man sie der Kollaboration mit dem Feind bezichtigte, wobei Tausende von Menschen ums Leben kamen.

Mit äußerster Härte wurden auch die eignen Soldaten von der Kremlführung behandelt. Dies betraf vor allem die Kriegsgefangenen, die als Landesverräter betrachtet wurden.

Die sowjetischen Industriearbeiter wurden ihrerseits einer außerordentlich scharfen Arbeitsdisziplin unterworfen. Mit dem Dekret vom 26. Dezember 1941 wurden die Arbeiter in der Rüstungsindustrie zwangsmobilisiert und wie Soldaten behandelt. Das eigenmächtige Verlassen der Betriebe galt als Fahnenflucht.

Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in den unbesetzt gebliebenen Teilen der UdSSR fand sich indes mit der Verschärfung der Arbeitsdisziplin und mit zusätzlichen Bürden, die das Regime ihr nach dem Ausbruch des Kriegs auferlegte, in der Regel ab. Man sah die Notwendigkeit dieser verschärften Maßnahmen im Wesentlichen ein. Sie waren durch reale und nicht durch imaginäre Gefahren wie in den 1930er-Jahren verursacht.

Disziplin um jeden Preis

Und nun einige Worte zur Schlacht von Stalingrad, die nach der Schlacht um Moskau den zweiten, entscheidenden Wendepunkt des Kriegs darstellte. Am 17. Juli 1942 begann der deutsche Vormarsch in Richtung Stalingrad. Die sowjetische Führung versuchte nun erneut, ähnlich wie im Sommer 1941, mit Hilfe härtester Maßnahmen gegen die Auflösungserscheinungen an der Front vorzugehen.

Stalin forderte die Wiederherstellung der Disziplin um jeden Preis und eine harte Bestrafung von Panikmachern. Im Rücken der kämpfenden Truppen sollten „Sperreinheiten“ aufgestellt werden, die mit Waffengewalt die Flucht der Soldaten zu verhindern hatten.

Das harte Durchgreifen allein wäre aber nicht ausreichend gewesen, um den zweiten Wendepunkt im deutsch-sowjetischen Krieg herbeizuführen. Die Bereitschaft der Bevölkerung den eigenen Staat vor seiner endgültigen Auslöschung zu verteidigen, das Gefühl im gerechten Krieg an der Seite aller anderen Staaten der Anti-Hitler-Koalition zu stehen, spielten bei der Wende von Stalingrad sicher eine noch wichtigere Rolle als die „Sperreinheiten“, die das Feuer gegen die eignen Kameraden richteten.

Das Gefühl der rassischen Überlegenheit

In Stalingrad kam es zu einer Konfrontation zwischen dem moralischen Überlegenheitsgefühl der Verteidiger und dem Gefühl der rassischen Überlegenheit der Angreifer, das die nationalsozialistischen Propagandisten und manche deutsche Militärführer den Soldaten der Wehrmacht zu vermitteln suchten. So führte Generalfeldmarschall von Reichenau, der Oberbefehlshaber der 6. Armee, die später unter dem Oberbefehl von Paulus in Stalingrad kämpfte, im Oktober 1941 aus:

„Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch ein Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und Rächer für alle Bestialitäten, die deutschen und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden. Deshalb muß der Soldat für die Notwendigkeit der harten, aber gerechten Sühne am jüdischen Untermenschentum volles Verständnis haben.“

Die Nationalsozialisten verachteten Schwäche und versuchten, jedes Mitgefühl für die Schwachen, für die aus ihrer Sicht rassisch Unvollkommenen, auszumerzen. Jeden großen militärischen Erfolg in der ersten Phase des von Hitler „entfesselten“ Zweiten Weltkriegs betrachtete die NS-Führung als Bestätigung ihrer Weltsicht und radikalisierte danach in der Regel ihren Kampf gegen das aus ihrer Sicht sogenannte lebensunwerte Leben sowie ihre Rassenpolitik.

So verfasste Hitler im Oktober 1939, berauscht von der schnellen Bezwingung Polens, sein Ermächtigungsschreiben zum Beginn der sogenannten Euthanasieaktion. Es fand nun die Ermordung von Tausenden psychisch Kranken statt.

