Wieso Memorial zerstört werden soll
Mit der NGO ist auch das Archiv von Erinnerungsstücken an den Staatsterror in Gefahr
Es ist nicht viel bekannt über die Frau, die die winzigen Fäustlinge gestrickt hat. Zartbraun sind sie, mit roten Bündchen und so klein, dass sie einer Miniaturpuppe passen könnten. Aber nicht dem Kind, das die Gefangene nicht bekommen durfte. Von ihr ist nur der Nachname überliefert: Trawnikowa. Sie war in einem Straflager im sibirischen Gebiet Irkutsk inhaftiert, wurde schwanger und im fünften Monat einer Zwangsabtreibung unterzogen, die auch für sie tödlich war. Die Sterbende strickte die Fäustlinge; eine andere Gefangene, die auf der Krankenstation als Putzfrau arbeitete, gab sie Jahrzehnte später den Menschenrechtlern von Memorial.
Daher weiß man über die Putzfrau viel mehr: Alla Berjoskina war eigentlich Ingenieurin aus Leningrad. Sie wurde während der Blockade der Stadt durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie in den Kaukasus vermeintlich in Sicherheit gebracht, geriet in Gefangenschaft, wurde verschleppt und in Deutschland zur Arbeit gezwungen. Da Stalin „Ostarbeiterinnen“ wie sie als Verräter verfolgen ließ, kam Alla Berjoskina nach der Rückkehr in die Sowjetunion in Lagerhaft. Von ihr stammen Zeichnungen von Mitgefangenen wie die einer Frau mit eng anliegendem Haar und ausgezehrtem Gesicht; ihre dunklen Augen blicken traurig, verschreckt, verloren.
Täter wurden zu Opfern, Opfer zu Tätern
Die Fäustlinge und das Porträt sind mit anderen Erinnerungsstücken derzeit in einer Ausstellung im Museum von Memorial im Zentrum von Moskau zu sehen. Sie widmet sich den Erfahrungen von Frauen im Gulag, dem sowjetischen Straflagersystem. In das Museum, einen kleinen, fensterlosen Raum im Souterrain, kommen gerade viele Besucher, um sich „Material“ anzuschauen, wie die Ausstellung heißt. Der Titel ist so vielschichtig wie die Arbeit der Menschenrechtler.
In Stalins Staatsterror wurden Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern, um zu überleben. Menschen galten als „Material“, geschunden auf Baustellen, in Wäldern, Steinbrüchen, Bergwerken. Auch Stickereien wie solche, die die Ausstellung zeigt, wurden in einem Frauenarbeitslager unter Zwang erstellt und vom Staat verkauft. Manche schafften es, sich nebenher etwas Schönes zu sticken, Veilchen vor vergitterten Fenstern etwa.
In „Material“ steckt auch das Wort für Mutter. Der Gulag riss Familien auseinander. Irina Ostrowskaja von Memorials in drei Jahrzehnten aufgebautem Archiv kennt die Geschichte jedes Exponats, hat Erzählungen derjenigen aufgezeichnet, die in den Mahlstrom der Gewalt gerieten.
Vor einem Brief, in dem Bruder und Schwester aus einem Kinderheim der Mutter im Straflager schreiben, wie gut es ihnen gehe (einige Zeilen hat der Zensor geschwärzt), und malen, wie warm sie gekleidet seien, erzählt Ostrowskaja, von einer anderen, ebenfalls in einem fabrizierten Verfahren verurteilten Gefangenen. Deren Kind fragte sie in einem Brief, ob sie unschuldig im Lager sitze oder schuldig. Denn wenn die Mutter zu Unrecht inhaftiert sei, wolle es nicht in den Komsomol eintreten, als Jugendorganisation der Partei Bedingung für jedes Fortkommen. Die Mutter bezeichnete sich aus Liebe als schuldig und sah ihr Kind nie wieder.
