Russlandgeschäfte: Der Zwang zum Ausstieg
Unternehmen unter Druck: Rückzug aus Russland wegen des Kriegs gilt als moralisch richtig
Es ist auch eine Frage der Moral. Seit dem Überfall auf die Ukraine gilt Russland als Schurkenstaat. Westliche Unternehmen verlassen in großer Zahl das Land, aus ökonomischer Notwendigkeit, aus Sorge um ihren Ruf in der Öffentlichkeit und ihre Marke – oder eben weil sie es als ihre moralische Pflicht betrachten. Die amerikanischen Ketten McDonald's und Starbucks schließen ihre russischen Filialen, die Lufthansa wartet keine Flugzeuge mehr in Moskau und Sankt Petersburg, Siemens zieht sich ganz aus dem Russlandgeschäft zurück, und das nach 170 Jahren Präsenz.
Es gibt aber auch viele Unternehmen, die die moralische Frage nach dem 24. Februar anders beantwortet haben und in Russland geblieben sind, trotz allem. Sie haben es schwer in der westlichen Öffentlichkeit, vor allem wenn sie über eine bekannte Marke verfügen.
Wie etwa die mittelständische Alfred Ritter GmbH & Co. KG aus Waldenbuch bei Stuttgart, die ihre Schokolade mit Namen „Ritter Sport“ auch in Russland vertreibt und damit dort zehn Prozent ihres Umsatzes macht. Als in der Öffentlichkeit bekannt wurde, dass Ritter trotz des Kriegs in Russland bleiben möchte, brach ein Sturm der Entrüstung über das Management los.
„Quadratisch. Praktisch. Blut“, verballhornte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk den Werbeslogan der Marke auf Twitter. Als Reaktion auf die Kritik teilte Ritter mit, dass man alle Investitionen in Russland gestoppt habe, dass man die in Russland erzielten Gewinne spenden werde und dass es auch um die Interessen der kleinen Kakaobauern im Süden gehe, deren Existenzen an Ritter hängen. Ein Rückzug aber sei nicht geplant.
Nun hängt es sicher nicht von deutscher Schokolade ab, ob Putin seinen Krieg in der Ukraine gewinnt. Auf jeden Fall richtet der Vertrieb von Ritter Sport weniger Schaden an als die vielen Milliarden Euro, welche die Deutschen auch heute noch für russisches Erdgas zahlen. Aus moralischer Sicht kommt es darauf aber möglicherweise gar nicht an.
Zwang zum Bekenntnis
Zum Beispiel, wenn man Jeffrey Sonnenfeld folgt. In einem Gastbeitrag, den der Professor für Management an der Universität Yale und sein Co-Autor Steven Tian in der New York Times veröffentlichten, heißt es: „Unser Ziel ist absolut, manche werden sogar sagen: extrem. Jedes Unternehmen mit einer Präsenz in Russland muss sich öffentlich dazu bekennen, sein Geschäft dort komplett einzustellen. Für Russen, die auf die dort produzierten Lebensmittel und Medikamente angewiesen sind, oder die dort einen Job haben, kann das hart sein. Aber wenn es nötig ist, Putin davon abzuhalten, unschuldige Ukrainer zu töten, dann müssen Unternehmen das tun.“
Sonnenfeld hat eine Liste von knapp tausend westlichen Firmen nach deren Verhalten in Russland kategorisiert (yalerussianbusinessretreat.com). Die Liste orientiert sich am System amerikanischer Schulnoten – von A (sehr gut, Unternehmen zieht sich zurück) bis zu F (ungenügend, Unternehmen gräbt sich in Russland ein). Unter A waren Ende Mai 334 Firmen gelistet, unter F waren es 344, darunter aus Deutschland Jägermeister, Infineon und Vaillant. Alfred Ritter bekam die zweitschlechteste Note D („Unternehmen kauft Zeit“).
Allein dass es diese Liste gibt, setzt die Firmen unter massiven Rechtfertigungsdruck. Moralisch richtig wäre nach Sonnenfelds Liste nur die radikale Lösung, der Rückzug aus Russland.
Aber ist das so einfach? Hier lohnt es sich, an den Kampf gegen das Apartheidsregime in Südafrika in den 1980er-Jahren zu erinnern. Das Ende der Rassentrennung begann dort 1990 mit der Freilassung des Bürgerrechtlers Nelson Mandela. Vorher jedoch hatte eine internationale Boykottbewegung lange und verbissen gegen die Apartheid gekämpft und einige amerikanische Unternehmen, darunter General Motors, zum Rückzug aus dem rassistischen Staat bewogen.