Der schnelle Vormarsch der Wehrmacht im Ostfeldzug im Sommer/Herbst 1941 war mit der Radikalisierung der nationalsozialistischen Judenpolitik verbunden. Der massenhaften Ermordung der jüdischen Männer in den besetzten sowjetischen Gebieten folgte etwa acht Wochen nach Beginn des deutsch-sowjetischen Kriegs die Ausdehnung dieser Vernichtungspolitik auf die gesamte jüdische Bevölkerung, also auch auf Frauen und Kinder.

Gerade als die Schlacht um Stalingrad tobte, entwickelte die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie eine beispiellose „Effizienz“. Damals fand die „Aktion Reinhardt“ statt – die massenhafte Ermordung der Juden in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibór und Bełżec. Ihrem auf der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942 formulierten Ziel der „Endlösung der jüdischen Frage“ schien sich das NS-Regime innerhalb kürzester Zeit angenähert zu haben.

Die Vision von einer Welt ohne Juden entwickelt im Roman Grossmans Adolf Eichmann. Dabei muss man hervorheben, dass Grossman seinen Roman 1960 abgeschlossen hatte, also ein Jahr vor dem Jerusalemer Eichmann-Prozess, der diesen „Experten“ für die Endlösungsfrage weltweit bekannt machte.

Grossman legt Eichmann folgende Worte in den Mund: „Stellen sie sich vor, in zwei Jahren sitzen wir wieder gemütlich hier am Tisch und können sagen: ‚In zwei Jahren haben wir ein Problem gelöst, das die Menschheit in zwanzig Jahrhunderten nicht lösen konnte.‘“

In Stalingrad erwies sich allerdings, dass das Gefühl der rassischen Überlegenheit dem Gefühl der moralischen Überlegenheit nicht standhalten konnte. Und gerade in der Hölle von Stalingrad, in der Stunde der Niederlage des Dritten Reiches, begann sich in Deutschland ein Prozess zu vollziehen, den Grossman folgendermaßen beschreibt: „Die Hochnäsigen und Hochmütigen waren ruhig geworden: Die Prahler hatten aufgehört zu prahlen.“

Den Sieg überlebte auch das Regime

Paradox war allerdings nicht nur das Schicksal der Verlierer von Stalingrad, sondern auch dasjenige der Sieger. Denn sie trugen durch ihren Sieg nicht nur zum Überleben der Nation, sondern auch zu dem des sie unterdrückenden Regimes bei.

Der Sieg über das Dritte Reich schien Stalins Tyrannei eine zusätzliche Legitimierung zu verschaffen. Gleichzeitig verhalf er aber der siegreichen Nation zu einem neuen Selbstbewusstsein, was ihre Lenkung durch das Regime erschwerte.

Dazu schreibt einer der besten Kenner des Stalinschen Systems, der aus der Sowjetunion emigrierte Historiker, Abdurachman Awtorchanow: Stalin habe verstanden, dass das Volk nach all den Opfern, die es gebracht hatte, danach streben werde, menschlicher zu leben. Deshalb habe er vor den eigenen Soldaten nicht weniger Angst gehabt als vor den Soldaten Hitlers zu Beginn des Kriegs.

Die erneute Disziplinierung der auf ihren Sieg so stolzen Nation, ihre erneute Verwandlung in ein bloßes Räderwerk des totalitären Mechanismus betrachtete die stalinistische Führung nun als ihr wichtigstes Ziel. Und dieses Ziel schien sie innerhalb kürzester Zeit erreicht zu haben.

Paradoxerweise verband sie die Straffung der staatlichen Kontrollmechanismen über die eigene Bevölkerung mit einer ans Groteske grenzenden Verklärung des Russentums. Diese Entwicklung bahnte sich bereits in den Tagen von Stalingrad an, und erneut wird man sich der Ambivalenz, der Paradoxie dieses Wendepunktes des Krieges bewusst.

Damit erschöpft sich aber die Bedeutung von Stalingrad keineswegs. Die Siegeseuphorie, die nach Stalingrad ausbrach, erleichterte zwar den Machthabern eine erneute Disziplinierung der Gesellschaft. Allerdings blieb die Sehnsucht nach einem würdevollen Leben immer noch bestehen.

Grossman schreibt: „Der Stalingrader Triumph bestimmte den Ausgang des Kriegs, aber der stumme Streit zwischen dem siegreichen Volk und dem siegreichen Staat setzte sich fort. Von diesem Streit hing das Schicksal des Menschen, seine Freiheit ab.“

Die Übergänge zwischen Regime und Volk waren natürlich fließend. Die Stalinsche Despotie wäre ohne die partielle oder gänzliche Identifizierung beträchtlicher Teile der Gesellschaft mit ihr nicht lebensfähig gewesen.

