Natascha Wodin: Klärung einer Herkunft
Noch einmal gelesen: Natascha Wodins bewegende Familienrecherche „Sie kam aus Mariupol“
Sie kam aus Mariupol
„Sie kam aus Mariupol“ ist ein packendes Buch, ohne ein Roman zu sein. Nichts ist erfunden, sondern Natascha Wodin erzählt das, was sie mit Hilfe eines freundlichen Konstantin von den AZOV'S GREEKS bei einer Internetrecherche über die Familie ihrer Mutter erfährt.
Die Autorin ist 1945 in Deutschland geboren. Solche Herkunft wollte sie nicht ausgebreitet wissen, deshalb gab sie nur vage Auskünfte. Nichts ließ sie darüber verlauten, dass sie Kind sowjetischer Zwangsarbeiter ist.
Später kam sie über den Dolmetscherberuf zum Übersetzen aus dem Russischen und darüber dann schließlich zu eigener Literatur. Nach Übersetzungen von Jerofejew, Jewgenia Ginsburg und Andrey Bitow erschien 1983 bei Rowohlt ihre große Erzählung „Die Gläserne Stadt“.
In den 90er-Jahren war sie mit dem Schriftsteller Wolfgang Hilbig verheiratet. Über ihre komplizierte, auch vom Alkohol bestimmte Beziehung verfasste sie den Roman „Nachtgeschwister“.
Das Thema, das sie in ihren eigenen Büchern immer wieder anschlug, waren Entwurzelung, Fremdheit, Ortlosigkeit. Erst mit dem Erscheinen von „Sie kam aus Mariupol“ 2017 wird deutlich, dass sich die Autorin auf einer langen literarischen Reise zu sich selbst befand. Das Buch wurde im Jahr seines Erscheinens mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
Natascha Wodins „Sie kam aus Mariupol“ ist der Bericht einer im Ergebnis höchst erstaunlichen Familienrecherche, ähnlich Katja Petrowskajas viel gelesenem Buch „Vielleicht Esther“ über ihre russische Urgroßmutter. Der Roman war schon drei Jahre zuvor gleichfalls für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, verpasste ihn allerdings.
Katja Petrowskajas Urgroßmutter wurde 1941 in Kiew verschleppt und Opfer des Völkermords von Deutschen an der jüdischen Bevölkerung. Der größere Abstand zwischen der Autorin und ihrer Protagonistin brachte es mit sich, dass in „Vielleicht Esther“ für die Urgroßmutter-Geschichte viel mehr erfunden werden musste.
Das Bild der Familie zusammenpuzzeln
Anders bei Natascha Wodin in „Sie kam aus Mariupol“. Der Leser kann dabei zuschauen, wie die Autorin aus kleinsten Puzzlesteinen das Bild der Familie ihrer Mutter zusammenfügt:
„Ein Mann in Mariupol war bereit und besaß offenbar Möglichkeiten, mir weiterzuhelfen, wenn ich ihm nähere Angaben zu meiner Mutter machte. Nur dass ich ihm diese Angaben nicht machen konnte. Aus irgendeinem Grund schämte ich mich dafür, als wäre es ein Armutszeugnis, eine Schande, so wenig über die eigene Mutter zu wissen.“
Natascha Wodin erinnert sich an ihre Mutter als todtraurige Frau, die im Jahr 1956 plötzlich die Wohnung in einer westdeutschen Kleinstadt verließ und nicht wiederkam. Natascha und ihre Schwester blieben allein zurück.
Dass sie nicht viel früher die Nachforschungen nach ihrer Mutter aufgenommen hatte, lag daran, dass sie als Kind einer Zwangsarbeiterin nicht viel Glorreiches zu entdecken fürchtete. Es kommt in Natascha Wodins Buch ganz anders! Als würden sich die wenigen erhalten gebliebenen Schwarz-weiß-Fotos in Farbfotos verwandeln. Das graue Schicksal einer Zwangsarbeiterin verwandelt sich in die Farbansichten vom multikulturellen Mariupol gleich nach der Wende zum 20. Jahrhundert, als in der Stadt am Asowschen Meer Griechen und Italiener ein mediterranes Leben führten.
Dahin führt die Spur von Natascha Wodins Familie: „Guiseppe De Martino, Matildas Vater, der schwerreiche italienische Kaufmann, hat seiner Tochter und ihrer Familie einen Flügel seines Hauses zur Verfügung gestellt, eines der repräsentativsten Häuser von Mariupol. Noch luxuriöser ist nur noch die Weiße Datscha, in der Matildas Schwester Angelina mit ihrem griechischen Mann und ihren Kindern wohnt.“
Plötzlich hat das in der bayrischen Schule sozial deklassierte Kind einer russischen Zwangsarbeiterin ihre Urgroßeltern entdeckt, die zur Oberschicht von Mariupol gehörten. Welch eine späte Genugtuung zu erfahren, dass die hochmusikalische Mutter am Klavier Chopin gespielt hat. Welch bitterer Einblick in ein Schicksal, das in den Reißwolf zweier Diktaturen geraten war: erst Stalin, dann Hitler und dann immer noch keine freundliche Aufnahme. In bayrischen Schulen verbreitet man noch Anfang der 50er-Jahre die Lüge, wonach die Sowjetunion Deutschland überfallen habe.
Natascha Wodin vermeidet übergroße emotionale Bewegung bei ihrer Spurensuche, mit der sie den Leser vermutlich überfordert hätte. Ihre Sprache der Recherche ist vergleichsweise sachlich und zurückgenommen, was ein schönes Spannungsfeld zu den exotischen Fundstücken schafft. Die Klärung einer Herkunft, die Natascha Wodin unternimmt, lenkt den Blick weit in den Osten. Entstanden ist in der deutschen Gegenwartsliteratur eines der spannendsten Bücher über Schicksale des 20. Jahrhunderts.