Frieden ist mehr als Friedhofsruhe
Kirchliche Friedensethik: Darf ein Angriffskrieg mit Sanktionen und militärischer Gewalt beantwortet werden?
„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein.“ Die meisten Stellungnahmen aus den Reihen der evangelischen Kirche zum Ukrainekrieg zitierten diesen Satz aus einer Kundgebung der Ökumenischen Versammlung in Amsterdam 1948. Die Sentenz ist griffig, plakativ, beinahe apodiktisch. Heute wird sie aber oft aus dem Kontext gerissen.
Man könnte fast denken, die Delegierten aus aller Welt, etwa aus den Kirchen Nordamerikas, der anglikanischen Kirche, der lutherischen Kirche Schwedens oder der reformierten Kirche der Niederlande, hätten dem Kriegseintritt Frankreichs, Großbritanniens und der USA nachträglich die ethische Legitimation absprechen wollen. Eine solche Lesart würde der Intention der Amsterdamer Zusammenkunft, der Geburtsstunde einer breiten ökumenischen Bewegung, in keiner Weise gerecht.
Um die Aussage zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie prominente Teilnehmer der Versammlung sich vor dem Zweiten Weltkrieg über das Thema Krieg und Kirche geäußert hatten. Der in den USA lehrende deutsche Theologe Reinhold Niebuhr schrieb etwa zur Begründung, warum die christliche Kirche keine radikal pazifistische sein könne: „Gleich wie sie es drehen oder wenden, die Protagonisten eines politischen Pazifismus enden mit der Akzeptanz und Rechtfertigung der Tyrannei.“
Der Schweizer Karl Barth, Galionsfigur der Bekennenden Kirche, war 1938 in einem Brief an eine Pfarrerin in den Niederlanden sehr grundsätzlich geworden: Die Kirche habe „um des Evangeliums willen … den demokratischen Staat aufzurufen, um jeden Preis, auch um den von Not und Untergang, starker Staat zu sein, das heißt: den Diktaturen an seinen Grenzen mit allen Mitteln Halt zu gebieten“. Sie habe zu bezeugen, dass „es etwas gibt, das schlimmer ist als Sterben und als Töten: das freiwillige Jasagen zu der Schande der Herrschaft des Antichrist“.
Diese Art endzeitlicher Aufladung eines militärischen Konflikts mag aus heutiger Sicht befremdlich sein. Aber für den reformierten Theologen Barth gab es nicht den Hauch eines Zweifels, dass der Einsatz von Waffengewalt zur Abwehr tyrannischer Aggression ethisch legitim sein kann.
Auch klare Worte in Kontext stellen
Die Zitate zeigen, dass christliche Ethik sich nicht darin erschöpfen kann, einzelne genehme Stellen aus dem Alten oder dem Neuen Testament oder ein Bonmot aus einem Klassiker der Kirchengeschichte zu zitieren. Schon das fünfte Gebot („Du sollst nicht töten“) klingt so klar und eindeutig – und es bedarf doch der philologischen Bearbeitung: Welches hebräische Wortfeld eröffnet sich hier, und wie lässt es sich akkurat ins Deutsche übertragen?
Auch ein systematischer Abgleich mit anderen Aussagen über Tötungen in der hebräischen Bibel ist für die Interpretation des Textes unabdingbar. Der Umgang mit den Seligpreisungen Jesu („Selig sind die Friedfertigen“) ist nicht weniger anspruchsvoll.
Der Anspruch, eine christliche Friedensethik zu begründen, reicht aber weiter als lege artis betriebene Philologie. Sie hat zeitgeschichtliche und soziokulturelle Kontexte zu berücksichtigen und zu wägen. Sonst wäre sie keine Ethik, sondern religiöser Doktrinismus. Ethik verlangt die Reflexion normativer Setzungen. Sie ist etwas anderes als moralische Intuition oder religiöse Gewissheit.
Ethik in diesem Sinn ist nicht zwingend ein wissenschaftliches Unterfangen. Die Justiz zum Beispiel ist im täglichen Vollzug auf vielfältige Weise auf Ethik angewiesen, trotz der Positivität des Rechts, also der schieren Geltung von Recht qua Setzung durch einen Gesetzgeber.
