Putins Herrschaft der Henker

Die Basis für Putins totalitäre, repressive Herrschaft sind Militärs und Geheimdienstler

Putin Jelzin 7 5 2000 Vereidigung als Präsident
Lange vor dem Niedergang: Am 7. Mai 2000 wurde Putin als Präsident vereidigt, später setzte er KGB-Leute auf wichtige Posten in Politik und Industrie.

Ende 1999, als der kranke Boris Jelzin unter den Offizieren der Geheimdienste nach einem Nachfolger suchte, machte in Russland ein düsterer Witz die Runde. „Warum sind Kommunisten besser als der KGB“, war der Aufhänger. „Weil der Kommunist dir auf die Finger haut, aber der KGB dir den Kopf abschlägt.“ Eigentlich war es mehr Warnung als Witz. Leider haben das die meisten Russen nicht verstanden.

Im selben Jahr war Wladimir Putin, ein KGB-Mann, der inzwischen dessen Nachfolgeorganisation FSB leitete, zum Ministerpräsidenten ernannt worden. Kurz nach seiner Ernennung witzelte er angeblich mit seinen ehemaligen Kollegen vom FSB: „Die Infiltration der höchsten Regierungsebene ist geglückt.“ Auch da hätten schon die Alarmglocken läuten müssen – nicht zuletzt, weil Putin lange ein Bewunderer von Juri Andropow war, dem ehemaligen KGB-Chef, der die Sowjetunion für zwei lange Jahre mit eiserner Faust regiert hatte.

Angesichts des wirtschaftlichen und politischen Chaos nach dem Fall der Sowjetunion wünschten sich die Menschen Ende der 1990er-Jahre Stabilität und waren dafür sogar bereit, den KGB wieder in die obersten Führungsetagen der Regierung zu lassen. Dies bot Putin, der im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählt wurde, die Chance, sich wie sein Vorbild Andropow Macht über alle Aspekte des russischen Systems und nicht zuletzt die Öl- und Gasindustrie und andere strategische Wirtschaftsbereiche zu sichern.

Geheimdienste wieder an der Macht

Putin fühlte sich von den privatwirtschaftlichen Moguln bedroht, die unter Jelzins chaotischer Präsidentschaft die Kontrolle über diese Industrien an sich gerissen hatten. Also besetzte er wichtige Posten stattdessen mit sogenannten Silowiki – Vertretern des Militärs und der Geheimdienste wie die ehemaligen KGB-Agenten Igor Setschin und Sergei Tschemesow.

Wie konnten die Erben der Organisation, die unter Joseph Stalin in den dreißiger und vierziger Jahren so viel Terror verbreitet hatten, im 21. Jahrhundert wieder an die Macht kommen? Schließlich stand der KGB nach der Entstalinisierung unter Nikita Chruschtschow in den 1950er-Jahren und Michail Gorbatschows Perestroika Ende der Achtziger selbst in den Augen seiner eigenen Agenten schon mit einem Bein im Grab. Unter Gorbatschow hatte Putin wie viele andere den Dienst quittiert, weil er glaubte, der Geheimdienst sei Geschichte.

Das änderte sich jedoch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Wie sich zeigte, kam der KGB besser mit dem Übergang zum Kapitalismus zurecht als jede andere sowjetische Organisation. Seine Agenten waren amoralisch, pragmatisch, gut vernetzt, an ungeregelte Arbeitszeiten gewöhnt und sehr geübt im Fach der eigennützigen Manipulation.

Dazu kommt, dass die Sicherheitsorganisationen des Staates nie aufgelöst wurden. Der KGB hatte nicht nur Gorbatschow, sondern in einer – erheblich entschärften und in FSB umgetauften Version seiner selbst – auch Jelzin überlebt. Russische Staatschefs, liberal oder nicht, haben sich zum Machterhalt immer auf die Geheimdienste gestützt. Der Unterschied unter Putin (und unter Andropow in Sowjetzeiten) war nur der, dass Vertreter dieser Dienste selbst Macht ausübten.

Für Putin war die Stärkung der staatlichen Sicherheitsorgane eine Versicherung gegen Unruhen wie die im Jahr 1991, die dem ein Ende setzten, was er das „historische Russland“ nennt. Und Putin ist sehr stolz auf die Stabilität des politischen Systems, das er aufgebaut hat, wenn auch ohne Frage mit Hilfe hoher Energiepreise und des relativ kompetenten Managements mancher Silowiki.

Allerdings ist der Aufbau eines Systems eine Sache, ihr Erhalt eine ganz andere. Putins Vorstellung von der Leitung seiner Schöpfung ist in der Verfassungsänderungen verkörpert, die in der gefälschten Volksabstimmung von 2020 verabschiedet wurden und ihm nicht nur ein rechtliches Schlupfloch für viele weitere Jahre an der Macht bieten, sondern auch den idealen russischen Bürger definieren: ein Patriot, dessen Loyalität vor allem dem Staat gilt.

Die neue Rolle der Geheimdienste

Diese Vorstellung sieht auch für die Geheimdienste eine neue Rolle im Staatsapparat vor. Früher hatte Putin auf Silowiki wie Setschin und Tschemesow gehört und sogar wichtige Aufgaben an Vertraute delegiert. Heute diktiert er die Politik ohne alternative Meinungen anzuhören und delegiert deren Umsetzung an seine technokratische Regierung unter Führung des roboterhaften Ministerpräsidenten Michail Mischustin. Die tägliche Macht liegt mehr als jemals zuvor in den Händen von Sicherheitsorganen wie der Föderalen Aufsichtsstelle im Bereich Bildung und Wissenschaft Rosobrnadsor, den Sondereinheiten des föderalen Strafvollzugs und dem Föderalen Dienst für die Aufsicht im Bereich der Informationstechnologie und Massenkommunikation Roskomnadsor.

Diese neuen Säulen des staatlichen Kontrollapparats sind unpersönliche Organe mit nur einem Ziel: den politischen Raum von allem Kremlkritischen – d. h. nach neuer Lesart Antirussischem – zu säubern und jeden zu bestrafen, der nicht genug „Loyalität“ zeigt. Anders als die Silowiki geben sie Putin weder Ratschläge für die Lösung der Probleme, denen Russland gegenübersteht, noch geben sie zu, wie wichtig internationales Engagement für die innere Entwicklung Russlands ist. Stattdessen verfolgen sie blind Putins Ziel der totalen Kontrolle über Russland um jeden Preis.

Alexei Nawalny, der inhaftierte Anti-Korruptions-Anwalt und Oppositionsführer, glaubt, dass der Kreml mit dem Angriff auf die Ukraine vor allem vom sinkenden Lebensstandard ablenken und die Bevölkerung in einer patriotischen Aufwallung hinter sich scharen will. Noch grundsätzlicher werden mit dem Krieg jedoch die FSB-Leute, die in Putins ersten Regierungsjahren an die Macht gekommen sind, nun endgültig verstoßen und die Dominanz der namenlosen russischen Geheimdiensttechnokraten bestätigt – der wahren Erben des KGB. Putin bleibt natürlich an der Spitze, das neue System ist schließlich auf ihn zugeschnitten.

Die totale Repression

Die beängstigenden Folgen dieser Machtverschiebung sind in Russland heute überall zu spüren. Seit Beginn von Putins „spezieller Militäroperation“ in der Ukraine wurden bereits 15 000 Menschen, die gegen den Krieg protestierten, verhaftet, darunter mehr als 400 Minderjährige. Unabhängige Medien wurden gesperrt oder aufgelöst und ausländische Medienvertreter haben keine andere Wahl als das Land zu verlassen. Äußerungen über den Krieg, die nicht den offiziellen Meldungen des Verteidigungsministeriums entsprechen, können mit 15 Jahren Gefängnis bestraft werden.

In dieser Atmosphäre der totalen Repression, die bereits mit der Stalinzeit verglichen wird, geben die Russen, die noch nicht geflohen sind, klein bei. Inzwischen unterstützen gut 80 Prozent der Russen die „Operation“ in der Ukraine. Das ist nicht überraschend. Die gesichtslosen Henker herrschen wieder über Russland.

Copyright: Project Syndicate 2022

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