Angst, das perfekte Gift
Bei der Lektüre von Sergej Lebedews neuem Roman drängen sich russische Anschlagsopfer ins Bild
Es war keine Wespe, die den Überläufer in den Nacken stach, „schmerzhaft wie die Spritze von einer unerfahrenen Krankenschwester“; es war ein Giftanschlag. Im ersten Kapitel seines jüngsten Romans „Das perfekte Gift“ erinnert Sergej Lebedew daran, wie russische Staatsfunktionäre mit Verrätern und anderen Staatsfeinden umzugehen pflegen. Das Opfer heißt bei Lebedew Wyrin, sein Publikum liest aber Skripal und Litwinenko – und natürlich Nawalny, obwohl das Buch im Original schon 2019 erschienen ist.
Lebedews Plot gleicht dem eines Kriminalromans: Seine Hauptfigur, ein Chemiker namens Kalitin, war dem Sowjetsystem treu ergeben:.„Sein Land war früher eines gewesen, das aller Bemühungen wert gewesen war, schon allein deshalb, weil es ebenbürtige Feinde gehabt hatte.“
Kalitin hatte in geheimer Mission etliche Giftstoffe entwickelt. Sein letztes Produkt, „das beständigste, das unmerklichste Präparat“, tötete seine Frau Vera, gewissermaßen bei einem unbeabsichtigten Wirkungstest im Labor. Ein winzige Menge war in ihren Schutzanzug eingedrungen. „Der Debütant tötete Vera augenblicklich. Es war das Erste, was er tat, als er auf die Welt kam. Er holte sich den Preis für seine Geburt.“
Der Giftstoff, war noch nicht vollständig dokumentiert, als die Sowjetunion zerbrach, als die Heimat ihn verriet, die Forschungen einstellte, das Personal nach Hause schickte. Kalinin flüchtet in den Westen, im Gepäck die Nachahmung des Flakon eines damals belieben Eau de Toilette für Herren, gefüllt mit dem Produkt, das er an geheimem Ort versteckt und wovon er niemandem berichtet.
Unerklärliche Todesfälle
Er wollte arbeiten, nun eben im Westen, doch sie verschmähten seine Dienste und stellten ihn kalt. Später liest er von „unerklärlichen Todesfällen“, Attentaten und Unfällen von Journalisten, Politikern, Deserteuren. Für ihn ist eindeutig erkennbar: Seine eigenen Präparate und solche von Konkurrenten waren eingesetzt worden. „Das Präparat befand sich in den richtigen Händen.“ Aber zurück kann er nicht. „Er wusste, dass man solchen wie ihm nicht verzieh.“
Als der Nachfolgestaat, in Person zweier langgedienter Generäle, Kalitin ins Visier nimmt, sind beide sich „bewusst, dass sich ihr heutiges Gespräch höchstwahrscheinlich zu einem Befehl verdichten würde, der von ganz oben sanktioniert, aber unausgesprochen bleiben und nicht im System der geheimen Schriftführung registriert werden würde“. Von diesem Tag an sucht ein FSB-Kommando unter der Führung von Oberstleutnant Scherschnjow Kalitin, um ihn, den Verräter, zu töten.
Und so erzeugt das Wissen um den Giftstoff auch beim „Schöpfer eines spurlosen Todes“ eine noch viel wirkmächtigere Waffe als jener selbst: Angst, „das perfekte Gift“. Denn mit Angst können Menschen kontrolliert und gelenkt werden, auch heute und in der Realität. Deshalb ist Swetlana Alexijewitsch zuzustimmen, wenn sie sagt: „Sergej Lebedew schreibt nicht über die Vergangenheit, das hier ist unsere Gegenwart.“
Das perfekte Gift
Übersetzt von Franziska Zwerg