Schmyhal: „Wir brauchen vor allem Flugabwehr“
Ukraines Ministerpräsident Denys Schmyhal im Interview: „Über Angriffe auf Russland sprechen wir nicht“
Herr Ministerpräsident, während wir online sprechen, heulen bei Ihnen in Kiew die Sirenen, und man hört Explosionen. Wie ist das, in so einer Lage ein Land zu regieren?
Wir arbeiten ganz normal. Und wenn die Sirenen heulen, wechseln wir in Büroräume, die ein wenig sicherer sind.
Sie haben eine Familie und Kinder. Haben Sie nicht Angst, dass sie gerade jetzt von einer russischen Drohne getroffen werden könnten?
Alle Ukrainer machen sich Sorgen um ihre Familien. Ich auch, denn ich bin ein Vater wie andere. Und wenn die Sirenen heulen, geht meine Familie in den Luftschutzraum wie alle anderen. Deshalb bin ich jetzt mehr oder weniger ruhig und tue meine Arbeit.
Präsident Selensky sagt, die russischen Angriffe hätten mittlerweile 30 Prozent Ihrer Kraftwerke beschädigt. Wie bewältigen Sie das?
Am 10. Oktober haben die Russen begonnen, besonders gezielt zivile Infrastruktur zu zerstören. Sie wollen unserer Bevölkerung im Winter den Strom, das Wasser und die Heizung wegnehmen. Sie wollen die Ukraine in eine humanitäre Katastrophe stürzen und unsere Gesellschaft destabilisieren, um zwei Ziele zu erreichen: Erstens haben sie die Illusion, dass unsere Gesellschaft uns dann zur Kapitulation drängen wird. Zweitens: Sie wollen eine neue Flüchtlingskrise in der EU. Denn wenn es in der Ukraine keinen Strom, keine Heizung, kein Wasser mehr gibt, kann das einen neuen Migrationstsunami auslösen.
Wie kann der Westen helfen?
Wir brauchen vor allem Flugabwehr. Deutschland hat uns schon das System IRIS-T geliefert. Es ist seit einer Woche im Einsatz und hat schon sehr, sehr viele Menschenleben gerettet, vor allem im Raum Kiew. Leider haben wir im Augenblick erst ein solches System, und wir warten ungeduldig auf die nächste Munitionslieferung. Und natürlich auch auf das nächste System. Ich hoffe, das wird im November da sein.
Und die Munition?
Wir brauchen sie dringend. Die Raketen werden gerade erst produziert, aber wir brauchen sie jetzt schon. Diejenigen, die bereits verwendet wurden, haben eine beträchtliche Zahl russischer Raketen abgewehrt.
Wie schnell müssen sie kommen, wenn es nicht zu spät sein soll?
Es geht buchstäblich um Tage. Die Russen setzen jeden Tag zwanzig bis dreißig iranische Kamikaze-Drohnen gegen uns ein. Die sind schwer abzuschießen. Deshalb bitten wir unsere Partner hier um spezielle Abwehrmittel.
Störsender, um die Steuerung der Drohnen schachmatt zu setzen?
Absolut. Es gibt Geräte, die diese iranischen Drohnen bekämpfen können. Wir wissen, wer sie hat, und wir bitten unsere Partner darum.
Gehört Deutschland dazu?
Unsere Fachleute arbeiten daran mit unseren Freunden, und dazu gehört auch Deutschland.
Was kann den Menschen in ihrem Alltag helfen?
Vor allem brauchen wir mobile Ausrüstung zur Erzeugung von Strom und Wärme. Generatoren, Einrichtungen zur Wärmeerzeugung und für die Wasserversorgung. Denn wenn die Russen die Stromversorgung stören, müssen wir neue Wege finden, um Trinkwasser bereitzustellen. Wir brauchen also Anlagen zur Wasseraufbereitung.
Am Dienstag erst haben wir aus Deutschland 200 Generatoren bekommen. Die verteilen wir jetzt auf die Kommunen. Es wird kalt, und die Leute brauchen Strom und Heizung fürs blanke Überleben. Deshalb werden wir im Winter mehr als zehntausend mobile Generatoren und mobile Heizzentralen benötigen.
Dafür brauchen Sie dann auch Treibstoff. Und wenn Putin Ihre Kraftwerke zerstört, werden sie außerdem auch Strom brauchen. Muss Deutschland einen Teil seiner Energie bereitstellen, um eine humanitäre Krise in der Ukraine abzuwenden?
Das ist der dritte wichtige Punkt, nach Flugabwehr sowie Anlagen zur Strom- und Wärmeerzeugung. Im Augenblick haben wir genug Diesel, aber wenn großräumig Strom und Heizung ausfallen, brauchen wir mehr, und wir brauchen auch Stromimporte. Die Russen wollen die Fernwärmezentralen der Städte zerstören. Sie wollen uns einen kalten Winter bescheren, in dem viele Menschen buchstäblich erfrieren könnten. Das könnte zu einer planvoll herbeigeführten humanitären Katastrophe führen, wie Europa sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen hat.
Sie sprechen von einem Migrationstsunami im Winter. Was heißt das?
Europa muss sich dann auf eine große Welle vorbereiten. Heute reisen die Leute allerdings noch in beide Richtungen. Seit dem 24. Februar sind mehr als acht Millionen Menschen ausgereist, mehr als sieben Millionen sind wiedergekommen. Umfragen zeigen, dass 85 Prozent unserer ausgereisten Landsleute zurück möchten. Und für diese Menschen wollen wir so schnell wie möglich geeignete Bedingungen schaffen. Auch deshalb ist der Wiederaufbau für uns ein ganz dringendes Thema.