Jetzt erinnert der Ausstellungstitel auch daran, dass Memorial bei jeder Veröffentlichung, jedem "Material", den schriftlichen Zusatz anführen muss, von den Machthabern als "ausländischer Agent" eingestuft worden zu sein. Gerade hat die Generalstaatsanwaltschaft wegen angeblicher Verstöße gegen das entsprechende Gesetz beantragt, Memorial International, den Dachverband der Organisation, aufzulösen, im Juristenausdruck zu „liquidieren“. Darüber wird am Donnerstag vor dem Obersten Gericht verhandelt.
Russlands „Agenten“ stehen in blutiger Tradition
Zwei Tage zuvor geht es vor einem Moskauer Gericht um den Antrag der Staatsanwaltschaft der Hauptstadt, auch das Menschenrechtszentrum von Memorial wegen Verstößen gegen das „Agenten“-Gesetz aufzulösen. Letzteres wurde bald nach Wladimir Putins Rückkehr ins Präsidentenamt 2012 erlassen. Es beziehe sich, so behauptet Putin, auf ein amerikanisches Vorbild von 1938. Doch Russlands „Agenten“ stehen in einer blutigen Tradition, dem stalinistischen Bild des „Volksfeinds“.
Im Archiv von Memorial, durch einen Gang vom Museumsraum getrennt, lagern Zeugnisse für die Folgen, die solche Stigmatisierungen mit sich brachten. In hohen Schränken werden Zigtausende Briefe, offizielle Dokumente, Tagebücher, Fotos aufbewahrt, die Überlebende und Hinterbliebene der Opfer Memorial übergeben haben. Viele Verträge darüber hat Irina Ostrowskaja selbst mit ihnen abgeschlossen. Oft hörte sie dabei den Satz: „Für mich ist es eine Ehre, dass das von Memorial aufbewahrt wird.“
Im Raum riecht es nach altem Papier, wohlig-muffig wie in einer Bibliothek. Hier arbeiten Memorials Spezialisten, entziffern, vervollständigen, kombinieren, um Schicksale zu erhellen. Ostrowskaja führt zu fünf Kisten, die die Erinnerungen der Familie Krause bergen. Friedrich Krause, Kinderarzt in der Stadt Magnitogorsk, kam nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion zehn Jahre, von 1942 bis 1952, in Haft, weil er zwar in Moskau geboren, aber Deutscher war, genauer: Baltendeutscher. Memorial hat Krauses Briefe veröffentlicht.
Auf dünnem Papier in Lagern in Kasachstan und Turkmenistan geschrieben, gingen sie an seine russische Frau, die auch in Lagerhaft gesteckt wurde, dort aber, anders als ihr Mann, starb, und an die gemeinsamen Kinder, die bei Krauses geschiedener Frau blieben. Immer wieder mahnt der Arzt die Geschwister darin zu Fleiß und Rechtschaffenheit. „Bewahrt alles, was geblieben ist“, schreibt er, „vor allem Familienerinnerungen, Briefe, Zeichnungen, Fotos.“ Ob sie noch wüssten, wie sie im Winter auf dem Sofa den „Don Quixote“ gelesen hätten? „Wie war das schön!“
Jan Ratschinskij, seit 2018 Vorsitzender von Memorial International, empfängt in seinem kleinen Büro im Stockwerk über Archiv und Museum. Ein Foto seines vor bald vier Jahren gestorbenen Vorgängers steht auf dem Fensterbrett: Arsenij Roginskij lächelt dem 62 Jahre alten Mathematiker beim Versuch zu, Memorial zu retten.
Die Bewegung gilt als Keimzelle der russischen Zivilgesellschaft, entstand in den Jahren von Glasnost und Perestroika im Ringen um die Erinnerung und ein Mahnmal (Memorial) für die Opfer des Staatsterrors. So ist sie auch eine Gemeinschaft von Leuten, die seit Jahrzehnten zusammenarbeiten, zu Beginn mit dem Physiker Andrei Sacharow, einem der Gründer.
