Die Ursachen für Russlands Fehler
Boris Bondarev, ehemals Russlands UN-Botschafter in Genf, in Foreign Affairs November/Dezember 2022
Im Mai 2022 ist der russische Diplomat Boris Bondarev von seinem Posten an der UN-Mission in Genf zurückgetreten. Er tat dies aus Protest gegen den Überfall seines Lands auf die Ukraine. „Der Krieg zeigt, dass Russland nicht mehr nur ein diktatorischer und aggressiver Staat ist, sondern ein faschistischer“, schreibt er in einem langen Beitrag für Foreign Affairs. „Ich habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten gesehen, was geschieht, wenn eine Regierung sich langsam durch seine eigene Propaganda verbiegt.“
In Echokammern getroffene Entscheidungen seien nach hinten losgegangen: Die Annexion der Krim habe dazu geführt, dass die Nato gestärkt und geeint sei, die darauf folgenden Sanktionen hätten die eigene Armee mehr geschwächt als der Westen wahrnahm, ebenso die Wirtschaft. Aber Putin sei „so aggressiv und realitätsfern, dass ihn eine Rezession wahrscheinlich nicht aufhalten wird“. Sollte er in der Ukraine siegen, werde er wahrscheinlich einen weiteren postsowjetischen Staat angreifen, etwa Moldau.
„Es gibt also nur einen Weg, Russlands Diktator zu stoppen, und zwar das zu tun, was US-Verteidigungsminister Lloyd Austin im April vorgeschlagen hat: das Land ‚so weit zu schwächen, dass es nicht mehr die Dinge tun kann, die es getan hat beim Einmarsch in die Ukraine‘.“
Mit breiter Unterstützung der Nato sei die Ukraine in der Lage, Russland im Osten und Süden zu schlagen, so wie sie es im Norden getan hat. „Sollte Putin gehen, hat Russland die Chance, wirklich wieder aufzubauen – und endlich seinen Größenwahn aufzugeben.“
Was falsch lief
Bondarev versucht zu erklären, was in den Jahren nach dem Zusammenbruch der UdSSR geschehen ist. Viele Russen hätten geglaubt, der Westen werde ihrem Land beim Wandel in eine Marktwirtschaft helfen. Stattdessen habe der Westen den Kreml ermutigt, Preiskontrollen aufzuheben und staatliche Ressourcen zu privatisieren. Dadurch sei eine kleine Gruppe von Menschen sehr reich geworden, die Massen jedoch habe die sogenannte Schocktherapie in Armut gestürzt. „Das Land erlebte zwar eine Zeit der Demokratisierung, aber ein Großteil der Öffentlichkeit setzte die neuen Freiheiten mit Elend gleich. Das Ansehen des Westens in Russland litt dadurch schwer.“
Kritik übt Bondarenko auch am Feldzug der Nato gegen Serbien. „Für Russland erschienen die Bombenanschläge weniger wie eine Operation zum Schutz der albanischen Minderheit des Lands sondern wie eine Aggression einer Großmacht gegen ein winziges Opfer.“ Und so hätte sich Putin und von 2004 an Lawrow zunehmend gegen die Nato gestellt. Und weil die Ukraine der Nato beitreten wollte, hätten „die Nachrichtensprecher die Ukraine als ein böses Land beschrieben, das von den Vereinigten Staaten kontrolliert wird und seine russischsprachige Bevölkerung unterdrückt“.
Die Annexion der Krim sei von den Kollegen mit gemischten bis positiven Gefühlen begleitet worden. Schließlich sei die Krim Moskau kulturell näher als Kiew. Den Donbass zu besetzen sei schon eher ein „Kopfkratzer“ gewesen. Aber niemand habe es gewagt, dem Kreml sein Unbehagen mitzuteilen und darauf hinzuweisen, dass diese Politik Kiew dem Westen zutreibe.