Man denke nur an das richterliche oder anwaltliche Berufsethos, an Fragen der Strafzumessung, an den Umgang mit Rechtsbegriffen wie „Treu und Glauben“ oder „gute Sitten“ und an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns. Die berufspraktische Ethik, die im alltäglichen Rechtsvollzug mitläuft, steht mit der akademischen Rechtsethik als Teildisziplin der Rechtsphilosophie im Austausch, aber sie fällt mit ihr nicht einfach zusammen.
Friedensethik muss pluralismusfähig sein
In ähnlicher Weise kann man verschiedene Arten von evangelischer Friedensethik unterscheiden: Sie ist bei der individuellen Gewissensbildung gefragt, früher etwa bei der Entscheidung über die Kriegsdienstverweigerung. Friedensethik gehört zudem als wissenschaftliche Subdisziplin zur akademischen Theologie. Und schließlich hat das theologische Ringen um Krieg und Frieden auch in den Kirchen als Institutionen eine lange Tradition.
Um diese Art kirchlicher Friedensethik soll es in den weiteren Überlegungen gehen. Die Rechtstheologie ist für sie schon deshalb von Bedeutung, weil zu den kontextprägenden Einflussfaktoren immer auch die Rechts- und Staatsvorstellungen der jeweiligen Zeit gehören.
Eine kirchliche Friedensethik muss angesichts der Vielfalt von Frömmigkeitsstilen und politischen Überzeugungen in der Kirche in gewissem Maße pluralismusfähig sein. Das setzt die Fähigkeit voraus, zwischen letzten Fragen des christlichen Glaubens und politischen Schicksalsfragen des Gemeinwesens unterscheiden zu können. Bei aller Relativierung, Kontextualisierung und dem Sinn für Ambivalenzen muss kirchliche Friedensethik auf ethische Normativität aber nicht verzichten. Sie meint deshalb etwas anderes als die bloße Nebeneinanderreihung heterogener friedensethischer Haltungen der Getauften.
Bei der Bildung spezifisch kirchlich-ethischer Maßstäbe kann ein Rückgriff auf Grundfiguren reformatorischer Theologie helfen, die oft als Duale in Erscheinung treten. In der Sprache der Tradition: die gefallene Schöpfung Gottes, in der uns doch Gottes unverbrüchliche Treue und Liebe verheißen wird; anders gewendet der Mensch, der in Sünde schicksalhaft verstrickt, auch zu gutem Handeln befähigt, aber allein durch Glauben, nicht durch seine guten Taten, Gnade vor Gott findet (simul iustus et peccator).
Oder auch: die weltliche und die geistliche Regierweise Gottes, in der sich die ambivalente Anthropologie widerspiegelt. Solche Spannungsverhältnisse werden in verbindlichen Schriften mit Bekenntnischarakter entfaltet – und gerade nicht einfach aufgelöst. Bekenntnistexte geben keine einfachen Antworten auf die Herausforderungen einer Zeit. Sie sind überlieferte Glaubenszeugnisse, können als solche aber auch heute noch Orientierung geben.
Das geistliche und das weltliche Regiment Gottes
Zwei Passagen sind für eine kirchliche Friedensethik von besonderer Relevanz: Artikel 16 des Augsburger Bekenntnisses aus dem Jahr 1530 und die fünfte These der 1934 verabschiedeten Barmer Theologischen Erklärung. Sie stehen in engem Zusammenhang mit weiteren Fragen der politischen Ethik und der Rechtsethik.