Angebliche Verstöße sind zweifelhaft
Ratschinskij stieß 1988 zu Memorial, erlebte, wie die Bewegung wuchs, sich konstituierte, Räume bekam, vor zehn Jahren endlich diese im Herzen der Hauptstadt. Jetzt hält er die Gefahr, dass dem Auflösungsantrag stattgegeben wird, für „vollkommen real“. Schon andere Nichtregierungsorganisationen wurden wegen angeblicher Formfehler „liquidiert“, wiewohl nicht so große, bedeutende wie Memorial International, das 2016 zum „Agenten“ erklärt wurde, zwei Jahre nach dem Menschenrechtszentrum.
Letzterem wird jetzt zusätzlich die „Rechtfertigung von Terrorismus und Extremismus“ vorgeworfen. Das rührt daher, dass die Menschenrechtsschützer die Verfolgung von Mitgliedern einer Reihe entsprechend eingestufter Vereinigungen wie der Zeugen Jehovas als politisch motiviert kritisieren.
Als Putins Sprecher jüngst nach den Vorwürfen gegen Memorial befragt wurde, sagte er, die Organisation habe „schon lange Probleme mit der Beachtung von Normen der russischen Gesetzgebung“. In Wirklichkeit sind die angeblichen Verstöße zweifelhaft. Memorial klagte erfolglos gegen die Diffamierung, markierte seine Auftritte aber vorsichtshalber mit dem „Agenten“-Label. Bestraft wurde die Organisation für unterbliebene Selbstbezichtigungen in sozialen Netzen und Datenbanken, zu deren Markierungspflichtigkeit bis dahin nichts gesagt war.
Die meisten Klagen gingen auf die Vertretung des Geheimdiensts FSB in der Nordkaukasus-Teilrepublik Inguschetien zurück, offenbar aus Rache dafür, dass sich Memorial erfolgreich für Willküropfer einsetzte. Die Organisation zahlte die Bußgelder wegen unterbliebener Markierung, insgesamt mehr als 72 000 Euro, sammelte dafür Spenden. Jetzt wertet die Generalstaatsanwaltschaft die alten Vorwürfe zu Verstößen gegen die Verfassung auf, sieht gar die „sittliche und geistige Entwicklung“ von Kindern gefährdet.
Ratschinskij hebt hervor, dass das „Agenten“-Gesetz von Anfang an dazu gemacht worden sei, um „mit oppositionellen Organisationen abzurechnen“. Es sei eben leichter, „einen formalen Vorwand zu finden, als über die Substanz zu diskutieren“. Seit dem vergangenen Frühjahr werden die wenigen verbliebenen unabhängigen Stimmen in Russlands Medien, Politik und Gesellschaft kriminalisiert, zum Schweigen gebracht, ins Exil getrieben. Memorial stört die Machthaber schon lange.
Sie wollten, erläutert Ratschinskij, den Blick auf die Geschichte monopolisieren und den Staat „sakralisieren“: Ob Russisches Imperium, Sowjetunion oder Russische Föderation, immer soll man auf der Seite des Guten und Gerechten gewesen sein. „Das, worum wir uns kümmern, widerspricht dieser Konzeption der Geschichte.“ Vor der Sowjetunion habe es in keinem Land der Welt eine solche Vernichtung der eigenen Bevölkerung gegeben wie in Stalins Terror. „Der Versuch, die Geschichte zu beschönigen, verhindert, dass man vorwärtskommt.“
Leerstelle, die der Staat nicht füllen will
Memorial füllt eine Leerstelle, die der Staat nicht füllen will. Dessen Gedenken an die Opfer der „Repressionen“ ist eher allgemein und sei, findet Ratschinskij, dem Ausmaß der Tragödie nicht angemessen. Vor vier Jahren weihte Putin in Moskau ein Denkmal für die Opfer ein, auch ein offizielles Gulag-Museum gibt es in der Hauptstadt. Doch wer etwas über verschleppte, verschollene, ermordete Vorfahren erfahren will, wendet sich an Memorial.
Hunderte Anfragen kommen jeden Monat, es werden immer mehr. Früher sei der Terror wie eine Naturkatastrophe aufgefasst worden, sagt Ratschinskij, „niemand verstand, woher er kam“. Mit größerem zeitlichem Abstand werde die Frage nach den Verantwortlichen gestellt. Das Verständnis dafür, dass der Einzelne Rechte habe, wachse, Russland ändere sich, „traurigerweise viel langsamer, als es sich ändern könnte“.
