Kriegsgefangene: In Feindeshand

Warum Verurteilungen von Kriegsgefangenen in Russland und der Ukraine fragwürdig sind

von Marlene Grunert und Reinhard Veser
Genfer Konventionvon 1864. Wie sind Kriegsgefangene zu behandeln?
Wie sind Kriegsgefangene zu behandeln? Die Genfer Konvention von 1864 legte erstmals Regeln fest.

Russland will gefangene ukrainische Soldaten vor ein Tribunal stellen, die Ukraine ermittelt gegen mutmaßliche russische Kriegsverbrecher. Aber dürfen Kriegsgefangene überhaupt vor Gericht gestellt werden?

Der Chef des russischen Ermittlungskomitees hat große Pläne für ein internationales Tribunal über angebliche ukrainische Kriegsverbrecher. Als Teilnehmer neben Russland schlägt er Iran, Syrien und Bolivien vor. Gegen mehr als 400 Personen werde derzeit in etwa 1300 Strafverfahren ermittelt, sagte Alexandr Bastrykin Anfang der Woche der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta. Nicht alle davon sind schon in russischer Gewalt.

Doch Bastrykin, führende russische Politiker und Diplomaten haben seit Monaten bei verschiedenen Gelegenheiten deutlich gemacht, dass sie in Gefangenschaft geratene ukrainische Soldaten von einem Tribunal aburteilen lassen wollen. In der von Russland kontrollierten „Volksrepublik Donezk“ sind Mitte Juni zwei Briten und ein Marokkaner, die in der ukrainischen Armee gedient haben, zum Tode verurteilt worden.

Auch in der Ukraine sind schon russische Kriegsgefangene wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt und schuldig gesprochen worden. Mitte Mai erhielt ein Panzersoldat lebenslange Haft, weil er in einer Ortschaft im Nordosten einen unbewaffneten Zivilisten erschossen haben soll. Diese Strafe wurde von der Berufungsinstanz am Freitag auf 15 Jahre Haft verkürzt.

Kurz nach dem ersten Verfahren wurden zwei Artilleriesoldaten wegen des gezielten Beschusses einer Schule zu elfeinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Die ukrainische Staatsanwaltschaft gibt an, sie habe bereits Hunderte russische Soldaten identifiziert, die vor Gericht zu stellen seien. Aber wann ist das überhaupt zulässig?

Das Kriegsrecht schützt Kriegsgefangene

Das Vorgehen beider Seiten wirft neben rechtlichen auch politische Fragen auf. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selensky hat oft gesagt, dass kein Kriegsverbrecher ungestraft davonkommen dürfe. Doch das Verlangen nach Gerechtigkeit kann in einen Konflikt mit anderen Zielen geraten. Zu den wenigen direkten Kontakten, die zwischen der Ukraine und Russland noch bestehen, zählen schließlich Verhandlungen über den Austausch von Kriegsgefangenen.

Nach der Entlassung der Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa Mitte Juli berichteten ukrainische Medien, Selensky habe ihr die schnellen Prozesse vorgeworfen, weil sie seinem Ziel entgegenstünden, durch die Verhandlungen möglichst viele ukrainische Soldaten nach Hause zu holen. Um dieses Dilemma aufzulösen, hat das ukrainische Parlament am Donnerstag ein Gesetz beschlossen, das es erlaubt, bei russischen Soldaten auf Strafverfolgung zu verzichten, wenn sie ausgetauscht werden sollen.

Die Internetzeitung Ukrainska Prawda schrieb kürzlich unter Berufung auf einen ukrainischen Unterhändler, die Russen hätten nach den Urteilen gegen die russischen Soldaten gesagt: „Wenn das so ist, stellen wir alle Asow-Kämpfer vor Gericht, und ihr bekommt sie nach zehn Jahren zurück.“

Der bisher größte Gefangenenaustausch, bei dem beide Seiten je 144 Personen freigelassen haben, fand freilich Ende Juni statt, Wochen nach den ukrainischen Urteilen. Mehr als 6000 Ukrainer befänden sich in russischer Gewalt, gab das Verteidigungsministerium in Moskau am Tag des Austauschs an. Die ukrainischen Zahlen über russische Gefangene stagnieren seit den ersten Kriegswochen bei etwa 1000.

Neben Fragen der politischen Zweckmäßigkeit stellen sich in diesen Zusammenhängen auch rechtliche. Sie richten sich nach dem humanitären Völkerrecht, das bewaffneten Konflikten Regeln setzt. Dieses sogenannte ius in bello schützt auch Kriegsgefangene.

Normen zur Mäßigung des Leids

Seit es bewaffnete Auseinandersetzungen gibt, gibt es Normen zur Mäßigung des Leids. Im antiken Griechenland galten etwa Tempel und Priester als unverletzlich; gegenüber Gefangenen sollte Gnade geübt werden. In Europa entwickelte sich das Kriegsrecht maßgeblich nach dem Dreißigjährigen Krieg im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert weiter – unter dem Einfluss der Aufklärung und neuer staatlicher Strukturen. „Konnte zuvor jeder Kriege führen und waren die Soldaten ihrem jeweiligen Kriegsherrn persönlich verpflichtet, wurde die Austragung kriegerischer Konflikte nun zu einer ,öffentlichen‘ Angelegenheit“, heißt es bei dem Völkerstrafrechtler Gerhard Werle.

