Das Russlandgeschäft beenden?

Unternehmen mit Russlandgeschäft in der Bredouille: Verluste hinnehmen oder Image verlieren

von Joachim Fetzer
Joachim Fetzer zum Russlandgeschäft in Zeiten des Kriegs
Joachim Fetzer: Raus (aber nur) mit guten Gründen

Seit 24. Februar 2022 ist Krieg zwischen Russland und der Ukraine – in beiden Ländern sind viele deutsche Unternehmen aktiv. Jeder Konflikt hat eine komplexe Vorgeschichte. Aber eindeutig ist, wer den Krieg begonnen hat: die russische Seite. Für viele Unternehmen stellt sich die Frage – in Gestalt vielfältiger medialer Forderungen: Kann es eine Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen zur russischen Seite geben? Für die Wirtschafts- und Unternehmensethik stellt sich die Frage: Was ist unser Rat in dieser Situation?

Moral: Für Moralisten ist die Lage klar: Es gibt das Böse und es gibt das Gute. Man sollte für das Gute sein und nicht auf der Seite des Bösen stehen. Das Böse heißt jetzt Putin. Das Gute heißt ….? Wie genau? Und schon wird es schwieriger.

Ethik: Wenn Moral schwierig wird, kommt die Ethik ins Spiel. Die Ethik fragt nach Begründungen, nach guten Gründen. Es gibt gute und schlechte Gründe: Wenn Putin böse ist, dann ist alles, was gegen Putin ist, automatisch gut.

Das wäre ein schlechter Grund. Das Argument ist nämlich schon logisch falsch. Richtig wäre es nur, wenn Putin das einzig Böse auf der Welt wäre. Aber das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Beispielsweise könnte ein eskalierender Krieg selbst zu einem Teil des Bösen werden. Auch wäre ganz grundsätzlich zu fragen, ob und wann das Attribut „böse“ für einen Menschen angemessen ist. Ohne logisches Denken und ruhiges Nachdenken gibt es vielleicht Moral, aber keine Ethik.

Wirtschaftsethik: Kommt schließlich noch Geld ins Spiel, sind wir bei der Wirtschaftsethik. Hier geht es um all diejenigen Fragen, in denen ökonomische Vor- und Nachteile (für wen auch immer) mit gut und schlecht begründeten moralischen Ansichten in Berührung kommen. Muss ich wegen Putins Krieg in der Ukraine mein Russlandgeschäft beenden? Oder besser nicht? Das ist hier die unternehmensethische Frage.

Unternehmensethik: Gerade bei komplexen Themen ist es hilfreich, nicht alle Fragen gleichzeitig zu stellen. Die unternehmensethische Frage ist eine Frage, die zum Handlungsspielraum des Unternehmens gehört. Die Frage lautet nicht, ob die deutsche Regierung als Teil ihrer Außen-(Wirtschafts-)Politik deutsche Unternehmen zu einem Geschäftsstopp auffordern sollte. Die Frage lautet auch nicht, ob ein vom Embargo betroffenes Unternehmen versuchen soll oder darf, das Embargo zu umgehen. Sondern die Frage lautet, ob ein konkretes Unternehmen angesichts des russischen Angriffskriegs eigeninitiativ seine Aktivitäten in Russland aus unternehmensethischer Verantwortung in Frage stellen oder beenden muss.

Schlechte und weniger schlechte Gründe

Zu den aus unternehmensethischer Sicht schlechten Argumenten gehört der reine Moralismus („Hauptsache raus, egal wem man damit schadet!“) oder der reine Ökonomismus („Das können wir uns nicht leisten.“). Warum sind dies schlechte Gründe? Weil dabei eine Abwägung zwischen ethischen und ökonomischen Gründen nicht einmal versucht wird.

Als weniger schlechte Gründe erscheinen die vielfältigen Hinweise auf übernommene Verantwortlichkeiten: „Die Mitarbeiter in Russland nicht im Stich lassen“ oder „Die Menschen in Russland können nichts dafür“. Ehrenwerte Anliegen, aber im Konflikt schwache Gründe. Denn weil diese Anliegen immer richtig und immer wichtig sind, können sie sehr gut als Ausflucht dienen, um bittere Entscheidungen gar nicht erwägen zu müssen.

Am beliebtesten in der Liste der Moral-Ablehnungs-Argumente: „Das kostet Arbeitsplätze” und „Das wäre untreu gegenüber den Aktionärsinteressen“.

Natürlich haben Unternehmen immer auch Verantwortung für Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, Aktionäre. Diese Verantwortung nicht zu berücksichtigen, wäre falsch. Natürlich müssen sind diese zu berücksichtigen und sie sind sicher relevant für das „Wie“ und das „Wann“ harter Entscheidungen. Aber beim „Ob“ können sie nicht ausschlaggebend sein, jedenfalls nicht allein.

