Putins paradoxe Propaganda
Der russische Präsident versucht, seine Schwäche mit nuklearem Getöse zu übertünchen
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion habe ich keine so orwellsche Rede mehr gehört wie die des russischen Präsidenten Wladimir Putin, in der er den Anschluss der vier ukrainischen Regionen an Russland verkündet hat. Genauso wie der Kommunismus einst die Menschheit vor der imperialistischen Ausbeutung retten sollte, fühlt sich Russland nun anscheinend berufen, das Recht der Länder zu verteidigen, keinem „neuen Kolonialismus“ unterworfen zu sein, der sie in westliche Vasallenstaaten verwandelt. In Putins Russland ist Krieg Frieden, Sklaverei Freiheit, Unwissenheit Stärke – und illegale Annexionen in einem souveränen Land sind der Kampf gegen den Kolonialismus.
Aus seinem Blickwinkel betrachtet gleicht Putin eine historische Ungerechtigkeit aus, da die annektierten Regionen – Donetsk, Luhansk, Cherson und Saporischtschja – einst Teil von Neurussland (Noworussija) waren und von Katharina der Großen in das russische Reich eingebracht wurden. Außerdem widersetzt er sich im Namen der restlichen Welt gegen den Westen – insbesondere gegen die Vereinigten Staaten, die diese Welt seit dem Kalten Krieg ausgeplündert und beherrscht haben.
Ich liebe gute Propagandareden – immerhin habe ich über dieses Thema jahrelang gelehrt. Hier aber kommen sie vom Präsidenten eines Staats, der sich historisch in den Mittelpunkt gleich zweier Reiche gestellt und andere Staaten als Satelliten um sich geschart hat. Deshalb ist Putins Rhetorik zu dick aufgetragen, um befriedigend zu sein.
Genau wie die Reden der Sowjetführer im Kalten Krieg enthielt Putins Ansprache keine Spur irgendwelcher Kompromissbereitschaft. Aber in gewisser Weise geht Putin noch selbstbewusster vor als seine sowjetischen Vorgänger. Seine Art ist von seinem intellektuellen Helden geprägt, dem russischen Philosophen Iwan Iljin. Sicherlich hat Iljin den Kommunismus gehasst. Tatsächlich hat er Adolf Hitler dafür gelobt, Europa vor der Roten Gefahr zu beschützen, und als er vor dem Zweiten Weltkrieg in die Schweiz emigrierte, hielt man ihn für einen Agenten des Nazi-Propagandaministers Joseph Goebbels.
Aber es ist sinnlos, in der dystopischen Kascha russischer Helden und Symbole, die Putin zusammenkocht, Logik zu suchen. Während er Iljins Glaube an die russische Überlegenheit teilt, vergleicht er westliche Staatschefs, die über Russland „lügen“, mit Goebbels, und rechtfertigt seine „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine als notwendig, um das Land (mit seinem teilweise jüdischen Präsidenten) zu „entnazifizieren“.
So absurd Putins Annexionsrede auch gewesen sein mag, es fand sich nichts Überraschendes in ihr. In den vergangenen Wochen musste Russland in der Nordostukraine einige militärische Niederlagen hinnehmen. Als schwach zu erscheinen ist für Putin aber unerträglich, und dies kompensiert er mit immer aggressiverer Rhetorik. Je offensichtlicher es ist, dass Russland verliert, desto energischer erklärt er, dass dies nicht der Fall sei.
Das „Paradox der Tyrannei“
Dies ist das „Paradox der Tyrannei“: Je schwächer der Staat, desto stärker beraubt er seine Bürger ihrer Grundrechte. Jede Weitergabe einer Geschichte über den Krieg, die nicht Teil des Kreml-Narrativs ist, wird als „Verbreitung falscher Informationen“ betrachtet, die seit März mit Bußgeld oder gar Gefängnis bestraft werden kann. Solch ein Staat kann seine eigenen grundlegenden Probleme nicht lösen. Alles, was er tun kann, ist, mögliche Alternativen zu diskreditieren und jegliche Opposition zu unterdrücken.
Aber nicht alle Russen glauben Putins Narrativ. Seit seiner Ankündigung einer „Teilmobilisierung“ der russischen Armee am 21. September sind etwa 200 000 Menschen – vielleicht viel mehr – in Nachbarstaaten geflohen. Diese Russen schlafen lieber auf dem Fußboden eines Einkaufszentrums in Astana als in Putins Ukrainekrieg zu kämpfen.
Wird dies eine weitere Eskalation auslösen? Wird in Russland bald das Kriegsrecht ausgerufen?
Auch Putins innerster Kreis scheint über die jüngsten Entwicklungen nicht besonders erfreut zu sein. Obwohl die Zuhörer bei seiner Annexionsrede – etwa der ehemalige Präsident Dmitri Medwedew, Kreml-Sprecher Dmitri Peskow und Sicherheitsratssekretär Nikolai Patruschew – die Linie des Kreml vertreten, sah man dort nur steinerne Mienen und lauwarmen Applaus. Wie die Sowjet-Apparatschiks wissen sie, dass sie diszipliniert und folgsam bleiben müssen. Dies ist Putins Show, und jegliche Andeutung, der Kaiser trage ja gar keine Kleider, könnte sie vor Gericht bringen – oder gar frühzeitig ins Grab.
Dies deutet auf eine weitere Facette des russischen Paradoxes der Tyrannei hin: Vereint sich die gesamte Macht auf eine einzige Person, schwächt dies die Verwaltung, da es ineffektive oder gar kontraproduktive Politik ermöglicht und jegliche Mechanismen für Kurskorrekturen behindert. Den Anführer – vielleicht durch Hinweise auf politische Fehler – herauszufordern, bedeutet, das eigene Leben zu riskieren.
Keiner von Putins Beratern wird ihm wahrscheinlich mitteilen, dass der Krieg in der Ukraine für Russland eine strategische Katastrophe ist. Sie werden nicht erwähnen, dass er bereits sein ursprüngliches Ziel nicht erreichen konnte: in Kiew einzumarschieren und die „russischen Territorien“ wiederzuvereinigen. Und sie werden ihm nicht erklären, dass die internationale Gemeinschaft seine jüngsten Gebietsansprüche niemals anerkennen wird. Dies ist die Wahrheit, die Putin hofft, mit nuklearem Getöse übertünchen zu können.
Eines Tages wird es vielleicht eine russische Führung geben, die versucht, die Beziehungen zum Rest der Welt zu reparieren – nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen. Und diese illegal annektierten Gebiete werden solche Fortschritte erheblich behindern. Länder geben ihre Territorien kaum freiwillig ab, und in Russland wird es immer Menschen – Anhänger von Iljin oder Putin selbst – geben, die, wenn eine zukünftige Führung Cherson oder den Donbass (oder gar die Krim) aufzugeben plant, von Verrat sprechen.
Putin will, dass man sich an ihn als Verteidiger Russlands erinnert. Vielleicht wird er sich sogar selbst als solcher in die Geschichtsbücher schreiben lassen. Aber ebenso wie viele Russen heute vor seinem Ukrainekrieg weglaufen, ist es unwahrscheinlich, dass zukünftige russische Präsidenten sein imperiales Erbe und alle damit verbundenen Probleme gutheißen werden.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff. Copyright: Project Syndicate 2022.