Die neue Westbindung
Europa ist bereit, den USA zu verzeihen, Russland erwartet nichts Gutes
Es geschah zu einer Zeit, als der Kalte Krieg längst überwunden war, da soll Joe Biden tief in Wladimir Putins Augen geblickt und festgestellt haben: „Er hat keine Seele.“ Putins kühle Antwort: „Wir verstehen uns.“ Dieser denkwürdige Wortwechsel stammt aus dem Jahr 2011. Für Dmitri Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Center, hat er eine tiefe Bedeutung für die kommenden Jahre: „Das wird die kälteste persönliche Beziehung zwischen Führern der USA und Russlands.“
2011 begann der kurze Frühling der Demokratie in Arabien, der Westen erkannte China als bedrohliche Kraft, Europa suchte schüchtern seinen Platz zwischen den Weltmächten und Russland galt als schwache regionale Größe (das sagte damals allerdings noch niemand). Damals war die Welt, wie die politischen Alarmisten gern sagen, in turmoil. Aber wann ist sie das nicht? Deutschland immerhin wusste, wo es steht: mit glänzenden Augen an der Seite der USA, namentlich Barack Obamas.
Aber dann kam die Sündflut. Russland zeigte an seiner Westgrenze und darüber hinaus Muskeln, auf die USA schien kein Verlass mehr zu sein, weshalb die Bundeskanzlerin in einem Bierzelt in München-Trudering genötigt war zu sagen: „Wir Europäer müssen unser Schicksal wirklich in die eigene Hand nehmen.“ Die New York Times sprach von einer „tektonischen Verschiebung“ im transatlantischen Verhältnis.
Dieses Beben ist Geschichte. Heute beantwortet der deutsche Außenminister die Frage, ob er froh sei, dass Trump weg ist und Joe Biden im Weißen Haus sitzt, mit einem knappen, unmissverständlichen Ja.
Russland weiß: Von Biden haben wir nichts zu erwarten
Anders Russland: Wenn dessen Analysten gen Westen blicken, sehen sie einen schwarzen Horizont. Trenin sieht Biden, der ein halbes Jahrhundert in Außenpolitik involviert war, wieder im Kalten Krieg. Den habe der 46. Präsident der USA nicht aus Büchern gelernt wie Barack Obama, sondern Biden habe den Kalten Krieg durchlebt. Als Vorsitzender des Senatsausschusses für Außenpolitik und Vizepräsident sei er „fast ein halbes Jahr eng in die Weltpolitik eingebunden“ gewesen. Biden betrachte die heutige Lage als Wiederholung (postscript) des Kalten Kriegs, und auch der müsse „von den USA gewonnen werden“.
Die EU stelle sich wieder an die Seite der Macht auf der anderen Seite des Atlantiks – und rücke weiter weg von Russland. Das, so Trenin, gelte auch für Russlands bisherigem europäischem Anwalt Deutschland.
Die EU: Bald einig in der Russlandpolitik?
Der auch im Westen anerkannte Analytiker des Weltgeschehens rechnet mit mehr Einigkeit der Nato bezüglich ihrer Russlandpolitik. „In den vergangenen Monaten hat sich die Haltung europäischer Staaten gegenüber Russland erkennbar verhärtet, Europa ist sehr nah an die Positionen der USA gerückt.“ Trenin schließt daraus, mehr Spannung zwischen USA und Russland seien „eine sichere Wette“. Die EU werde sich sehr den USA annähern.
Und tatsächlich: Im sogenannten Westen war ein tiefer Seufzer zu hören, als klar war: Trump ist weg. Deutschland, Europa werde sich wieder auf die USA verlassen können. Mit dem Neuen werde nun alles anders, hoffen nicht nur Transatlantiker, die „hirntote“ Nato (Emmanuel Macron) werde wiederbelebt, über die Erhöhung der deutschen Verteidigungsausgaben noch einmal verhandelt wie auch über Nord Stream 2, und die Konflikte mit der Wirtschaftsweltmacht China werden unter den Fittichen der militärischen Großmacht halb so schlimm.