Auch die beste Flugabwehr wird nicht alle russischen Angriffe abwehren können. Braucht die Ukraine deshalb weitreichende Waffen, um die Raketenstützpunkte und Flughäfen der Russen auf ihrem eigenen Territorium anzugreifen?
Die Ukraine braucht vor allem Ausrüstung, um ihre Menschen zu schützen. Über Angriffe auf Russland sprechen wir nicht. Es geht um Verteidigung auf unserem Territorium. Wir verteidigen unsere territoriale Integrität in den Grenzen von 1991.
Dazu gehört auch die Krim. Russland hat sie 2014 annektiert. Wollen Sie sie zurückerobern?
Wir wollen unser gesamtes Territorium in seinen international anerkannten Grenzen befreien.
Die Ukraine fordert, russisches Eigentum auf der ganzen Welt zu beschlagnahmen, um ihren Wiederaufbau zu finanzieren.
Im Juli hat die Weltbank unsere Verluste durch die russische Aggression auf 350 Milliarden Dollar geschätzt. Bis heute sind daraus mehr als 750 Milliarden geworden. Einige unserer größten Industrieanlagen sind zerstört – denken Sie nur an das Hüttenwerk Asowstal in Mariupol. Zugleich gibt es in unseren Partnerländern eingefrorenes russisches Vermögen im Wert von 300 bis 500 Milliarden Dollar. Wir sollten einen Mechanismus zur Beschlagnahme russischer Vermögenswerte entwickeln, um die Erlöse dann in den Wiederaufbau der Ukraine zu investieren. So ein Mechanismus würde sich zuerst gegen Russland richten, später aber könnte er zum Eckstein eines künftigen globalen Sicherheitssystems werden. Jeder Diktator sollte in Zukunft wissen, dass er für Aggression mit seinem Vermögen haftet.
In Schwedt steht eine Raffinerie, die zum größten Teil dem russischen Staatskonzerns Rosneft gehört. Sollte Deutschland die russischen Anteile also beschlagnahmen?
Wir . . . (Die Verbindung reißt ab)
Wir können Sie nicht mehr hören.
(nach einigen Sekunden) Das ist wegen des Luftalarms. Wir sollten für solche Konfiskationen alle zusammen eine Formel finden, die dann jedes Land in seine eigene Gesetzgebung einführen kann. Dann sollte jedes Land das gesamte russische Staatsvermögen in seiner Reichweite einziehen, bis Russland zu Reparationen oder Entschädigungen bereit ist. Konfiszierte Vermögenswerte könnten dann verkauft werden. Im Augenblick bereitet eine Arbeitsgruppe hier Vorschläge vor. Die russischen Mittel könnten übrigens auch europäischen Ländern zugutekommen, die unter der Last der Migrationskrise leiden.
Die EU hat der Ukraine im letzten Sommer neun Milliarden Euro zugesagt. Von diesen sind drei Milliarden noch nicht in Sicht. Wo hakt es?
Wir bekommen riesige Unterstützung von unseren Partnern. Nummer eins ist Amerika, Nummer zwei die EU. Deutschland ist in der Spitzengruppe, und vor allem: Die 1,3 Milliarden, die wir von Deutschland bekommen haben, sind nicht Darlehen, sondern Zuwendungen. Wir sind dafür unendlich dankbar. Über die letzten drei Milliarden von der EU diskutieren wir noch, weil Deutschland meint, dieses Geld solle nicht als Darlehen kommen, sondern als Zuwendung. Für uns aber ist das Wichtigste, dass es so schnell wie möglich kommt. Wir brauchen es, damit unser Finanzsystem überleben kann. Ob das dann ein Darlehen wird oder eine Zuwendung ist weniger wichtig.
Wir haben alle Sparmöglichkeiten schon ausgeschöpft. Heute macht der Wehretat 60 Prozent unserer Staatsausgaben aus, und die Finanzhilfen unserer Partner verwenden wir zum großen Teil für die sozialen Bedürfnisse der Menschen und für den Wiederaufbau. Jede Verzögerung kann hier schlimme Folgen haben.
Welche?
Wenn wir von einem extrem negativen Szenario sprechen, könnten wir keine Löhne mehr bezahlen und keine Renten. Die finanzielle Stabilität der Ukraine ist aber genauso wichtig wie die militärische Sicherheit oder der Munitionsnachschub.
Für kommende Woche haben Bundeskanzler Scholz und die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen Sie nach Berlin zu einer Konferenz über den Wiederaufbau der Ukraine geladen. Was ist Ihre Botschaft?
Ich danke dem Bundeskanzler und der Kommissionspräsidentin sehr für diese Einladung. Der Leitgedanke sollte sein: „Build Back Better“. Ich möchte aber gleich betonen – dies ist keine Geberkonferenz, wir wollen hier nicht Spenden sammeln. Wir wollen in Berlin gemeinsam gründlich berechnen, wie die Ukraine Schritt für Schritt wieder aufgebaut werden kann. Es soll eine Expertenkonferenz werden, damit die Praktiker der Welt unsere Pläne anhand ihrer Erfahrungen bewerten und eventuelle Mängel aufzeigen können.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 22.10.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.