Russlands Weg aus der Wagenburg
Will Russland weltpolitische Geltung verwirklichen, muss es sich modernisieren
Dmitri Trenins Für und Wider zu Russlands Rückkehr auf die Weltbühne öffnet beim Autor dieser Replik die Tür des Zweifels: Kann Russland seinen wiedergewonnenen Status als eine re-etablierte Großmacht aufrechterhalten?
Die Zeichen sprechen für eine politische Epochenwende. Die poröse Struktur der internationalen Beziehungen wird in den kommenden Jahrzehnten infolge des relativen Machtabstiegs der USA und des relativen Machtaufstiegs von China weiter erodieren. Wer tatsächlich der dominante Akteur in der sich herausbildenden globalen neuen Machtarithmetik sein wird, steht keineswegs fest. In der Literatur findet in diesem Kontext ein Diskurs über den Auftakt zu einer zwischenzeitlichen sino-amerikanischen Bipolarität statt.
Nehmen wir diese These zum Nennwert. Welche Politik könnte, welche Politik müsste Russland praktizieren, um in den folgenden Dekaden von beiden Großmächten als ebenbürtig anerkannt zu werden?
Verfassung sichert Amtsdauer
Der chinesische Präsident Xi Jinping ließ sich im März 2018 vom Nationalkongress auf Lebenszeit wählen und hebelte damit die bisherige Verfassungsregel einer auf zwei Amtszeiten/10 Jahre begrenzten Präsidentschaft aus. Putin scheint hier eine Blaupause für seine Amtsdauer nach 2024 erkannt zu haben. Die neue Verfassung erlaubt ihm, bei den Präsidentschaftswahlen 2024 und 2030 erneut anzutreten und bis 2036 im Amt zu bleiben.
Die Chancen stehen dafür gut, denn mit dem Verbot von Zweitpässen sowie Auslandskonten werden potenzielle Präsidentschaftsanwärter aus Oppositions- und Oligarchenkreisen ausgeschlossen, denn eine von beiden Beschränkungen trifft auf sie in aller Regel zu. Die neue Verfassung verleiht dem Präsidenten zudem mehr exekutive und judikative Macht.
So kann er das Parlament auflösen sowie Richter ernennen oder entlassen. Zudem sichert sie ihm Einfluss auch nach seinem Ausscheiden. Er wird dann automatisch Mitglied des Föderationsrates und Senator auf Lebenszeit und kann bis zu sieben weitere Senatoren auf Lebenszeit berufen.
Die überwiegende Mehrheit der Russen, selbst jene, die kritisch zu Putin stehen, werten es als einen bedeutenden nationalpatriotischen Schritt, dass Verfassungsartikel 67 eine Rückgabe der Krim an die Ukraine rechtlich ausschließt. Damit ist Putins außenpolitisches Vermächtnis schon jetzt in der russischen Historiographie verankert.
Trenin argumentiert in historischen Kategorien mit seiner Aussage: „Es ist offensichtlich, die Ära Putin geht dem Ende entgegen.“ Im Juli 2036, im Alter von knapp 84 Jahren, hätte er dann 32 Jahre als Präsident und vier Jahre als Ministerpräsident die Geschicke der russischen Politik bestimmt. Das wäre dann fünf Jahre länger als Stalin die Sowjetunion gelenkt hatte.
In seinen verbleibenden 15 Jahren muss er die Zeit klug nutzen, um wichtige Weichen zu stellen, politische Weggabelungen richtig zu passieren und strukturelle Wandlungsprozesse einzuleiten. So könnte die Ära Putin in den Paradigmenwechsel zu einem modernen russischen Staat münden.
Gesellschaftliche Defizite
Und damit zurück zu meiner Skepsis bezüglich einer nachhaltigen weltpolitischen Position Russlands. Es fehlen signifikante Anzeichen für die Bereitschaft des Präsidenten und der von ihm gestützten sowie ihn stützenden Eliten, die unproduktive Überbetonung von Staatsrolle und Zentralgewalt mit ihren autoritären Politikstrategien einzuhegen. Eine partizipative Rückkopplung zwischen Staat und Gesellschaft wäre eine Vorstufe zum Aufbau eines bürgernahen Russlands mit einer gerechten Gesellschaftsordnung.