Ein unternehmensethisch schlechter Grund ist auch die Unzuständigkeitserklärung: „Wir sind Wirtschaft. Politik und Gesellschaft gehen uns nichts an.“ Warum ist dies ein schlechter Grund? Weil Unternehmen immer verflochten sind mit der sie umgebenden Gesellschaft. Sie leben von und in einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung und müssen sich fragen lassen, welche Mitverantwortung sie dafür übernehmen.

Emotionen, Reflexionen und Urteilskraft

Die Wirtschaftsethik kann den Zusammenhang von Handlungsebenen und Rollen verdeutlichen und kann Handlungsmöglichkeiten mit ihren moralischen wie ökonomischen Kosten analysieren. Vor allem aber kann (und sollte) sie zu einem reflektierten Umgang mit moralischen Imperativen ertüchtigen. Das ist – wie gerade in gesellschaftlichen Schocksituationen beobachtbar – alles andere als selbstverständlich.

Denn unsere moralischen Impulse basieren auf tiefen Emotionen. Dazu gehört (hoffentlich) ein Gerechtigkeitsempfinden, das fragt, wie das offen sichtbare Unrecht bestraft werden kann. Dazu gehört (hoffentlich) die Empathie, welche sich auf die Seite der Angegriffenen und Überfallenen stellt. Dazu gehören (hoffentlich) Wut und Enttäuschung über die Zerstörung der als wenigstens im Entstehen befindlichen globalen Friedensordnung. Dazu gehören vermutlich auch die Furcht vor einem sich schnell ausbreitenden Konflikt oder umgekehrt auch die Furcht vor einer langfristig nicht eindämmbaren russischen Bedrohung.

Vermutlich ist es diese emotionale Fundierung, die in die Versuchung führt, einem moralischen Impuls nachzugeben und diesen mit höchster Entschlossenheit zu vertreten. Die Ethik und auch die Wirtschaftsethik sollte dieser Versuchung widerstehen, wenn sie den Anspruch hat, dass moralische Kategorien nicht nur Gefühlssache sind, die man (bedauernd?) zur Kenntnis nehmen muss. Die Wirtschaftsethik kann aber auch nicht einverstanden sein, wenn moralische Positionen als irrational oder ökonomisch irrelevant beiseite gewischt werden.

Verantwortung und Unternehmensverantwortung kommt von Antworten. Es kann gute Gründe geben, starken moralischen Impulsen nicht zu folgen. Aber man braucht dafür dann auch gute Gründe.

Wirtschaftsethik sollte Argumentationen entwickeln, die herausführen aus der scheinbaren Alternative von ökonomischem Egoismus auf der einen und einer leicht über das Ziel hinausschießenden Moralisierung auf der anderen Seite. Auf der Suche nach solchen Argumentationen sei hier ein Gedankenexperiment gewagt.

Vom guten Ende her denken

Ein Kandidat für gute unternehmensethische Argumentationen ist der kategorische Imperativ der ökonomischen Ethik (vgl. die Arbeiten von Andreas Suchanek und Martin van Brook): „Investiere in die Bedingungen der Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil!“

Investitionen sind selten ohne Anfangsinvestitionen zu haben. Aber unternehmensethisch begründete moralische Vorleistungen müssen als Investition verstehbar sein. In welche Zusammenarbeit ist zu investieren? Und was sind künftig deren Bedingungen?

So zu fragen, ist mental schwierig, wenn man sich gedanklich im Kriegsmodus verfangen hat, in welchem es darum geht, ob die einen oder die anderen gewinnen und sich nur die Frage der eigenen Positionierung aufdrängt. Genau daher aber bedarf es der Methode des Gedankenexperiments. Kann dies die Denkbewegung herausführen aus dem kriegsbedingten Schwarz-weiß-Diskurs?

In welche Zusammenarbeit wollen und können wir investieren? Machen wir den Kopf frei und denken mal nicht vom bösen, sondern vom guten Ende her. Denken wir das gute Ende als eine Ukraine im Frieden und ein Russland in einer Nach-Kriegs-Ära, vielleicht in eine Nach-Putin-Ära. Wie kann heute die Investition in die Kooperation der Zukunft aussehen? Was kann dabei unser Beitrag zu einer guten Zukunft gewesen sein?

Das Experiment verlangt, eine wünschenswerte Zukunft zu denken und in dieser die Unternehmensgeschichte bzw. einen Teil davon neu zu erzählen. Ob die Fortsetzung des derzeitig russischen Regimes eine wünschenswerte Zukunft ist? Oder muss man sich dazu eine veränderte Rahmenordnung mit neuer russischer Führung vorstellen? Was wäre, wenn ein bisher unbekannter oder sogar oppositioneller Politiker russischer Präsident wäre?

Wenn ein solcher russischer Präsident in einer Nach-Putin Ära den eigenen Staatschef empfängt: Hätten wir dann im Rückblick auf die jetzige Krise eine Haltung gezeigt, mit der wir gerne an der Regierungsdelegation teilnehmen und willkommen sind?  Wie können wir dann unser Handeln in der jetzigen Situation erzählen? Das ist die Gretchenfrage.