Vor allem: Die USA werden sich den alten, gemeinsamen Idealen wieder annähern. Und siehe da, Biden liefert: Rückkehr in Staatenbündnisse für Klimaschutz, Rüstungskontrolle, WHO – in den ersten Tagen seiner Präsidentschaft ist Biden Europäer.
Um die neue Westbindung nicht zu gefährden, scheint die deutsche Politik bereit zu sein, die Pipeline Nord Stream 2 zu opfern. Und bezüglich der Militärausgaben plädiert die grüne Heinrich Boell-Stiftung für eine „neue Übereinkunft“ bei der transatlantischen Partnerschaft; ausdrücklich eingeschlossen sind höhere finanzielle Beiträge fürs Militär. Das allerdings geschah nicht zur Freude aller in der Partei.
Auch der neue CDU-Vorsitzende bekam signalisiert, welche Richtung der Meinungsmainstream bevorzugt: weg von Moskau. Die Frankfurter Allgemeine sammelte Armin Laschets Statements über Russland und zog als Fazit: „Russlandversteher“. Die Süddeutsche Zeitung rügte Laschet tags darauf wegen „viel Verständnis für russisches Verhalten“. Das wird ihm zu denken geben.
Freilich, es gibt unübersehbare Gründe, Putins Russland zu kritisieren, ihm zu misstrauen: Annexion der Krim, Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine, Unterdrückung von Kritik in Russland sowie Großmachtstreben und Mordanschläge auf Regimegegner.
Aber muss die Frage nicht endlich lauten: Wie könnte es gelingen, Russland dazu zu bewegen, von seinem Irrweg abzubiegen – oder wie Russen sagen würden: ihre eigenen Interessen hintanzustellen? Mit Vorwürfen und Gegenvorwürfen, Auge um Auge, seit vielen Jahren die Mittel der Wahl, wird das gar nichts.
Russland und der Westen brauchen Mediation
Wenn es eine partnerschaftliche Zukunft geben soll, dann brauchen Russland und Europa eine Mediation. Das setzte allerdings voraus, dass beide bereit sind, die Argumente der anderen Seite nicht nur anzuhören, sondern zu versuchen, sie auch zu verstehen. Überwinden müssten beide Seiten, auf jede (gefühlte oder tatsächliche) Provokation reflexhaft eine Vergeltungsrakete zu zünden.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat beispielhaft zu zeigen versucht, dass und wie Mediation auch auf dem politischen Feld funktionieren könnte: „Russland und der Westen missverstehen sich an allen Fronten“, stellten eine Gruppe von führenden Sicherheitsexperten um Wolfgang Ischinger nach der Annexion der Krim fest. Ursache für das generelle Missverstehen seien ein „Mangel an Vertrauen“ und „diametral unterschiedliche Narrative“.
Der im November 2015 veröffentlichte Bericht beginnt – Mediation! – mit Darstellungen der eigenen Sicht auf die Vergangenheit: die des Westens, die Moskaus und die der Staaten dazwischen. Unkommentiert! Erstmal zuhören und schweigen.
Sehr erhellend sind die Langversionen der Narrative von Seite 21 an. Sie belegen eine diametral entgegengesetzte Wahrnehmung von 25 Jahren europäisches Mit- und Gegeneinander seit dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Zentrale These West: „Die Erweiterung von NATO und EU folgten nicht einem westlichen Plan zur Einkreisung Russlands.“ Viele nach 1990 unabhängige Staaten „wollten zurückkehren in die demokratische Familie“. Europa wünschte eine Partnerschaft mit Russland.
Zentrale These Russland: „Beginnend mit den Verhandlungen über die deutsche Widervereinigung nutzte der Westen die russische Schwäche aus.“ Nato-Russland-Grundakte und Nato-Russland-Rat seien „Zuckerguss auf der bitteren Pille der Erweiterung“ gewesen; die Idee der EU für Partnerschaft sei: „Russland sollte dessen Regeln übernehmen.“
Rückkehr zur Diplomatie
Damals empfahlen die Experten: „Rückkehr zur Diplomatie“ statt „gegenseitige Beschuldigungen“, um „wieder Vertrauen zu bilden“. Ausdrücklich werden gefordert: „keine militärischen Aktionen, keine Propaganda, keine Rhetorik, sondern ein Prozess, der unsere gemeinsamen Probleme sorgfältig erkundet, vertraulich und systematisch“. Das war vorbildlich für den ersten Schritt. Zu einem zweiten kam es leider nicht.
