Rohstoffe als Waffe

Droht Energieknappheit im Winter? Europa ist nicht ohnmächtig gegen die russische Energiewaffe

von Gerald Hosp
Mit Rohstoffen auf den Feind zielen: Gas als Waffe
Mit Rohstoffen auf den Feind zielen: Gas, Putins wirkungsvolle Waffe

Ein Jahr bevor Wladimir Putin als russischer Präsident in den Kreml einzog, verfasste er einen akademischen Artikel zur Bedeutung von Rohstoffen für Russland. „Der russische Rohstoffsektor bildet die Grundlage für die Verteidigungskraft des Landes. Eine hochentwickelte Rohstoffbasis ist eine notwendige Voraussetzung für die Wettbewerbsfähigkeit des militärisch-industriellen Komplexes des Landes und schafft die notwendigen strategischen Reserven und Potenziale“, heißt es dort. Ob Putin den Text selbst geschrieben hat, ist unklar. Unzweifelhaft ist, dass der Kreml-Herrscher diese Worte verinnerlicht hat.

Russland nutzt seinen Rohstoffreichtum als Waffe. Was bei Putin vor mehr als zwanzig Jahren noch verklausuliert klingt, tönt bei Alexei Miller, dem Chef des staatlichen Erdgaskonzerns Gazprom und Putin-Protégé, in einer Rede Mitte Juni klarer und gleichzeitig konfuser: „The game is over. Und warum? Weil die Nachfrage nach Rohstoffen die Nachfrage nach Devisenreserven ersetzt.“ Und: „Die Konturen einer neuen Wirtschaftsstruktur werden von Russland bestimmt.“ Wer der Herr über die Moleküle ist, der befiehlt demnach.

Gegenüber anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion war Moskau bisher schon nicht besonders zimperlich. Hier ein Gerichtsentscheid zu Umweltauflagen, dort ein technisches Malheur bei einer Pipeline, und schon konnten Kasachstan, Georgien oder die Ukraine unter Druck gesetzt werden. Dabei nutzte Russland nicht nur seine Rohstoffe, sondern auch seine Transportwege.

Für westliche europäische Staaten inszenierte sich Russland hingegen als zuverlässiger Lieferant mit langer Tradition: Auch in den heißesten Phasen des Kalten Krieges flossen Erdgas und Erdöl nach Europa.

Bestehende Langfristverträge würden stets eingehalten werden, hieß es immer aus Moskau und aus der europäischen Energiebranche. Das ist jetzt Makulatur. Bereits im vergangenen Jahr hat Gazprom mit zurückhaltenden Gaslieferungen den Preis für Erdgas in Europa und damit auch den Strompreis in die Höhe getrieben. Im Nachhinein mutet es wie eine Generalprobe an. Moskau achtete aber darauf, die langfristigen Verträge zu erfüllen.

Die Charade mit der Gasturbine

Lange Zeit diskutierte man darüber, ob sich Europa ein Erdgasembargo leisten könne. Diese Frage stellt sich nicht mehr. Vielmehr geht es darum, wie sich Europa auf einen völligen Lieferstopp Russlands vorbereiten kann.

Bereits seit Mitte Juni hat Gazprom die Gaslieferungen über die Ostseepipeline Nord Stream 1 gedrosselt. Wegen alljährlicher Wartungsarbeiten fließt jetzt für einige Tage gar kein Erdgas mehr. Derzeit spekuliert man in der Gasbranche gar, dass auch nach Ablauf der Wartung kein Gas mehr durch die Ostsee transportiert werde.

Gazprom macht für die Drosselung westliche Sanktionen verantwortlich, weswegen eine notwendige Gasturbine nicht geliefert werden könne. Das ist eine Charade. Zuvor waren es Rubelzahlungen, jetzt ist es die Turbine, morgen werden es Umweltschutzverstöße sein. Der Kreml wird immer einen Vorwand finden, warum kein oder weniger Erdgas geliefert wird.

Die russische Argumentation ist auch wenig plausibel, weil die übrigen zwei Hauptrouten ebenso weniger als früher bis gar nicht mehr genutzt werden. Die Absicht der Spielchen ist klar: Der Kreml hofft auf Uneinigkeit und Sanktionsmüdigkeit im Westen.

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass Gazprom weiterhin stark reduzierte Gasmengen liefern wird. Dadurch erhöht sich auch der Gaspreis, die Einnahmen sprudeln weiterhin. Gleichzeitig kann Moskau immer noch Panik unter den Europäern verbreiten.

Russland schneidet sich aber auch ins eigene Fleisch: Der Großteil seiner Gaspipelines ist auf Europa ausgerichtet. Eine starke Drosselung dürfte die Erdgasinfrastruktur deutlich beschädigen. Wenn die russischen Gasspeicher voll sind, müsste die Produktion eingestellt werden.

Die Logik der gegenseitigen Abhängigkeit ist aber zusammengebrochen. Putin setzt die Energiewaffe jetzt ein, weil deren Gefährlichkeit allmählich schwindet. Neben den Sanktionen gegen den russischen Erdölsektor haben die europäischen Länder angekündigt, sich aus der Abhängigkeit von Erdgas aus Russland loszueisen.