Die von Philipp Melanchthon verfasste Confessio Augustana bündelte die theologischen Überzeugungen der Wittenberger Reformatoren und diente der Vorbereitung der Beratungen auf dem Reichstag in Augsburg (deshalb die Bezeichnung). In dem Text heißt es in der heute gebräuchlichen deutschsprachigen Fassung: „Von der Polizei (Staatsordnung) und dem weltlichen Regiment wird gelehrt, dass alle Obrigkeit in der Welt und geordnetes Regiment und Gesetze gute Ordnung sind, die von Gott geschaffen und eingesetzt sind, und dass Christen ohne Sünde in Obrigkeit, Fürsten- und Richteramt tätig sein können, nach kaiserlichen und anderen geltenden Rechten Urteile und Recht sprechen, Übeltäter mit dem Schwert bestrafen, rechtmäßig Kriege führen, in ihnen mitstreiten . . . können usw.“
In diesem Passus klingt die Lehre von den zwei Regierweisen Gottes in der Welt an: Gott wirkt demnach durch das geistliche und das weltliche Regiment. Das geistliche Regiment, ausgeübt allein durch das Wort und ohne Gewalt, sei der Kirche anvertraut, das weltliche Regiment der Obrigkeit. Der Obrigkeit bedürfe es, weil der Mensch aus eigener Kraft und Einsicht nicht dauerhaft gut handeln könne. Er gehe fehl in seiner Selbstsucht, er werde am Nächsten, auf sich alleine gestellt, mit gewisser Zwangsläufigkeit schuldig. Daraus rette ihn in geistlicher Hinsicht alleine die Rechtfertigung aus Glauben. In weltlicher Hinsicht bedürfe es hingegen der Obrigkeit, damit das Leben in dieser Welt nicht die Hölle auf Erden werde.
Die Barmer Theologische Erklärung von 1934
Diese Lehre von den zwei Regierweisen oder zwei Reichen hat in der lutherischen Tradition zuweilen zu einer Hyperlegitimierung staatlichen Handelns geführt. Staatliche Autorität wurde in der theologischen Deutung so geadelt, dass die religiösen Potenziale für Herrschaftskritik verschüttet wurden. Es entstand ein eher unheiliges „Bündnis von Thron und Altar“. Hand in Hand damit ging eine ausgeprägte Skepsis gegenüber dem, was später „das Subjekt“ oder „das Individuum“ heißen sollte.
Im 19. Jahrhundert versperrten beide Entwicklungen der evangelischen Kirche den Weg, sich früh mit der Ideenwelt liberaler Demokratien anzufreunden. Noch bis in die 1960er-Jahre gab es vernehmbar Stimmen, die der autoritären Obrigkeit nachtrauerten. Man mag deshalb skeptisch sein, ob eine Textpassage aus dem 16. Jahrhundert, die auf der Lehre von den zwei Regimenten Gottes aufsetzt, heutzutage noch politisch-ethische Orientierung bieten kann, und sei es auch ein Ausschnitt aus der zentralen Bekenntnisschrift der evangelischen Kirchen.
Die Autoren der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 waren da weniger zögerlich. Mit ihrer Schrift wollten sie die vermeintlichen Glaubensgewissheiten der von der nationalsozialistischen Rassenlehre und Führerideologie beseelten deutschen Christen als bekenntniswidrig verwerfen.
Bis heute bildet „Barmen“ in kirchlichen Lehrfragen den zentralen Referenztext des deutschen Nachkriegsprotestantismus. An der überlieferten Differenzierungsfigur der zwei Sphären oder zwei Funktionslogiken (geistlich-kirchlich/weltlich-politisch) als Kernbestand einer reformatorischen Staats- und Rechtsethik hielt die Erklärung bewusst fest. Sie modernisierte sie jedoch. Zu offensichtlich war, dass die liberale Demokratie Weimars keine „Obrigkeit“ mehr im Sinne Luthers und Melanchthons gewesen war.
Das öffentliche Gemeinwesen wurde in Reaktion darauf nicht mehr im Sinne der schöpfungstheologisch-staatsmetaphysischen Tradition des Luthertums, sondern streng funktional verstanden, im Sinne seiner die Bürger schützenden rechtserhaltenden und friedenssichernden Aufgaben. Schlicht selbstverständlich war den Vordenkern der Bekennenden Kirche, dass zu diesen Funktionen auch die äußere Sicherheit gehört und dass die staatlichen Mittel zu deren Erhaltung auch militärische Gewalt einschließen.