Inzwischen wurde aus Missverstehen Gegnerschaft, aus Gegnerschaft – man muss es aussprechen – verbissene Feindschaft. Und Deutschland scheint bereit zu sein, vielleicht verständlich, den Draht nach Moskau zu kappen und zur Strafe für andauernde Unbotmäßigkeit Nord Stream 2 zu opfern und das Militärbudget an die US-Forderung von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzupassen.
Ist das alles vernünftig?
Es gibt noch deutsche Stimmen gegen den Mainstream. Zu den Fragen, die Deutschland nach der Amtsübernahme von Joe Biden als US-Präsident mit den USA klären müssen, zählt Theo Sommer auf Zeit online Nord Stream 2 und die Forderung nach zwei Prozent des BIP fürs Militär.
Nord Stream 2: Schon das erste Erdgas-Röhrengeschäft mit Moskau in den 1970er-Jahren musste gegen US-Sanktionsdrohungen durchgesetzt werden. Russland hat sich danach als zuverlässiger Lieferant gezeigt. Als Störer der Energiepartnerschaft habe sich die Ukraine gezeigt. Deutschland sei nicht völlig abhängig vom Gas aus Russland, Trumps Behauptung, Berlin werde über das Gas "total von Russland kontrolliert", sei eine seiner "getwitterten Unverschämtheiten". Auch die Versorgung Osteuropas sei gesichert. Den USA wirft er "Heuchelei" vor, sie seien der zweitgrößte Importeur russischen Erdöls.
Zwei Prozent Steigerung der Militärausgaben bis 2031: Auch wenn weltweit aufgerüstet wird, hält Sommer das 2-Prozent-Ziel für sinnlos – gerade unter den finanziellen Belastungen durch Corona. Deutschlands Wehretat ist seit 2014 von 32 auf 45 Milliarden Euro gestiegen, die bis 2024 versprochenen 1,5 Prozent wurden bereits voriges Jahr erreicht.
Sommer stellt simple Fragen: „Was ist die tatsächliche Bedrohung?“ Und: „Wäre diplomatische Abrüstung nicht besser als militärische Aufrüstung?“
Den diplomatischen Kanal befürwortete kürzlich auch Johann David Wadephul. Er lässt den Gedanken zu, dass der Westen mit EU- und Nato-Osterweiterung „russische Sorgen über eine herannahende ‚Bedrohung‘ mindestens unterschätzt“ haben könnte. Das könnte Ursache sein für vieles, was danach geschah. Aus Unverständnis, Missverständnissen, Trotz.
Sprachlosigkeit aber sei „weder im europäischen noch im russischen Interesse“, schrieb der Stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied des Vorstands des Petersburger Dialogs.
Wadephul plädiert trotz Krim, Ukraine und Nawalny (was er klar verurteilt) für wirtschaftlichen Austausch sowie für Zusammenarbeit im Gesundheitswesen, beim Klimaschutz, für Städtepartnerschaften und Hochschulkooperationen. Auch der Austausch der sogenannten Zivilgesellschaft, Programm des Petersburger Dialogs, kann für ein besseres Verständnis sorgen.
Wer das alles nicht will, dem bleibt nur die Option: Weitermachen wie bisher, Folterwerkzeuge herzeigen. Nach sieben Jahren Sanktionen ist nichts besser geworden, Russland ist nicht eingeknickt, hat sich nicht verständig oder reuig gezeigt. Stattdessen: Trotz, Verhärtung und Abwendung. Wie lange soll das so weitergehen?
Russland hat Konsequenzen gezogen, meint Trenin. Moskau habe sich entschieden, in dieser Lage nur noch nach eigenen Interessen zu handeln: „Präsident Putin verfolgte seit 1999 zwei große Ziele: die Einheit Russlands bewahren und den Status als Großmacht wiederherstellen“, schreibt er selbstbewusst. „Er war dabei erfolgreich.“