Diese ist vielmehr geprägt durch sozioökonomische Spreizungen, milliardenschwere Kapitalflucht, Rückgang ausländischer Investitionen, weit verbreitete strukturelle Korruption und gesellschaftspolitische Polarisierungen und Konflikte. Die vielfach empfundenen und häufig auch realen rechtlichen Ungleichheiten sowie die mangelnde Sichtbarkeit staatlichen Handelns in zahlreichen Regionen fördern bei einer wachsenden Zahl von Bürgern das frustrierende Gefühl, dass man abgehängt ist.
Trenin führt als Positivposten an: „Die Verstaatlichung eines großen Teils der Ölindustrie bildete die Grundlage für eine koordinierte Energiepolitik.“ Es fehlt aber die Kehrseite. Die fossile russische Rentenökonomie ist auf die Rohstoffwirtschaft fixiert, setzt auf eine Ressourcengesellschaft mit niedrigen Wertschöpfungen und verhindert eine produktive Innovationsgesellschaft.
Unsichere russische Weltmachtstellung
Trenin begründet die Wiederkehr als Global Player mit Blick auf die Wirtschaftskooperationen in Asien, die De-facto-Allianz mit China, die Waffen- und Energieexporte nach Afrika wie Lateinamerika sowie das militärische und diplomatische Engagement im Nahen Osten. Sein Fazit: „Statt enorme Anstrengungen zu unternehmen, um sein Modell auf andere auszudehnen, sucht Moskau heute Nischen, die es nutzen kann.“
Eine dauerhafte weltpolitische Akteurschaft verlangt aber mehr als das opportunistische Ausnutzen von Einflussgelegenheiten, die Trump mit seinem Isolationismus eröffnete. Mit US-Präsident Biden hat nach vier Jahren das traditionelle geopolitische Denken und Handeln in Washington wieder Platz genommen. Dort wird man viel Kraft aufwenden, um Russlands gewonnenen Einfluss durch Aktivierung alter und das Schmieden neuer Allianzen wieder zurückzudrängen.
Und die entscheidenden Akteure sind keine politischen Neulinge. Sie sammelten Erfahrungen in der Obama-Administration und kennen die Moskauer Politik.
Russland beansprucht weltpolitische Geltung. Die USA gestehen Moskau indes weltpolitische Teilnahme zu, höchstens aber Mitwirkung, keinesfalls gleichberechtigten Mitgestaltungsanspruch. Sie begründen das mit der Machtsubstanz, die sich substanziell nicht von jener in Sowjetzeiten unterscheidet.
Es sind die beiden Stützpfeiler: der Besitz von Nuklearwaffen und der Platz als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat. Insofern ist Russland aus US-Perspektive im weltpolitischen Konzert nur eine Status- und Prestigemacht.
Hypothetisch als Worst-Case-Szenario unterstellt: Eine potenzielle russische Drohung mit Kernwaffen in einem politischen Konflikt wäre durch das reziproke Abschreckungssystem ein nicht kalkulierbares Hochrisiko, also untauglich. Und ein versuchter limitierter Einsatz ließe sich nicht planbar führen und wäre vielmehr die Einladung zum Selbstmord.
Verbleibt als Weltgewicht Russlands Einspruchsrecht im Weltsicherheitsrat. Im Schmieden einer Koalition von Willigen zur Interessendurchsetzung haben die USA aber Erfahrung und können das Privileg relativieren.
Kompromiss als Schwäche?
Aus herrschaftssoziologischer Perspektive Moskaus sind die harten Reaktionen auf die Straßendemonstrationen und ausländischen Proteste für die Freilassung von Alexei Nawalny stabilitätspolitisch geboten. Die Polittechnologen bedenken aber nicht, dass sie damit in eine vom Nawalny-Team kalkulierte moralische Sackgasse gedrängt werden und wohl auch sollen: die Analogie zu sowjetischen Repressalien gegen Andrei Sacharow, Andrei Amalrik und andere prominente politische Kritiker. Und dass in der EU und insbesondere in Deutschland wieder eine Wertediskussion im politischen Diskurs mit Russland Platz greift und die Bemühungen um eine stärker interessenorientierte Politik zurückgedrängt werden. Die Moskauer Eliten müssen der Versuchung des Aufbaus einer Wagenburg-Politik widerstehen. Diese würde Kompromisslösungen als Schwächesignale deuten und innen- wie außenpolitische Fehlentscheidungen begünstigen.
WeltTrends
Das außenpolitische Journal:
"Afrika und Europa. Ein strategisches Bündnis?"
Ausgabe 175, Mai 2021