So heißt es in der fünften These der Barmer Theologischen Erklärung: „Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg entspann sich dann innerkirchlich eine intensive Debatte darüber, ob sich das staatliche Gewaltpotential durch die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen so verändert habe, dass die Ausübung von kriegerischer Gewalt unter keinen Umständen mehr in Betracht käme. Die Kontroverse setzte in der Zeit der Wiederbewaffnung unter Konrad Adenauer ein und prägte auch noch die kirchliche Friedensbewegung der 1980er-Jahre. In der Ost-West-Konfrontation wuchs die Sorge, dass der nächste Krieg der letzte der Menschheit sein könnte, weil sie Gefahr liefe, sich selbst auszulöschen.
Ein kirchlicher Konsens über die Frage, ob angesichts dieses apokalyptischen Szenarios nukleare Abschreckung gerade friedenssichernd und damit ethisch verantwortbar oder in so gravierendem Maße menschheitsgefährdend, dass sie unverantwortlich sei, kam bis zum Fall der Mauer nicht zustande. Innerevangelisch einigte man sich letztlich darauf, dass beide Positionen mit einer christlichen Glaubenshaltung vereinbar sein können.
Ewiger Frieden: Trügerische Hoffnung
Als der Ost-West-Konflikt endete, keimte die Hoffnung auf eine Art „ewigen Frieden“, wenn schon nicht streng nach Idee der gleichnamigen Schrift Immanuel Kants, so doch im Sinne einer völkerrechtlich angeleiteten multipolaren Weltordnung. Man setzte auf einen Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen, der die ihm in der UN-Charta angesonnene Aufgabe wirklich und systematisch wahrnimmt, effektive Maßnahmen zur Sicherung des Weltfriedens zu ergreifen. Diese Hoffnung war trügerisch. Die Völkerrechtsgemeinschaft stritt alsbald über die Legalität und Legitimität humanitärer Interventionen, also mit dem Schutz von Menschenrechten begründete Militäreinsätze, und über Maß und Mittel kriegerischer Entgegnungen auf (tatsächliche und vermeintliche) terroristische Bedrohungen. Erinnert sei nur an die Anschläge in den USA vom 9. September 2001 und die darauffolgenden Kriege in Afghanistan und im Irak.
In Anbetracht solcher Konstellationen entstand die bislang letzte Friedensdenkschrift der EKD, die im Jahr 2007 unter dem Titel „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ veröffentlicht wurde. Die Legitimität rechts-erhaltender Gewalt, auch in militärischer Form, wurde in ihr ausdrücklich anerkannt. Zugleich betonte man, dass „Frieden“ als Leitbild einer politischen Ethik internationaler Beziehungen mehr bedeuten müsse als das Schweigen von Waffen.
In diesem Sinne wurde nun das Ziel eines „gerechten Friedens“ beschworen, der rhetorisch in Kontrast gesetzt wurde zu überkommenen Lehren vom „gerechten Krieg“. Das war in gewisser Weise überschießend, weil bestimmte friedensethisch und völkerrechtlich anerkannte Kriterien für rechtmäßig geführte kriegerische Auseinandersetzungen bekräftigt wurden, etwa das Verbot eines Angriffskrieges und – korrespondierend – das Selbstverteidigungsrecht eines kriegerisch angegriffenen Staats.
Doch die Aussage, die Lehre vom gerechten Frieden löse die Lehre vom gerechtfertigten Krieg friedensethisch ab, verselbständigte sich in der evangelischen Kirche. Entsprechende Einlassungen führender Repräsentanten beförderten diese Entwicklung.
Sie mündete auf der EKD-Synode 2019 in Dresden in der Diskussion, ob man nicht die Bekenntnisgrundlagen der evangelischen Kirche neu fassen müsse. Der Passus zur Beteiligung am militärischen Engagement des Staates in der Confessio Augustana, auf Latein „iure bellare, militare“, gehöre gestrichen. Man gewann den Eindruck, eine radikalpazifistische Haltung setze sich im deutschen Protestantismus zunehmend durch – eine Haltung, die die Wittenberger Reformatoren angesichts ihrer theologischen Anthropologie, ihrer Sündenlehre, ihrer Rechtstheologie und ihrer politischen Ethik wohl als schwärmerisch entschieden verworfen hätten.