Der Boykott hat sicher zum Ende der Apartheid beigetragen. Aber waren die Investitionen aus den USA, Deutschland und anderen Ländern deshalb aus heutiger Sicht unmoralisch? Immerhin trugen sie dazu bei, dass das moderne Südafrika eine leistungsfähige Wirtschaft hat.
Gute und schlechte Gründe für Ausstieg
Investitionen in einem Unrechtsstaat können durchaus auch dessen Opfern nutzen, das zeigt das Beispiel Südafrika. Was das für den Umgang mit Russland bedeutet, diskutiert in diesen Tagen das Deutsche Netzwerk Wirtschaftsethik (DNWE). Im Forum des Netzwerks schreibt der Wirtschaftsethiker Joachim Fetzer von der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt über gute und schlechte Gründe bei der Entscheidung über die Zukunft des Russlandgeschäfts: „Zu den aus unternehmensethischer Sicht schlechten Argumenten gehört der reine Moralismus (‚Hauptsache, raus, egal wem man damit schadet!‘) oder der reine Ökonomismus (‚Das können wir uns nicht leisten.‘).“ Schlecht seien diese Positionen, „weil dabei eine Abwägung zwischen ethischen und ökonomischen Gründen nicht einmal versucht wird.“
In der jetzigen Situation brauchten Unternehmen eine „Zukunfts-Story“, eine positive Erzählung, mit der sie begründen könnten, warum es richtig ist, in Russland zu bleiben. Fetzer schlägt ein Gedankenexperiment vor: Stell dir vor, Putin ist nicht mehr im Amt und ein bisher unbekannter, vielleicht sogar oppositioneller Politiker regiert im Kreml. Wird man dann in einer völlig anderen Situation sein heutiges Handeln unter Putin erklären können? Gut möglich allerdings, dass sich angesichts des Kriegs bald nur noch eine einzige Option als wirklich integer erweisen könnte, das baldige Ende der Geschäftsbeziehungen. Und je länger das Sterben in der Ukraine dauert, desto weniger moralische Gründe gibt es, in Russland Geschäfte zu machen.
Um diese Abwägung zwischen ethischen und ökonomischen Gründen selbst allerdings kommt niemand herum, solange Deutschland Wirtschaftsbeziehungen zu Ländern unterhält, die weder demokratisch noch marktwirtschaftlich sind. Eine Globalisierung der Gleichgesinnten ist schwer vorstellbar, sie wäre nicht einmal wünschenswert, weil die Konsequenz in vielen Teilen der Welt Armut und Not wären.
Kaum jemand bezweifelt, dass in den Zeiten des Kalten Kriegs der Handel mit der Sowjetunion und Osteuropa ebenso wie der innerdeutsche Handel zur Entspannung beigetragen und die Lage der Menschen verbessert hat. Das galt auch für das Röhren-Erdgas-Geschäft von 1970 zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion, selbst wenn man heute erkennen muss, dass damals die fatale Abhängigkeit Deutschlands von russischer Energie ihren Anfang nahm.
Und wie weiter mit China?
An dieser Stelle muss nun auch von China die Rede sein. Die Volksrepublik hat für die deutsche Wirtschaft eine Bedeutung, die weder die Sowjetunion noch Russland je hatten. China war im vergangenen Jahr aus deutscher Sicht die wichtigste Importnation und das zweitgrößte Zielland deutscher Exporte. Sieben Prozent der deutschen Auslandsinvestitionen gehen nach China. Mehr und mehr chinesisches Kapital ist in Deutschland investiert. Gerade eben hat das chinesische Unternehmen Midea den Augsburger Roboterbauer Kuka komplett übernommen.
Möglicherweise stellen sich deutschen Unternehmern im Geschäft mit China bald ethische Probleme, die jene im Russlandgeschäft noch übertreffen. Wie etwa gehen deutsche Unternehmen in China mit der Unterdrückung der Uiguren in der Provinz Xinjiang um, wie mit der Zunahme der Repression im ganzen Land? Und was würde es für deutsche Unternehmen bedeuten, sollte China tatsächlich Taiwan überfallen, die Insel, die die kommunistische Führung in Peking offiziell als abtrünnige Provinz betrachtet?
Es braucht nicht viel Fantasie, um sich eine Situation vorzustellen, in der eine integre Position für westliche Unternehmen im Prinzip nur noch darin bestehen kann, auch China zu verlassen.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 30.5.2022 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München