Kampagne gegen Nawalny?
Wie es dazu kam, dass Amnesty International den Kreml-Kritiker degradierte
Nach Alexei Nawalnys Inhaftierung am 17. Januar 2021 stufte Amnesty International (AI) den russischen Oppositionellen als prisoner of conscience (POC, in freier deutscher AI-Übersetzung „gewaltloser politischer Gefangener“) ein. Am 23. Februar berichteten russische Medien, die Menschenrechtsorganisation habe diese Entscheidung zurückgenommen. Wie kam es dazu?
Im Gespräch mit BBC Russland sagte Natalia Zwyagina, Leiterin der russischen Amnesty-Vertretung, die Organisation sei durch Anfragen von Journalisten auf Aussagen von Nawalny aufmerksam geworden, die „nicht vollständig ignoriert werden“ konnten. Internationale AI-Experten hätten Nawalnys Aussagen überprüft, die 10 bis 15 Jahre alt seien. Sie lägen „nahe an der Grenze zu Hass und Hate Speech“, so Zwyagina. Es lägen mehrere Videos vor. „Ich würde ihren Inhalt nicht wieder senden wollen.“
POC ist laut AI, wer wegen seiner Rasse, seiner sexuellen Orientierung, seiner Religon oder politischen Ansichten inhaftiert ist. Weil das nicht mehr zusammenpasse, so Zwyagina, sei eine Entscheidung getroffen worden, auch weil Nawalny sich nie kritisch über seine Äußerungen gezeigt habe. Eine Pressemitteilung dazu gab es nicht.
Im Grundsatz aber bleibt AI dabei: Die Menschenrechtsorganisation betrachtet das Verfahren der russischen Justiz gegen Nawalny weiter als rechtswidrig. Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, nennt Nawalnys Verhaftung und Inhaftierung „willkürlich und politisch motiviert“ und fordert „bedingungslose Freilassung“. Die Drangsalierung der vielen friedlich demonstrierenden Menschen schließt er ausdrücklich ein.
Kampagne gegen Nawalny?
Zwyagina sprach von einer „Kampagne“, mit der nun versucht werde, die interne Klärung von AI „als politische Aussage zu interpretieren“. Auch russische Medien sprechen von der Möglichkeit einer gezielten Kampagne gegen Nawalny, an der mit dem russischen staatlichen Propagandasender RT verbundene Personen beteiligt sein sollen.
Konkret nannte Zwyagina Blog-Beiträge einer Journalistin aus New York namens Katya Kazbek, die Beiträge für die englischsprachige Internet-Seite von RT verfasst hat. Außerdem veröffentlichte Kasbek in einem eigenen Blog alte Videos von Nawalny.
Mediazona, ein von Pussy Riot-Mitgliedern gegründetes Internetportal, teilte mit, dass mindestens bei zwei Anfragen an Amnesty International Links auf einen Twitter-Beitrag von Kazbek verwiesen hätten, in dem sie Nawalny einen „Nationalisten und Rassisten“ nennt. Mediazona berief sich auf ungenannte Quellen bei Amnesty. Der Twitter-Account von Kazbek ist zurzeit geschützt, die Inhalte sind nur für ihre Follower sichtbar.
Laut eigener Internet-Seite ist Kazbek Chefredakteurin eines Online-Magazin für Filme, Musik, Kunst, Bücher und Essen. Auf der Seite creativetimereports.org wird Kazbek als Schriftstellerin geführt, die gerade an ihrem ersten Buch arbeitet. „Sie bloggt über Feminismus und LGBTQ für viele russische Medien. Zurzeit bloggt sie auf Englisch über Genderidentität in Russland.“
Für RT berichtete Kazbek allerdings über die Wahlen in den USA und die Demonstrationen in Belarus. Ein Beitrag von ihr heißt: „Minsker Proteste sind früheren Protesten in Moskau und Kiew ähnlich; Neoliberale und Nationalisten geben den Ton an, sozialistische Stimmen gedämpft.“ In ihren Texten für RT schreibt Kazbek, dass die Minsker Proteste vom Westen organisiert seien, um eine „Farbenrevolution“ zu initiieren.
Laut dem russischen Rechercheprojekt The Insider stammt Katya Kazbek aus Krasnodar und lebt in der USA. Kazbek ist ein Pseudonym, sie ist Tochter eines russischen Millionärs.
Was will Nawalny?
Wie aber konnte Amnesty in Russland bis 2021 Nawalnys politische Einstellung früherer Jahre verborgen bleiben?
„Die Partei hat keinen Platz für Sorgen über illegale Immigration und die Nöte ethnischer Russen“, sagte er 2011 in einem Interview mit dem Guardian. Liberale würden in Russland nie an die Macht kommen, prophezeite er, „weil sie nicht über die wirklichen Probleme reden“.
Vor kurzem verurteilte Grigori Jawlinski, der Nawalny 2007 aus Jabloko verbannt hatte, Nawalnys „Populismus“; er sei „sinnlos“, „antidemokratisch“ und „national-bolschewistisch“. Der „Protestaktivismus“ schaffe keine Perspektive für den demokratischen Aufbau, nur politische Gefangene.
Jawlinskis ehemaliger Stellvertreter Sergei Iwanenko nannte Nawalny einen „Nietzscheaner“ und „Militanten“. „Das demokratische Russland, die Achtung des Individuums, die Freiheit, das Leben ohne Angst und ohne Repression sind unvereinbar mit Nawalnys Politik.“
Siehe auch bei KARENINA: Wer ist Alexei Nawalny?