Damit hat sich das Kalkül des Kremls geändert: Wenn der ökonomische Schaden für die EU-Staaten hoch sein soll, müssen die Energielieferungen eher früher als später gestoppt werden. Putins Kassen sind noch so gut gefüllt, dass er nicht auf Kompromisse eingehen muss. Dies wäre wohl anders, wenn der Gaspreis stark fiele.

Gaskrise für neue Energiepolitik nutzen

Die große Frage wird sein, ob die europäische Solidarität mit der Ukraine einen kalten Winter überleben wird. Damit verknüpft ist auch die Einschätzung, ob die Sanktionen wirksam sind. Es war aber ohnehin illusorisch, zu glauben, dass die scharfen Maßnahmen den Krieg unmittelbar stoppen würden oder die Putin-Regierung gleich würden zusammenkrachen lassen.

Beispiele wie Iran oder Nordkorea zeigen gar, dass ein Regime durch die Restriktionen gestärkt werden kann. Doch die Sanktionen höhlen die russische Wirtschaft aus und schränken zumindest mit der Zeit die Möglichkeiten Russlands ein, gegen andere Länder aggressiv vorzugehen.

Europa hat es sich zu einem großen Teil selbst zuzuschreiben, dass es in diese missliche Lage geraten ist. Der heilige Gral der Energiepolitik ist es, Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit und Bezahlbarkeit unter einen Hut zu bringen.

Mit der Energiewende hat sich das Gewicht allzu sehr auf die Klimapolitik verlagert. Viele dachten, dass es mit den erneuerbaren Energien auch zu einer geopolitischen Dividende kommen werde, was sich in einer Phase des Übergangs als Illusion erwiesen hat. Versorgungssicherheit von Gnaden eines Autokraten ist keine Versorgungssicherheit.

Die westlichen Länder müssen sich dem Erpressungsversuch Moskaus deshalb nicht nur wegen des brutalen Kriegs in der Ukraine entgegenstemmen, auch wenn dieser Grund schon ausreichen würde. Es gilt, Russland und anderen Petrostaaten klarzumachen, dass der Westen für Öl und Gas nicht seine Seele verkauft.

Darüber hinaus muss auch für die Energiewende auf Rohstoffe aus „schwierigen“ Ländern zurückgegriffen werden. Bevor die Welt in neue Abhängigkeiten bei Kobalt, Lithium oder seltenen Erden schlittert, gilt es auch hier, die Rohstoffversorgung strategischer anzupacken und sich nicht erpressbar zu machen.

Nur weil man dies in der Vergangenheit verpasst hat, heißt dies nicht, dass man Rohstoffmächten für immer und ewig ausgeliefert ist. Vielmehr gilt es, die Gunst der Stunde zu nutzen. Der Erdölpreisschock in den 1970er-Jahren war ein Weckruf in Sachen Erdölabhängigkeit: Im Nachgang erhöhten die Industrieländer die Energieeffizienz und fanden neue Quellen wie Erdöl aus der Nordsee. Die Gaskrise sollte ein Katalysator für eine neue Energiepolitik sein.

Mit Kreativität gegen Rohstoff-Autokraten

Dabei muss allerdings vermieden werden, im Energie- und Rohstoffsektor in die Falle einer Planwirtschaft zu geraten. Böse könnte man sagen: In komplexen Systemen wie der Energieversorgung muss man sich schon gezielt verplanen, um schließlich doch noch ans Ziel zu kommen. Damit Rohstoffländer ihre Bodenschätze weniger als Waffen einsetzen können, gilt es die Reserven für strategische Güter auszubauen, mehr Flexibilität in das Energiesystem einzubauen und die Zahl der Energiequellen, Energielieferanten und Transportwege so groß wie möglich zu halten.

Marktwirtschaftliche Prinzipien sollten auch dabei im Vordergrund stehen, um die kurzfristigen Probleme abzufedern: Zunächst sollen Preise ihre Signalwirkung entfalten können. Eine Studie der Hertie School zeigt, dass die Endkonsumenten und die Industrie in Deutschland bereits auf die hohen Erdgaspreise mit einer geringeren Nachfrage reagiert haben. Die Gas- und Stromverbraucher sollten deshalb nicht vor hohen Preisen geschützt werden, soziale Härten gilt es durch direkte Transfers auszugleichen, nicht durch künstliche Preisobergrenzen. Außerdem sollten vermehrt Märkte fürs Energiesparen und für Reservekapazitäten etabliert werden.

Die Politik muss auch dem Reflex widerstehen, ein Füllhorn von Subventionen auszuschütten und bürokratisch zu entscheiden, wie die Energiezukunft aussehen soll. Statt zu fördern, sollten vor allem Hindernisse für die Entwicklung und die Einführung neuer Energieformen und Technologien aus dem Weg geräumt werden. Denn nur mit Freiräumen kann die unübertroffene Ressource genutzt werden: Diese sind der Mensch und seine Kreativität.

Das ist der größte Trumpf liberaler Demokratien gegen die Gas- und Ölwaffe. Es wird nicht zum Schreckensszenario eines Zusammenbruchs der westlichen Wirtschaften kommen. Rohstoff-Autokraten werden dies nie verstehen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 16.7.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

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