Denn der Staat blockiert; anderen Behörden voran der FSB, der sich als stolzer Erbe von NKWD und KGB versteht und die Archive verschlossen hält. Memorial unterstützt Anträge und Prozesse, in denen Nachfahren versuchen herauszufinden, wer Anklagen fabrizierte, Urteile fällte und vollstreckte. In einem solchen Fall verweigert die Generalstaatsanwaltschaft, die jetzt Memorials „Liquidierung“ will, die Herausgabe der Namen von elf Staatsanwälten, die Menschen ohne deren Wissen und in Abwesenheit zum Tode verurteilten, da es sich um sensible persönliche Daten handele.
Solche Fälle betreffen potenziell die Nachfahren vieler Millionen Russen. Im Land ist eine Welle der Solidarität entstanden; am Samstag nahm die Polizei zwölf Unterstützer fest, die es wagten, im Zentrum Moskaus Mahnwachen gegen die drohende Auflösung Memorials abzuhalten. Im Internet erzählen zahlreiche Russen, wie Memorial ihnen half, das Schicksal von Verwandten aufzuklären. Betroffen sind auch Hunderttausende Familien außerhalb Russlands, denn Nachfahren der Opfer leben in vielen Ländern.
So hat Memorial etliche Ableger, auch in Deutschland. Von dort kommen nun besonders viele Aufrufe gegen die Auflösung, von dort wird Memorials Arbeit seit Langem auch finanziell unterstützt; für viele deutsche Politiker gehört ein Besuch bei Memorial zum Moskauer Pflichtprogramm. Daher sieht der Publizist Maxim Trudoljubow hinter dem Vorgehen gegen die „Geisel“ Memorial einen bewussten Schlag gegen Berlin, dem der Kreml unter anderem die Rettung des vergifteten Oppositionsführers Alexei Nawalny (für den sich auch Memorial einsetzt) übelnimmt.
Ratschinskij hegt Hoffnung: In Russland schwiegen zwar Mitarbeiter staatlicher Strukturen zur Solidarisierungswelle, unterstützten aber die Generalstaatsanwaltschaft auch nicht. „Sogar sie verstehen, dass eine Grenze erreicht ist.“
Eine Auflösung von Memorial würde „für die ganze Welt ein klares Zeichen darstellen, auf welcher Seite die aktuelle Macht steht“, auf der Stalins oder dessen unschuldiger Opfer. Angesichts der Tragweite der Entscheidung ist Ratschinskij sicher, dass diese „nicht ohne Putin getroffen wird“.
Doch der Präsident setzt immer mehr auf alte Feindbilder. Schon 2014 musste der russische Ableger von Memorial einen Auflösungsantrag abwehren. Damals stieß sich das Justizministerium daran, dass die über das ganze Land verteilten Dutzende Gruppen der Bewegung nicht den Zusatz „Abteilung“ führten. Man änderte das, aber Ratschinskij ist überzeugt, dass damals nur die große Empörung half.
Wird jetzt Memorial International aufgelöst, müsste es laut Ratschinskijs Darlegung möglich sein, das Eigentum an den Moskauer Räumlichkeiten einer Organisation wie Memorial Russland zu übertragen, die formal nicht vom Antrag erfasst sei. Auch ein Forschungs- und Bildungszentrum, dem Archiv und Museum gehören, sei formal nicht von Auflösung bedroht. Dann könnten die Erinnerungsschätze bleiben, wo sie sind.
Ratschinskij fürchtet aber den Sieg der Willkür über das Recht: Memorial könne an die Anfangszeit der Bewegung zurückgeworfen werden, als das Archiv bei verschiedenen Leuten privat aufbewahrt worden sei, „nicht unter den Bedingungen, die es sein sollten“. Über soziale Netze böten Tausende Russen ihre Hilfe an. „Wenn die Notwendigkeit entsteht, werden sehr viele von ihnen einspringen. Und wenn es sein muss, fangen wir neu an.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 22.11.2021 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.
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