Die folgenden Sanktionen hätten der russischen Wirtschaft ernsthaft geschadet. Sie hätten auch das Militär geschwächt, mehr als der Westen sah. Auch im Kreml sah das niemand, weil niemand diese Information dorthin trug. „Die Folgen dieser Ignoranz zeigen sich nun in der Ukraine: Die Sanktionen sind einer der Gründe, warum Russland mit seiner Invasion so viele Probleme hatte.“
Ein anderer liegt in einem System nach sowjetrussischem Muster voller Ja-Sager: Benebelt von der eigenen Propaganda und mangels Mut, auf Fehlentwicklungen hinzuweisen, kam es zur Massierung von Militär an Ukraines Grenzen und auf dem Gipfeltreffen im Januar 2022 zum Verlangen, die Nato solle alle Truppen und Waffen aus Staaten abziehen, die nach 1997 beigetreten waren; außerdem sollte die Nato ihre Türen für neue Mitglieder dauerhaft schließen.
Bondarev hielt das Papier in der Hand, auf dem diese Forderungen standen, und konnte es nicht glauben: „Ich nahm an, dass sein Autor entweder die Grundlagen für einen Krieg legte oder keine Ahnung hatte, wie die Vereinigten Staaten oder Europa funktionierten – oder beides.“ Doch dann erfuhr er die Herkunft des Dokuments: „Es kam direkt aus dem Kreml. Es war daher nicht zu hinterfragen.“
Noch habe er jedoch nicht an einen ausgewachsenen Krieg geglaubt. Aber er habe bemerkt, wie seine Kollegen sich Putins Zielen ergaben. Sie schauten den ganzen Tag die russische Propaganda im Fernsehen. „Es war, als wollten sie sich selbst indoktrinieren.“
Die Ukraine kann Russland besiegen
Das einzige, was Putin aufhalten könne, sei eine umfassende Niederlage. Dafür brauche das ukrainische Militär umfassende westliche Unterstützung. „Es ist möglich, dass die Ukraine die russischen Soldaten in den Teilen des Donbass besiegen kann, in denen beide Seiten seit 2014 kämpfen“, schreibt Bondarev.
In diesem Fall säße Putin in der Ecke. Auf eine Niederlage könnte er mit einem nuklearen Angriff reagieren, so Bondarev. „Aber Russlands Präsident mag sein luxuriöses Leben und sollte erkennen, dass der Einsatz von Atomwaffen einen Krieg auslösen könnte, der sogar ihn töten würde.“
Putin könnte sich auch zurückziehen und die Verantwortung für das Scheitern seinem Umfeld zuweisen. Das wiederum könnte Putin dazu bringen, seinen Mitarbeiterstab zu säubern, „was es für seine engsten Verbündeten gefährlich machen würde, ihn weiterhin zu unterstützen. Das Ergebnis könnte Moskaus erster Palastputsch seit dem Sturz von Nikita Chruschtschow im Jahr 1964 sein.“
Sollte Putin aus dem Amt geworfen werden, sei Russlands Zukunft äußerst ungewiss. Bondarev hält es für möglich, dass Putins Nachfolger den Krieg fortsetzt. Aber niemand in Russland sei von Putins Statur, „sodass das Land wahrscheinlich in eine Zeit politischer Turbulenzen eintreten würde. Es könnte sogar ins Chaos stürzen.“
Darüber könnte Russlands großes Nukleararsenal in ungewisse Hände geraten. „Die Russen könnten sich hinter einem noch kriegerischeren Führer als Putin vereinen und einen Bürgerkrieg, mehr Aggression von außen oder beides provozieren.“
Der Westen sollte also zweimal prüfen, wie er mit Russland verfährt. Wenn die Ukraine gewinnt und Putin fällt, sei es das Beste, Russland nicht erneut zu demütigen. Bondarev empfiehlt Unterstützung. „Durch das Angebot erheblicher Finanzmittel könnten die Vereinigten Staaten und Europa in einem Machtkampf nach Putin Einfluss gewinnen.“ Auf diese Weise könnte der Westen sein Verhalten aus den 1990ern vermeiden, „als sich die Russen von den Vereinigten Staaten betrogen fühlten, und es der Bevölkerung erleichtern, den Verlust ihres Imperiums endlich zu akzeptieren“. PHK