Russische Künstler und der Krieg
Intellektuelle und Kreative ringen um eine angemessene Reaktion auf den Angriffskrieg
Während sich im Westen schockierende Meldungen über russische Kriegsverbrechen häufen, zeigt sich die öffentliche Meinung in Russland noch weitgehend unbeeindruckt. Eine neue Umfrage kommt zum Ergebnis, dass 81 Prozent die „Aktionen der russischen Streitkräfte“ in der Ukraine unterstützen. Die Studie stammt vom renommierten Lewada-Institut, das als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt wird und keine wissenschaftliche Gefälligkeitsarbeit verrichtet.
Den Institutsdirektor, Lew Gudkow, überraschen diese Zahlen nicht. Er spricht von einem „organisierten Konsens“, der alle gesellschaftlichen Institutionen von der Schule über die Medien bis zu den Behörden umfasst. Er erklärt die hohe Zustimmung in erster Linie mit dem Fernsehkonsum der russischen Provinzbevölkerung, die seit Jahren einem antiukrainischen Trommelfeuer ausgesetzt ist.
Die staatliche Propaganda verbreitet immer dieselben Botschaften: Die Ukraine verfügt über keine eigene Geschichte und kann deshalb auch kein Nationalstaat sein. Die Regierung in Kiew unterdrückt die russischsprachige Bevölkerung im Donbass. Der Euromaidan ist eine CIA-Operation.
Auch der militärische Überfall auf die Ukraine wird mit ebenso einfachen wie absurden Erklärungen begründet: Selenskys Regierung besteht aus „Drogenabhängigen und Neonazis“. Russland beginnt keine Kriege, sondern beendet sie. Die ukrainische Armee besteht aus Rechtsradikalen, die keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen. Der Westen ist ein „Imperium der Lüge“, aus dem nur Fake News kommen.
Die Kriegsverbrechen von Mariupol, Butscha und Borodjanka werden in der russischen Propaganda nicht verschwiegen. Die Staatsmedien schieben die Mordaktionen allerdings „ukrainischen Nationalisten“ in die Schuhe. Als „Beweise“ werden prorussische Armbinden bei einigen Getöteten gezeigt.
Außerdem behauptet die russische Armee, die Massaker hätten erst nach ihrem Abzug aus dem Kampfgebiet stattgefunden. Jedoch belegen Satellitenaufnahmen und Augenzeugenberichte, dass die Leichen schon unter der russischen Besatzung auf den Straßen gelegen hatten.
Solche staatskritischen Informationen sind grundsätzlich in Russland verfügbar, vor allem über den Messengerdienst Telegram. Wer sich aus unabhängigen Quellen über den Krieg informieren will, kann das tun. Allerdings können die VPN-Kanäle nach dem Rückzug der westlichen Kreditkartenfirmen aus dem Russlandgeschäft nicht mehr problemlos bezahlt werden. Die Dichterin Maria Stepanowa warnt davor, dass die Blockierung russischer Kreditkarten die Wirkung der Staatspropaganda weiter verstärkt.
Universitäten: „Stützen des Staates“
Viele Intellektuelle zögern noch, sich im Krieg gegen die Ukraine zu positionieren. Eine Ausnahme bilden die Hochschulrektoren, die sich bereits Anfang März in einer servilen Erklärung hinter den Kreml stellten: „Es ist in diesen Tagen sehr wichtig, unser Land, unsere Armee zu unterstützen, die unsere Sicherheit verteidigt. Es ist wichtig, unseren Präsidenten zu unterstützen, der vielleicht die schwierigste Entscheidung seines Lebens gefällt hat, eine schmerzhafte, aber notwendige Entscheidung.“
Begründet wurde diese Loyalitätsadresse damit, dass die Universitäten schon „immer als Stütze des Staates“ gedient hätten. Der offene Brief wurde von mehr als dreihundert Rektoren unterzeichnet.
Die Motive für die Unterschriften sind unterschiedlich. Es gibt Wissenschaftler, die den Krieg in der Ukraine aus Überzeugung unterstützen. Dazu gehört etwa der stramm konservative Rektor der Moskauer Staatsuniversität, Wiktor Sadownitschi, für den etwa die Herrschaft Iwans des Schrecklichen eine goldene Epoche in der russischen Geschichte darstellt. Viele Rektoren haben die Erklärung aber auf Druck von oben unterschrieben, weil sie um ihr Budget fürchten.
In den Universitäten selbst tun sich Gräben auf. Die Politikwissenschafterin Irina Busygina von der Higher School of Economics kritisierte offen ihren Rektor, der seinen Namen unter den Brief gesetzt hatte. Sie warnte die Professorenschaft davor, sich dem „gemeinsamen Nenner“ anzunähern – dieser Prozess verlaufe schleichend und oft unbewusst.
Die Nowaja Gaseta, die Busyginas mutiges Interview veröffentlichte, erscheint mittlerweile nicht mehr. Ihr Chefredaktor, der Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow, wurde jüngst in einem Zug Opfer einer Farbattacke.
An der Moskauer Diplomatie-Eliteuniversität MGIMO gibt es keine einheitliche Haltung zum Krieg: Studierende und Mitarbeiter stellten kurz nach Kriegsbeginn eine Erklärung ins Netz, in der sie den russischen Einmarsch in der Ukraine in klaren Worten verurteilten. Wenig später veröffentlichten patriotische MGIMO-Studierende einen Aufruf an Wolodimir Selensky und forderten ihn zur Kapitulation auf.