„Gerechter“ und „rechtmäßig geführter Krieg“
Das Ansinnen, die Confessio Augustana radikalpazifistisch nachzujustieren, war auch deshalb eigenwillig, weil die reformatorischen Bekenntnisschriften zahlreiche Aussagen enthalten, die heute sperrig und abständig wirken. Sie sind nun einmal 250 Jahre vor dem Zeitalter der Aufklärung, unserer eigenen begriffsgeschichtlichen „Sattelzeit“, formuliert. Sie sind zeitgebundene Glaubensdokumente, die sich darum jede Generation neu aneignen und in ihre Zeit übersetzen muss. Isoliert einen Satzteil streichen zu wollen, zeugt von blankem theologischem Unverstand, allzumal man sich auf der Synode ja ausgerechnet einen Satzteil herausgegriffen hat, der einem die Vergegenwärtigung nicht eben schwer macht. Man kann das „iure bellare“ nicht nur als „gerechten“ Krieg, sondern auch als „rechtmäßig geführten Krieg“ verstehen.
Es spricht viel dafür, dass die Reformatoren sogar genau das im Sinn hatten. Anders als von manchen heute behauptet, ging es im Augsburger Bekenntnis ja nicht darum, Krieg für „gerecht“ im Sinne eines erstrebenswerten Zustands zu erklären. Im Gegenteil. Die unterschiedlich akzentuierten Lehren vom bellum iustum, angefangen von Cicero bis hin zum modernen Völkerrecht, waren und sind im Prinzip darauf angelegt, Frieden zu wahren, Gewalt einzuhegen, Konflikte auf andere Weise auszutragen und der Logik militärischer Eskalation zu widersprechen. Sie reden gerade nicht der neuzeitlichen Idee das Wort, Krieg setze mit anderen Mitteln die Politik, von religiösen und moralischen Bindungen entlassen und Machtgewinn als Selbstzweck betreibend, einfach fort.
Die Reformatoren mit ihrem vormodernen, spätmittelalterlich geprägten Weltbild waren keine Proto-Machiavellisten und haben auch keine Clausewitz'sche Kriegskunstfibel avant la lettre geschrieben. Sie wussten aber sehr wohl, mit Kant gesprochen, aus welch krummem Holz der Mensch geschnitzt ist.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 ringt die deutsche Öffentlichkeit nun erneut um Haltung und Positionen in Fragen von Krieg und Frieden. Dabei geht es hierzulande „nur“ um Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen. Einen Kriegseintritt Deutschlands fordert niemand.
Markante Stimmen im kirchlichen Protestantismus verlangen im Gegenteil, auf jede militärische Unterstützung der Ukraine zu verzichten. Die Gefahr einer Eskalation sei zu groß. Sie empfehlen den Ukrainern die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen. Dem Aggressor solle man mit zivilem Ungehorsam begegnen.
Das Recht auf Selbstverteidigung
Andere sehen die Notwendigkeit, dass sich die kirchliche Friedensethik angesichts der forcierten geopolitischen Spannungen aus ihrer Rechtsorientierung löse. Für die Frage nach der Legitimität militärischer Gewalt sei das Kriterium der Rechtserhaltung nicht mehr zweckdienlich. Wir müssten uns auf ein neues Zeitalter rivalisierender Machtblöcke einstellen, für das die Leitidee einer regelbasierten multipolaren Ordnung wenig tauge, zumal ein Teilaspekt der rechtserhaltenden Gewalt, nämlich das Anliegen des Schutzes der Menschenrechte mit den Mitteln militärischer Interventionen, in postkolonialer Perspektive ohnehin desavouiert sei.
Beiden Reaktionen aus den Reihen des deutschen Protestantismus sollte man zurückhaltend begegnen. Eine kirchliche Friedensethik tut gut daran, die realen Machtverhältnisse zur Kenntnis zu nehmen. Eine ethische Perspektive darf realpolitisch ansetzen, muss aber zur ethischen Normbildung beitragen. Die ethische Orientierung an der Achtung des universellen Völkerrechts lässt sich deshalb nicht durch eine Ordnung faktischer Einflusssphären ersetzen. Die militärisch-interventionistisch verstandene „responsibility to protect“ war völkerrechtlich wie friedensethisch zu weiten Teilen sicherlich ein Irrweg. Darüber ist sich die Völkerrechtswissenschaft heute weitgehend einig. Das völkerrechtliche Verbot eines Angriffskriegs und das (im Verhältnis zu Maßnahmen des UN-Sicherheitsrates subsidiäre) Recht auf Selbstverteidigung sind aber im Lichte des Kriegs in der Ukraine friedensethisch nicht obsolet geworden.