Die vom Regime verbreitete russozentrische Propaganda nahmen nicht wenige für bare Münze, sie glaubten also aufrichtig, dass die größten Entdeckungen und Erfindungen in der neuesten Geschichte der Menschheit von Russen gemacht worden waren, dass „Russland, die Heimat der Elefanten“ sei. So parodierten kritisch denkende russische Intellektuelle die chauvinistische Kampagne des Regimes.

Trotz alledem bestand sie doch, diese Trennlinie zwischen Regime und Volk, dem die herrschende Oligarchie bis zuletzt misstraute. Sie unternahm außerordentliche Anstrengungen, um es lückenlos zu kontrollieren und die Erinnerungen an die „spontane Entstalinisierung“, die während des Kriegs stattgefunden hatte, aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein zu verdrängen.

Diese Erinnerungen und die mit ihnen verbundenen Sehnsüchte blieben aber bestehen. Diesen Sehnsüchten kamen die Nachfolger Stalins entgegen, als sie bereits einige Tage nach dem Tode des Tyrannen mit der Demontage des von ihm errichteten Systems begannen.

20. Parteitag: Reden über Stalins Verbrechen

Der „postume Tyrannensturz“, der auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 vollzogen wurde, stellte den ersten Höhepunkt dieses Prozesses der allmählichen Abkehr vom Stalinschen Erbe dar. Die Tatsache, dass die höchste Instanz der KPdSU – der Parteitag – die beinahe „gottähnliche Gestalt“, die das Wesen des sowjetischen Systems im Verlaufe eines Vierteljahrhunderts verkörpert hatte, als einen äußerst brutalen und unberechenbaren Despoten entlarvte, musste zwangsläufig die Fundamente des Regimes erschüttern.

Zwar versuchte die sowjetische Führung die Wirkung der explosiven Rede Nikita Chruschtschows über die Stalinschen Verbrechen einzudämmen. Allerdings ohne bleibenden Erfolg.

Während der Gorbatschowschen Perestroika erreichte die Auseinandersetzung mit dem Stalinschen Erbe einen neuen Höhepunkt. Nicht zuletzt deshalb ist die oft verbreitete These von der so gut wie nicht stattgefundenen Vergangenheitsbewältigung in der UdSSR und in Russland alles andere als genau.

Träfe sie zu, so wären weder die Erosion des sowjetischen Systems noch die Auflösung des „äußeren Sowjetimperiums“ (des Ostblocks) kaum möglich gewesen. Denn das, woran die kommunistischen Regime letztendlich scheiterten, war nicht nur ihre wirtschaftliche und politische Ineffizienz, sondern vielleicht in einem noch größeren Ausmaß die „Wahrheit über sich selbst“.

Unantastbare Autoritäten und Tabus darf es nicht mehr geben, verkündete Michail Gorbatschow kurz nach dem Beginn der Perestroika und versetzte dadurch das Land in eine Art Wahrheitsrausch. Die Apologeten Stalins standen damals mit dem Rücken zur Wand. Und es war gerade die immer schärfer werdende Auseinandersetzung mit den Stalinschen Verbrechen, die der Perestroika eine beispiellose Dynamik verliehen hatte.

Warum wurde dieser Prozess der Befreiung Russlands vom verhängnisvollen Stalinschen Erbe ausgerechnet einige Jahre nach der Entmachtung der KPdSU im August 1991 wieder eingedämmt? Warum assoziiert sich jetzt der Sieg der Sowjetunion über den NS-Staat für viele befragte Russen, auch für zahlreche Nachkommen der Opfer Stalins, mit dem Namen dieses wohl brutalsten Tyrannen der russischen Geschichte? Diese Fragen stellen ein eigenes Thema dar, das über den Rahmen dieses Beitrags weit hinausgeht.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen auf der Webseite von DieKolumnisten. Wir danken dem Autor, diesen Beitrag auf KARENINA veröffentlichen zu dürfen.

Wassili Grossman

"Leben und Schicksal"
Aus dem Russischen übersetzt von Annelore Nitschke, Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann, Elisabeth Markstein.
Erschienen am 3.8.2020

Ullstein
1088 Seiten
Roman, Broschur
20 Euro
ISBN 9783548064116
Zum Verlag

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