Dieses Gedankenexperiment durchzuspielen, geht vermutlich nur branchenspezifisch. Es macht dabei einen Unterschied, ob man Flughäfen betreibt oder Dialysekliniken. Vielleicht geht es nur unternehmensspezifisch. Vielleicht muss man dazu keine Geschäftsbeziehungen abbrechen. Vielleicht ist das nur dort nötig, wo die eigene Lieferkette unmittelbar Teil des Kriegsgeschehens ist. Vielleicht ist konkrete Hilfe für Menschen überzeugender: für Menschen in der Ukraine und für kritische Bürger in Russland. Oder vielleicht kann man einen wirksamen Beitrag zur Aufklärung leisten? So zeigt man auch ohne Geschäftsabbruch deutlich seine Positionierung und riskiert dabei vielleicht einen Geschäftsabbruch von russischer Seite.

Vielleicht wird man auch deutlich machen können und müssen, dass es darum ging, die eigene Regierung ohne Geschäftsabbruch zu unterstützen. Konterkarieren darf man die Arbeit der eigenen Regierung in Kriegszeiten wohl tatsächlich nicht.

Raus (aber nur) mit guten Gründen

Aber vielleicht erweist sich bei diesem Gedankenexperiment im konkreten Fall nur eine einzige Position als wirklich integer, nämlich das baldige Ende der Geschäftsbeziehungen. Dann geht es nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie und Wann. Dann führt an einem Geschäftsabbruch wohl nichts vorbei – mit Umsicht und aus guten Gründen.

Entscheiden: Schlechte Gründe zum Bleiben gibt es viele: Augen zu, vermeintliche Neutralität, vorgeschobene Verantwortung oder einfach nur eine schlechte Eigenkapitaldecke und mangelnde Resilienz aus guten Tagen.

Gute Gründe zum Bleiben sind nicht unmöglich. Hierfür ein vom guten Ende her gedachtes Szenario auszuarbeiten, ist ein moralisch und vielleicht auch ökonomisch lohnendes Unterfangen. In der aktuellen Lage ist dies schwierig und seine Umsetzung auch nicht ohne ökonomisches Risiko zu haben. Und daher dürfte in vielen Fällen die angemessene Entscheidung sein: Raus (aber nur) mit guten Gründen.

Epilog: Nicht immer kann man sich die Fragestellung aussuchen. Den Autor erreichte die Anfrage einer Branchenzeitung, zu folgender Frage Stellung zu nehmen: „Sollten deutsche Unternehmen ihr Russlandgeschäft fortführen?“ Aber die Anfrage war noch konkreter. Denn die gewünschte Antwort wurde auch schon mitgeliefert. Es sollte die Contra-Position sein, denn die Pro-Position würde von einem Vertreter des BDI beigesteuert. Bevor sich der Wirtschaftsethiker also ein eigenes Urteil bilden kann, ist die Rollenzuschreibung klar: Der BDI sagt „bleiben“ – die Wirtschaftsethik sagt „gehen“. Oder soll es jedenfalls.

Ein nicht unbeträchtlicher Teil des öffentlichen Gesprächs funktioniert so, nicht zuletzt in den einschlägigen Talk-Shows. Die wichtigen Rollen müssen besetzt werden. Und die Wirtschaftsethik spiele dann eben die Rolle der Moral oder was man gerade dafür hält.

Ist das eine Zumutung? Eigentlich schon. Sollte man solche Anfragen ablehnen? Vielleicht. Aber andererseits: Kommt es in der Wirtschaftsethik wirklich darauf an, die einzige moralisch richtige Antwort zu vertreten, mit möglichst starken Argumenten zu unterfüttern und alle Einwände als „zu kurz gedacht“ oder „ökonomistisch“ zu verwerfen? Oder geht es nicht vielmehr um etwas anderes? In Lehre und Beratung anderen Menschen zu helfen, den „ethical point of view“ zu suchen, diesen mit dem ökonomischen Kalkül zu verbinden und dabei eigene Urteilskraft auszubilden?

In diesem Sinne sind die geschilderten Überlegungen entstanden, die im Blick auf die Kriegshandlungen einen Informationsstand vom 23. März 2022 widerspiegeln. Auf Literaturangaben wurde verzichtet, wenngleich bewusste Anleihen bei Lehrern und Kolleginnen mit einer kurzen Reminiszenz gekennzeichnet sind.

Prof. Dr. Joachim Fetzer lehrt Wirtschaftsethik und ist Mitglied im Lenkungsausschuss von Sustainable Development Solutions Network – SDSN Germany.

Der Beitrag ist ursprünglich erschienen auf der Webseite des Forums Wirtschaftsethik, herausgegeben vom Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik - EBEN Deutschland e.V.

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