Daran ändert auch eine postkoloniale Betrachtung nichts. Im Gegenteil: Im Verteidigungsrecht nach außen gegen einen neoimperialen Aggressor spiegelt sich das Recht auf Selbstbestimmung nach innen, ein Recht, das eine dezidiert antikoloniale Spur aufweist.
Zwar hat das Völkerrecht den Krieg in der Ukraine nicht verhindern können. Aber das ist kein ernsthaftes Argument gegen das Völkerrecht und sein friedensethisches Potenzial. Das brutale Faktum eines Angriffskriegs stellt dessen Verbot ebenso wenig infrage wie Mord und Totschlag die entsprechenden Strafrechtsnormen. Die Möglichkeit des Rechtsbruchs gehört zur Normativität des Rechts dazu.
Zugleich werden wir gegenwärtig auf dramatische Weise des Umstands gewahr, dass das Recht in den internationalen Beziehungen anders wirkt, andere Durchsetzungsressourcen und andere Gefährdungen der Rechtstreue kennt als im staatlichen Kontext. Die von den Reformatoren in ihrer politischen Anthropologie vorausgesetzten menschlichen Abgründe lassen sich zurzeit im internationalen Zusammenhang nicht in einer Weise eingehen, die mit staatlichen oder supranationalen Rechtsordnungen vergleichbar wäre.
Gerechter und ungerechter Frieden
Das verleiht der Frage, wie internationales Recht effektiv implementiert und Rechtsbruch sanktioniert wird, ihre existentielle Note. Geht es um das Verbot des Angriffskriegs, sind neben wirtschaftlichen Maßnahmen, etwa Sanktionen, wirksame militärische Abschreckung und als Ultima Ratio auch der Einsatz militärischer Gewalt eine naheliegende Antwort. Wer dies unter Verweis auf das friedensethische Leitbild eines „gerechten Friedens“ strikt ablehnt, bleibt eine vernünftige Alternative schuldig.
Das Potenzial zivilen Ungehorsams erscheint im Angesicht der Schreckensbilder aus der Ukraine unzureichend. Eine kirchliche Friedensethik, die den gerechten Frieden postuliert, aber zum ungerechten Frieden, der in Massenmord, Folter, Vergewaltigung und kultureller Auslöschung eines Volkes mündet, nichts Substantielles mehr zu sagen weiß, muss sich die Frage gefallen lassen, wie sie es mit dem ansonsten postulierten „Vorrang“ für die Schwächsten und Verletzlichsten hält. Scheint hinter dem antimilitaristischen Dogma doch nur religiös camouflierter Zynismus durch?
Frieden im anspruchsvollen Sinne meint mehr als Friedhofsruhe, aber auch mehr als die unerbittliche Logik militärischer Abschreckung. Eine kirchliche Friedensethik im Horizont der reformatorischen Rechtstheologie rechnet mit den Abgründen des Menschen und verliert zugleich nicht die Hoffnung, seine Verstrickung im Bösen immer wieder von Neuem zu überwinden. Folgerichtig stehen kirchliche Militärseelsorge sowie Friedens- und Versöhnungsarbeit komplementär zueinander.
Zu erschließen, was aus der theologisch-anthropologischen Grundspannung im jeweiligen zeitgenössischen Kontext konkret politisch folgt, überantwortet die Barmer Theologische Erklärung der menschlichen Einsicht in all ihrer Begrenztheit. In diesem Sinn heißt es für die evangelische Kirche, sich in Sachen Friedensethik immer wieder neu ans Werk zu machen – auch nun.
Hans Michael Heinig ist Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Georg-August-Universität Göttingen. Sein Beitrag ist ursprünglich am 3.7.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.