Unter der Prämisse, dass Angreifer und Angegriffener Staaten seien, veränderte sich der Blick auf das Individuum. In Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ von 1762 heißt es: „Der Krieg ist also keine Beziehung von Mensch zu Mensch, sondern eine Beziehung von Staat zu Staat, in der die Einzelnen nur durch Zufall Feinde sind, nicht als Menschen und nicht einmal als Bürger, sondern als Soldaten; nicht als Glieder des Vaterlands, sondern als seine Verteidiger.“ Kurz: Ein Staat könne nur andere Staaten zu Feinden haben, nicht Menschen.

In diesem Geist wurde im 19. Jahrhundert das moderne Kriegsrecht kodifiziert, dessen wichtigste Bausteine bis heute die Haager Abkommen von 1899 und 1907 sind. Hinzu kommen die vier Genfer Abkommen von 1949 und ihre Zusatzprotokolle von 1977 und 2005. Sie enthalten Vorschriften zum Schutz von Verwundeten, Zivilisten und Kriegsgefangenen; die Rede ist auch vom „Genfer Recht“.

Vergeltung an Kriegsgefangenen ist verboten

Der Umgang mit Kriegsgefangenen ist vor allem im Dritten Genfer Abkommen geregelt. Es definiert sie als Personen, die den Streitkräften einer Partei angehören und „in Feindeshand gefallen“ sind. Auch Mitglieder von Milizen und Freiwilligenkorps, die in die Streitkräfte „eingegliedert“ sind, zählen dazu. Zivilisten können unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls Kriegsgefangene sein, etwa wenn sie den Streitkräften folgen, ohne ihnen unmittelbar anzugehören. Das gilt etwa für Kriegsberichterstatter.

In dem Abkommen wird zunächst klargestellt, dass Kriegsgefangene nicht den Personen unterstehen, die sie festhalten, sondern dem feindlichen Staat. Das Recht will auf diese Weise vermeiden, dass Soldaten denen ausgeliefert sind, gegen die sie noch unmittelbar zuvor gekämpft haben. Zur Realität des Kriegs gehört, dass es sich vor allem um eine förmliche Unterscheidung handelt, deren praktische Bedeutung oft geringer ist.

Ähnlich verhält es sich mit Artikel 13 des Abkommens, wonach Kriegsgefangene jederzeit „mit Menschlichkeit“ behandelt werden müssen. Dazu zählen ärztliche Pflege und seelsorgerischer Beistand. Unter anderem heißt es in der Norm, Kriegsgefangene müssten jederzeit geschützt werden, „namentlich auch vor Gewalttätigkeit oder Einschüchterung, Beleidigung und öffentlicher Neugier“. Vergeltungsmaßnahmen sind verboten.

Die Ukraine und Russland werfen einander vor, gegen all diese Bestimmungen zu verstoßen. Beide sprechen von der Folterung Kriegsgefangener. Von russischer Seite kommen allerdings nur pauschale Behauptungen, während die Anschuldigungen, die von freigelassenen ukrainischen Soldaten erhoben werden, ausführlich und detailliert sind.

Auf Telegram-Kanälen russischer Kriegsreporter und auf viel gelesenen kremltreuen Internetseiten wie Russkaja Wesna („Russischer Frühling“) werden regelmäßig Videos von Verhören gefangener Ukrainer gezeigt. Sie sollen Behauptungen der russischen Propaganda belegen – etwa darüber, dass die Ukraine vom Westen gesteuert werde, dass die ukrainischen Streitkräfte Kriegsverbrechen begingen, dass ukrainische Soldaten unter Drogen gesetzt würden, dass die Kampfmoral in der ukrainischen Armee schlecht sei.

In manchen dieser Aufnahmen rufen die Gefangenen die ukrainischen Soldaten auf, sich zu ergeben. Spuren von Misshandlungen sind in diesen Videos in der Regel nicht zu sehen.

Zivilisten dürfen nicht Ziel sein

Vor allem in den ersten Kriegswochen veröffentlichten auch ukrainische Stellen Videos mit russischen Kriegsgefangenen. Manche zeigten, wie die Soldaten zu Hause anriefen, um ihren Eltern mitzuteilen, dass sie in Gefangenschaft seien und gut behandelt würden. Andere zeigten Verhöre, in denen Soldaten schilderten, wie sie von ihren Vorgesetzten in die Irre geführt worden seien – manche gaben an, erst unter Beschuss verstanden zu haben, nicht in ein Manöver geschickt worden zu sein.