Mittlerweile werden solche Auseinandersetzungen durch dröhnendes Schweigen überdeckt. Der Universitätsbetrieb soll nun nicht nur ideologisch kontrolliert, sondern aktiv gesteuert werden.
Der Wissenschaftsminister hat angekündigt, dass die akademischen Geschichtslehrbücher vereinheitlicht werden müssten: „Der Geist unserer Lehrmittel muss einer wichtigen Aufgabe folgen, nämlich den jungen Menschen Stolz über unsere Geschichte einzuimpfen. Sie müssen verstehen, dass sie einer über tausendjährigen Geschichte angehören und den Heldentaten und Erfolgen ihrer Ahnen nacheifern.“ Damit verhilft der Wissenschaftsminister einem neuen Verfassungsartikel aus dem Jahr 2020 zum Durchbruch, in dem der Schutz der „historischen Wahrheit“ festgeschrieben wird.
Die schreibende Zunft ist gespalten
Bei den russischen Autoren sind die Trennlinien bereits seit der Annexion der Krim 2014 klar. Ljudmila Ulitzkaja und Boris Akunin haben sich seit dem Überfall auf die Ukraine mehrfach zu Wort gemeldet. Ulitzkaja ist nach Berlin übergesiedelt, Akunin hält sich in London auf. Beide rufen gemeinsam mit der Crème der Gegenwartsautoren (Ganiewa, Ilitschewski, Sorokin u. a.) alle Russischsprachigen dazu auf, den Russen in Russland zu erklären, was in der Ukraine vor sich geht.
Akunin hat mit dem Balletttänzer Michail Baryschnikow und dem Ökonomen Sergei Guriew überdies eine Organisation mit dem programmatischen Namen „Das wahre Russland“ gegründet, die Flüchtlinge aus der Ukraine unterstützt.
Auf der anderen Seite haben mehr als zweihundert Schriftsteller in der Literaturnaja gaseta einen Unterstützungsbrief für Putin veröffentlicht. Allerdings gehören außer dem Science-Fiction-Autor Sergei Lukianenko alle Namen zur zweiten oder dritten Garnitur. Der Scharfmacher Zakhar Prilepin hatte bereits 2017 ein Buch mit dem Titel „Stoßtrupp“ veröffentlicht, in dem er russische Schriftsteller aus dem 18. Jahrhundert mit der Waffe porträtierte. Prilepin bezeichnet sich offen als Imperialist und fordert die Eroberung der gesamten Ukraine.
Schauspiel und Musik wenden sich ab
Einige berühmte russische Schauspielerinnen sind ins Ausland abgereist, allerdings ohne diesen Schritt zu kommentieren. Tschulpan Chamatowa hatte noch 2012 Putins Wiederwahl als Präsident öffentlich unterstützt. 2018 glänzte sie in der Fernsehserie „Suleika öffnet die Augen“, die nach dem Erfolgsroman von Gusel Jachina gedreht wurde. In dieser Serie findet sich eine unterschwellige Kritik an der patriotischen Geschichtspolitik des Kremls: Die stalinistische Kollektivierung wird als menschenverachtendes Verbrechen gezeigt, und die Spitzel tragen das Georgsband, das seit der Annexion der Krim als Erkennungszeichen der Putin-Fans gilt.
Nun befindet sich Chamatowa in Riga. Ihre Schauspielkollegin Renata Litwinowa ist nach Paris ausgereist und macht dafür medizinische Gründe geltend. Litwinowas Chef am berühmten Moskauer Künstlertheater, der Blockbuster-Star Konstantin Chabenski, hat die Aufführungen mit ihrer Beteiligung für die gesamte Saison gestrichen. Chabenski bezeichnet sich selbst als apolitischen Künstler.
Allerdings unterstützte er in der Vergangenheit den patriotischen Kurs des Kremls, indem er in Historienfilmen sein Gesicht russischen Helden lieh – egal, auf welcher Seite sie standen. So verkörperte er einen zarentreuen Admiral oder einen Rotarmisten, der einen Aufstand im Konzentrationslager Sobibor anführte. Nach dem russischen Angriff zeigte sich Chabenski als besorgter Künstler, der gerade unter widrigen Umständen „den Menschen, das Leben des menschlichen Geistes und den Wert des menschlichen Lebens“ auf die Bühne bringen müsse.
Unter den Pop-Musikerinnen haben Semfira und Alla Pugatschowa Moskau verlassen und warten im Ausland den weiteren Verlauf der Dinge ab. Semfira ist nach Paris gereist und hat ein Musikvideo „Schießt nicht“ veröffentlicht, das mit Bildern aus dem Krieg in der Ukraine unterlegt ist. Alla Pugatschowa befindet sich mit ihrem Mann, dem Entertainer Maxim Galkin, in Israel. Der Rapper Oxxxymiron stellt sich offen gegen den Krieg. Er organisiert im Ausland Benefizkonzerte und verdammt die „totale Zensur“ in Russland.
Die Reaktion der russischen Intellektuellen und Künstler erinnert an die Zeit nach der Oktoberrevolution 1917. Auch damals gab es laute Stimmen, die den Angriff auf die europäische Zivilisation verurteilten, auch damals gab es schweigsame Rückzüge aus dem öffentlichen Leben, und auch damals gab es intensive Debatten über die moralische Verpflichtung des Einzelnen in einer Kriegssituation.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 13.4.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung