Alles über Nawalny
Eine aufschlussreiche Biografie über helle und dunkle Seiten des Alexei Nawalny
In einem etwas wirren Aufsatz des inhaftierten russischen Oppositionellen Alexei Nawalny, den die Frankfurter Allgemeinen am 20. August 2021 erscheinen ließ, war zu lesen: Putin ist der „moralische Führer aller Korrupten der Welt“; und „Putins Oligarchen“ seien „keine ‚Businessmen‘, sondern Führer organisierter Verbrechergruppen“.
Im Wesentlichen ging es darum, die Welt endlich von Korruption zu befreien. Nawalny führt aus, wie das zu geschehen habe und dass „die westlichen Rechtssysteme den korrupten Personen aus dem Ausland sogar noch die Begünstigungen garantieren“, nämlich die Benutzung westlicher Finanzinfrastruktur. Es fehle an politischem Willen, das Übel zu beheben, mehr noch: die Wurzel allen Übels. Denn es sei doch so: „Flüchtlingskrisen werden von Armut ausgelöst, und letztere fast immer von Korruption.“ Deshalb müsse die Korruption „von einer Quelle sagenhafter Möglichkeiten in eine schwere Last verwandelt werden“.
Gut, dass die Autoren einer eben erschienenen Biografie mit dem Titel „Nawalny“ differenzierter mit ihrem Forschungsgegenstand umgehen. „Das Schwarz-Weiß-Denken aus dem Kalten Krieg bestimmt noch immer das westliche Russland-Bild“, schreiben die Wissenschaftler Jan Matti Dollbaum (Universität Bremen), Morvan Lallouet (Sciences Po, Paris) und Ben Noble (University College, London). Und ergründen dann in einem binnen sehr wenigen Monaten verfassten Werk angenehm unaufgeregt und differenziert die Frage: „Wer ist Alexei Nawalny?“
Antikorruptionskämpfer, Politiker, Straßenaktivist
Das Buch will Licht ins Dunkle bringen, wo es noch Dunkles gibt bei Alexei Nawalny. Die Autoren unternehmen das in drei von sechs Kapiteln mit den Titeln: Der Antikorruptionskämpfer, Der Politiker, Der Straßenaktivist. Dort führen sie aus, „wie aus dem Menschen Nawalny die Bewegung Nawalny wurde“, wie er Freiwillige anzieht und auch eine beträchtliche Zahl von Menschen in seinem Wahrheitsunternehmen einstellt.
Alles ist drin, was aus der Berichterstattung bisher bekannt ist, seit 2010 im Westen Nawalnys Promotion zum Popstar beginnt. Eine Reporterin des New Yorker befand damals, er sei „blond und großgewachsen“, er gebe „eine bemerkenswerte Figur ab“. In der New York Times hieß es ein Jahr später, der „prominente Blogger“ habe „blaue Augen, gutes Aussehen und einen beißenden Humor“.
Außer durch körperliche Vorzüge macht er sich schon zu dieser Zeit als Blogger einen Namen, als Korruptionsjäger und Freund der einfachen Leute, die sich über Schlaglöcher auf ihren Straßen beschweren; als einer, der illegale Bauprojekte aufdeckt. Vergessen wird auch nicht zu erwähnen, dass Nawalny die gleichgeschlechtliche Ehe unterstütze, obwohl er ein eher traditionelles Bild von Familie pflegt und gläubig sei (allerdings selten eine Messe besucht). Und wer es noch nicht wusste, erfährt, dass es Nawalny war, der Wladimir Putins Partei Einiges Russland das Label „Partei der Gauner und Diebe“ anklebte.
Das Buch berichtet über seine vergeblichen Anträge zur Kandidatur bei diversen Wahlen bis hin zur Präsidentschaft (nur an der Bürgermeisterwahl in Moskau durfte er teilnehmen). Natürlich werden die Vergiftung und der Weg in die Haft noch einmal erzählt. Auch über die Villen der Bonzen ist zu lesen, über den zig-millionenfach geklickten Film von Putins Palast mit den goldenen Klobürsten. Dass er und seine Organisation unter dem „Agentengesetz“ zu leiden hatte wird gewürdigt und seine listige Initiative für smart voting.
Nawalnys dunkle Seite
Das alles sind beeindruckende Leistungen und Initiativen. Aber die Autoren wenden sich gegen Medienberichte, in denen Nawalny als Freiheitskämpfer gefeiert und mit Nelson Mandela oder Alexander Solschenizyn verglichen wird; sie „verunklaren eher das Bild“.
Denn da ist Nawalnys andere Seite, die dunkle, verstörende. Sie ist geeignet, selbst bei Wohlmeinenden den Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Putinverstehers und -herausforderers zu schüren.
Im vorigen Jahr ernannte Amnesty International (AI) ihn zum prisoner of concience („Gewissensgefangenen“, bei der deutschen Sektion von AI übersetzt als „gewaltloser politischer Gefangener“) und nimmt das wenig später zurück, weil problematische Äußerungen aus der Vergangenheit bekannt geworden sind, die AI als „nahe an der Grenze zu Hass und Hate Speech“ bewerte: seine rassistischen Bemerkungen über Migranten und über Kaukasier. In einem Spot werden Kakerlaken und Fliegen als „widerliches Ungeziefer“ bezeichnet, derer man mit einer Fliegenklatsche Herr werden könne; nach Einblendung eines tschetschenischen Terroristen stürmt ein Kaftanträger ins Studio, den Nawalny „erschießt“, bevor er sagt: „In diesem Fall empfehle ich eine Pistole.“
Auch sein „Flirt mit dem Nationalismus“ kommt bei AI nicht gut an. Als Politiker hatte Nawalny zuerst bei den wirtschaftsliberalen Partei Jabloko anheuert, sich dann aber ins Fahrwasser von Marine Le Pen und der österreichischen FPÖ begeben. Er glaubte, so die Massen gewinnen zu können, und reihte sich bei „Russischen Märschen“ ein, unter Monarchisten und Rechtsextremisten.
Und über die Zukunft der Krim hatte Nawalny so schnell eine klare Vorstellung wie Christian Lindner: Die Krim werde Teil Russlands bleiben und auch in absehbarer Zeit nicht wieder ukrainisch werden.
Heute sieht Nawalny sich als Liberaler, als Demokrat, westorientiert und dem freien Markt verpflichtet. Er habe aber, so die Autoren, „kaum Probleme mit den autoritären Tendenzen der Jelzin-Regierung“ gehabt und dessen Reformen unterstützt – trotz des Leids, das sie den Schwächsten der Gesellschaft zufügten. Später allerdings habe er das bereut „und zugegeben, dass es Reformer wie er waren, die den Samen für Putins autoritäre Herrschaft säten“.
Nawalny war und ist eine widersprüchliche Figur. Er sei „ein Liberaler, der nationalistische – sogar rassistische – Erklärungen abgegeben hat“, heißt es im Buch. „Er ist ein Antikorruptionsaktivist, der selbst wegen Unterschlagung verurteilt worden ist. Er ist ein russischer Patriot, der aber zu internationalen Sanktionen gegen russische Behörden aufruft. Er ist ein bekennender Demokrat, der seine Bewegung mit starker, autoritärer Hand führt. Nawalny will, dass Russland ‚glücklich‘ ist, greift seine Gegner jedoch mit zynischen Kommentaren an und ist nur selten zu Kompromissen bereit.“
Sie nennen ihn „sprunghaft und opportunistisch“, was aber dem Ziel geschuldet sei: „dem Kampf gegen ein autoritäres System, das sich der Korruption und der Repression bedient, um seine Macht zu sichern“.
Wer sind Nawalnys Unterstützer?
Nawalny hat über Jahre eine große Gefolgschaft hinter sich gebracht. Wer sind diese Menschen?
Männer sind in Nawalnys Organisation überrepräsentiert, schreiben die Autoren, sie machten zwei Drittel der Gruppe aus. „Männer brachten ihre Unterstützung für Nawalny offener zum Ausdruck.“
Das Team Nawalny bestehe aus Menschen, die finanziell durchschnittlich etwas bessergestellt seien als die Menschen auf dem Land, aber schlechter als die in den Städten. Die meisten seien „klassische Wirtschaftsliberale“, pro Privatwirtschaft, aber eine Verpflichtung des Staats zur Hilfe für Bedürftige sehen sie schon. Sie befürworten einen „sozialverantwortlichen Kapitalismus“ und natürlich Rechtsstaatlichkeit.
Sie seien „nicht nationalistischer oder fremdenfeindlicher als die übrige russische Bevölkerung“, und wie unter Russinnen und Russen insgesamt habe ein Drittel „nicht gern Arbeitsmigranten als Nachbarn“. Einheitlich sei die politische Überzeugung der Gefolgschaft allerdings nicht, auch wenn Nawalny seine Organisation mit harter Hand zu leiten scheint. Nawalny, so steht’s im Buch, sei nicht getragen von einem „Heer von treu ergebenen, unkritischen Befürwortern und Bewunderern“.
Woher kommt die Zustimmung für Putin?
Und was ist aus dem Buch zu erfahren über Nawalnys Gegner, den russischen Präsidenten Wladimir Putin? Auch da ein durchaus abgewogenes, faires Urteil: Jenseits der berechtigten Vorwürfe wegen offenkundiger Vergehen des russischen Präsidenten (Krim, Ostukraine, Verfolgung politischer Gegner etc.) vergessen die Autoren nicht den Hinweis, dass es unter Putin zu „greifbaren Verbesserungen der Lebensbedingungen“ gekommen sei, was ihm viele loyale Anhänger gebracht habe.
Erinnert wird auch daran, dass die Oligarchen nicht unter Putin, sondern unter Jelzin den Staat gekapert und sich bereichert hätten; Putin sei gegen sie vorgegangen und habe mit Chodorkowski „ein Exempel statuiert“. Das habe vielen Russen gefallen, auch wenn die Vereinbarung lautete: „Du darfst dich persönlich bereichern, manchmal auch auf Kosten des Staates, solange du dein Geld und deinen Einfluss nicht dafür benutzt, die politische Ordnung herauszufordern.“
Putin habe sich nie den Rechten gebeugt, die „Russland den Russen“ brüllten, sondern immer den multinationalen Charakter Russlands betonte. Und er habe seine Heimat nicht nur beschützt, „sondern er stellte auch die wahre Größe des Landes wieder her“ – aus Sicht vieler Russen ein Verdienst.
Und deshalb beruhe seine Macht „auf der aktiven oder stillschweigenden Unterstützung einer Mehrheit von Bürgern“, heißt es bei Dollbaum, Lallouet und Noble. „Das russische politische Regime ist brutaler und autoritärer geworden, hat aber gleichzeitig auch hart daran gearbeitet, die Unterstützung der Russinnen und Russen zu gewinnen, emotionale Bindungen aufzubauen und Putin als Beschützer der Souveränität Russlands zu präsentieren.“
Das Urteil über Putin und dessen Politik bleibt also klar. Nicht so klar ist zu ergründen, was die Autoren über Nawalnys Zukunft sagen möchten. Bevor das Kapitel über „Nawalny und die Zukunft Russlands“ beginnt, schließt Kapitel fünf mit dem Satz: „Nawalnys Vergiftung und spätere Inhaftierung zeigen eindeutig, dass die staatlichen Stellen eine Entscheidung getroffen haben: Nawalny muss endgültig verschwinden.“
Nawalny. Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr, Stephan Kleiner, Stephan Pauli und Alexander Weber