Das Ziel dieser Vorführungen war offensichtlich: Zu jener Zeit hoffte die ukrainische Führung noch, sie könne auf die russische Gesellschaft einwirken und Stimmung gegen den Krieg zu machen. Diesem Zweck dienten auch die über das Internet verbreiteten Telefonnummern, über die sich Russen erkundigen konnten, ob ihre Verwandten in ukrainischer Gefangenschaft befänden oder ob ihre Leichname von den Ukrainern geborgen worden seien.

Anders als vor allem die russischen Prozesse vermuten lassen, dürfen Kriegsgefangene nicht einfach vor Gericht gestellt werden. Erlaubte Kriegshandlungen dürfen ihnen nicht persönlich zur Last gelegt werden. Hierzu zählen vor allem Kämpfe zwischen Kombattanten. Zivilisten dürfen dagegen nicht Ziel militärischer Angriffe sein, sofern sie sich nicht an dem bewaffneten Konflikt beteiligen.

Regelmäßig entstehen im Krieg allerdings „Kollateralschäden“, wie es dann heißt. Selbst wenn nur militärische Ziele angegriffen werden, trifft das häufig auch Zivilisten. Um hier Opfer zu vermeiden, schreibt das humanitäre Völkerrecht verschiedene Regeln vor.

Todesurteile in der „Volksrepublik Donezk“

Kombattanten, die sich an das Kriegsrecht halten, genießen Immunität. Das gilt auch für ausländische Kämpfer, die in eine Armee eingegliedert sind. Auch sie sind im völkerrechtlichen Sinne Kombattanten.

Etwas anderes gilt für Söldner – ein Begriff, den das erste Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen definiert. Söldner kann demnach nur sein, wer unter anderem diese Voraussetzungen erfüllt: Er muss im In- oder Ausland gegen eine überdurchschnittliche Vergütung für den Kampf angeworben worden sein und daran vor allem aus materiellen Interessen teilnehmen. Wer in die Streitkräfte einer Kriegspartei integriert ist, kann kein Söldner sein. Er darf auch nicht in einem von einer Konfliktpartei kontrollierten Gebiet leben.

Russland ignorierte diese Voraussetzungen, als im Juni in der „Volksrepublik Donezk“ die Briten Aiden Aslin und Shaun Pinner sowie der Marokkaner Saadun Brahim zum Tode verurteilt wurden. Abgesehen davon, dass die „Volksrepublik“ als völkerrechtlich nicht anerkanntes Gebilde kein Urteil sprechen kann und die Todesstrafe nach den zwei Zusatzprotokollen zur Europäischen Menschenrechtskonvention abgeschafft ist, hatten alle drei Männer schon vor dem Krieg in der Ukraine gelebt. Den Streitkräften gehörten sie auf Vertragsbasis an.

Russland vertrat dennoch die Auffassung, es handle sich um Söldner, für die das humanitäre Völkerrecht nicht gelte. Der russische Außenminister Sergej Lawrow wies internationale Kritik an den Todesurteilen mit dem Argument zurück, die drei Männer seien nach den Gesetzen der „Volksrepublik Donezk“ verurteilt worden, auf deren Gebiet sie ihre „Verbrechen“ begangen hätten. Die Anklage warf ihnen pauschal „Terrorismus“, die Tötung von Zivilisten und den Versuch des gewaltsamen Umsturzes in der „Volksrepublik“ vor.

Ob ihnen konkrete Taten zur Last gelegt werden, ist nicht bekannt. Wenn Kombattanten für erlaubte Kriegshandlungen verurteilt werden, gilt auch das als Kriegsverbrechen – erst recht, wenn dem Urteil kein faires Verfahren vorausging. Dafür sprechen in den Fällen von Donezk viele Indizien.

Vorwürfe auch gegen die Ukraine

Auch die ukrainischen Prozesse werfen Fragen auf. Dem Panzersoldaten, der zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist, wird vorgeworfen, einen ukrainischen Rentner erschossen zu haben. Im Raum stand damit zwar ein Kriegsverbrechen. Sowohl mit Blick auf das Verfahren als auch das Urteil der lebenslangen Freiheitsstrafe hat der Völkerrechtler Kai Ambos in FAZ Einspruch aber deutliche Kritik geäußert.

Unklar sei, wie es zum Geständnis des Russen gekommen, ob Druck ausgeübt worden sei. Auch über das Ermittlungsverfahren sei nichts bekannt. Dagegen wisse man, dass der Mann auf einen Befehl gehandelt habe, der möglicherweise nicht offensichtlich rechtswidrig gewesen sei, so Ambos. Im Raum habe die Befürchtung gestanden, dass das Opfer den Standort der russischen Soldaten bekannt geben würde.

Ambos kritisierte auch die Pläne der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, den Grenzübertritt russischer Soldaten individuell zu ahnden. Als Teil der „normalen Kombattantenaktivität“ sei das kein Kriegsverbrechen.

Das ändert freilich nichts daran, dass der von Russland begonnene Angriffskrieg  völkerrechtswidrig ist. Ambos rief in Erinnerung, dass der Internationale Strafgerichtshof die Taten aller Konfliktparteien unabhängig und unparteilich zu untersuchen habe.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 30.7.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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