MEMORIAL: ‚Unser öffentliches Gewissen‘
Auch russische Künstler kritisieren das Verfahren gegen die NGO. Ljudmila Petruschewskaja gibt Staatspreis zurück
Am 25. November 2021 entscheidet das Oberste Gericht der Russischen Föderation über den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft, eine der ältesten Menschenrechtsorganisationen Russlands zu liquidieren, MEMORIAL. Viele Russinnen und Russen empfinden diesen Vorgang als einen weiteren Schlag gegen die ohnehin in vielen ihren Freiheiten begrenzte Zivilgesellschaft. Schriftsteller, Journalisten, Musiker unterstützen Memorial.
Der bekannte Schriftsteller und Literaturkritiker Alexander Genis, der seit langem in den USA lebt, bittet auf Facebook direkt um Unterstützung für Memorial: „Freunde, lasst uns Memorial unterstützen. Wenn es auch nichts ändert, werden wir uns selbst zeigen, dass nicht alle sich den neuen Stalinisten ergaben und der Gleichgültigkeit erlagen. Ich persönlich danke Memorial dafür, dass ich dank seiner Arbeit erfahren habe, wann und wo mein Großvater an die Wand gestellt wurde. Vielen Dank“.
Genis spricht einen der wichtigsten Bereiche der Tätigkeit von Memorial an, die Forschung über Opfer der stalinistischen Diktatur. Jahrelang erstellten die Mitarbeiter der Organisation Datenbanken der Ermordeten sowie Inhaftierten. Dank diesen Listen haben viele Bürger und Bürgerinnen die Möglichkeit, sich über das Schicksal ihrer Verwandten zu informieren.
Die Aktion „Rückgabe der Namen“, fand bisher jährlich am 29. Oktober in vielen russischen Städten statt, am Vorabend des in Russland offiziellen Gedenktags für die Opfer politischer Verfolgung. In Moskau geschah dies am Gedenkstein des Stalinismus in Moskau. Dort, auf dem bekannten Lubjanka-Platz, vor dem Sitz des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes, der nun als Hauptquartier den russischen Inlandsgeheimdienstes FSB gilt, sammelten sich Menschen und lasen die Namen der Ermordeten vor. Diese Aktion wird es wohl bald nicht mehr geben können.
Ljudmila Petruschewskaja lehnt Staatspreis ab
Andrei Kolesnikow von Moscow Carnegie Center sieht den Angriff auf Memorial als Attacke auf das Privatleben vieler Russen. Der Staat, so Kolesnikow, mische sich in das Leben der Familien ein, die an ihre „verfolgten Omas und Opas“ denken. Durch die zu erwartende Gerichtsentscheidung wolle der Staat ihnen diese Erinnerungen wegnehmen.
Dieser Meinung ist auch der bekannte russische Sänger Juri Schewtschuk, er schrieb einen Brief an das Gericht mit der Bitte, den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft abzulehnen. Sein Großvater wurde 1937 zum Opfer der Repressionen; nur dank Memorial konnte die Schewtschuk-Familie zumindest die Unterlagen anschauen. Wo das Grab sich befindet, ist nicht bekannt.
Der Journalist Andrej Loschak nannte Memorial auf Facebook das russische „öffentliche Gewissen“. Der bekannte Filmkritiker Anton Dolin glaubt, die Attacke gegen die Organisation sei „von oben“ geplant.
Daran zweifelt auch die Schriftstellerin Ljudmila Petruschewskaja nicht. Deswegen lehnt sie ihren Titel der Staatspreisträgerin ab, den ihr 2002 Wladimir Putin verliehen hat. Für Sie ist das eine persönliche Angelegenheit: Gleich mehrere Familienangehörigen der Schriftstellerin wurden ermordet oder verhaftet. Man nehme ihr nun die Erinnerung weg – die Erinnerung an die Toten, an jene, die „unter einen LKW geworfen wurden und verhungert sind“, an jene, die auf der Lubjanka „bis zum Tod gefoltert wurden“, an jene, die zu Unrecht verurteilt worden sind und im Gefängnis sitzen.
Auch Michail Gorbatschow und Dmitri Muratow, beide Träger des Friedensnobelpreises, unterstützen Memorial. Hoffnung gibt es aber für die respektable Menschenrechtsorganisation wohl kaum.
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