Kirchenstreit: Kein Gebet für Kirill
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche Moskauer Jurisdiktion erklärt sich für von Russland unabhängig
Während die russische Armee im Osten der Ukraine derzeit eine Ortschaft nach der anderen in Schutt und Asche legt und immer weiter vorrückt, scheint es, als müsse die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) gerade eine schwere Niederlage einstecken. Am 27. Mai erklärte ein Landeskonzil aus Bischöfen, Priestern, Mönchen und Laien die „vollständige Eigenständigkeit und Unabhängigkeit“ der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK), die seit 1990 als autonome Kirche dem Moskauer Patriarchat unterstand. Hierzu seien „einschlägige Ergänzungen und Änderungen des Statuts“ der UOK beschlossen worden.
Die Bedeutung dieser Versammlung und ihres Beschlusses lässt sich schon daran ablesen, dass das letzte Landeskonzil der UOK vor mehr als zehn Jahren, im Juli 2011, zusammengetreten war. Das jetzige Konzil fand übrigens auf den Tag genau dreißig Jahre nach der Bischofssynode von Charkiw statt, welche den damaligen Kiewer Metropoliten Filaret für abgesetzt erklärt hatte, weil dieser zusammen mit den anderen ukrainischen Bischöfen es im November 1991 gewagt hatte, den Moskauer Patriarchen um die Verleihung der kirchlichen Selbständigkeit, der Autokephalie, zu bitten. Genau drei Jahrzehnte später hat die UOK von sich aus nun doch ihre Unabhängigkeit von Moskau erklärt.
Dieser Paukenschlag kam wiederum nur drei Tage nach einem Konzil der mit der UOK konkurrierenden autokephalen Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU), welche der Ökumenische Patriarch 2019 in die Selbständigkeit entlassen hatte. Weder die ROK noch deren ukrainischer Zweig, die UOK, erkennen aber bislang diese Kirche als kanonisch an. Doch die OKU forderte bei ihrem Konzil die UOK auf, sich endlich vom Moskauer Patriarchen Kirill loszusagen – wegen dessen Rechtfertigung des Ukrainekriegs und seiner Unterstützung der häretischen Ideologie der „Russischen Welt“ – und mit ihr, der OKU, in einen konstruktiven Dialog zu treten.
Und tatsächlich: In der Erklärung ihres Landeskonzils hat die UOK an jenem Freitag Ende Mai erstmals explizit ihre „Ablehnung der Position von Patriarch Kirill von Moskau und ganz Russland zum Krieg in der Ukraine“ erklärt und den Krieg unmissverständlich als Verstoß gegen das fünfte Gebot („Du sollst nicht töten“) bezeichnet. Schon gleich am ersten Tag des Kriegs hatte Metropolit Onufrij, der seit 2014 an der Spitze der UOK steht, erklärt, ein solcher brudermörderischer Krieg lasse sich mit nichts rechtfertigen, „weder vor Gott noch vor den Menschen“.
Die „Symphonie“ von Kirche und Staat
Seither hatte Onufrij, wie er jetzt im Rahmen des Konzils berichtete, mehrfach mit Patriarch Kirill telefoniert, doch ohne Erfolg. Kirill hatte wiederholt öffentlich den Krieg theologisch und historisch gerechtfertigt, zuletzt auch in einer Rede vor dem Russischen Föderationsrat am 17. Mai.
Die viel beschworene „Symphonie“ von Orthodoxer Kirche und Staatsmacht, die im Falle Kirills dazu führte, dass schließlich selbst der eigentlich um diplomatische Zurückhaltung bemühte Papst ihn als „Staatskleriker“ und „Messdiener Putins“ bezeichnete, hat zu erheblichen Dissonanzen zwischen der Russischen und der Ukrainischen Orthodoxen Kirche geführt. Angesichts von Kirills Interpretation der „militärischen Spezialaktion“ Russlands als einer notwendigen Verteidigung der Einheit der heiligen Rus gegen feindliche westliche Kräfte blieb der UOK offenbar keine andere Wahl, als nunmehr ihre vollständige Unabhängigkeit von der ROK zu erklären. Ist der Krieg doch der Vater aller Dinge?
Es waren jedoch weniger die Bischöfe als die einfachen Priester und Laien der UOK, die schon seit Längerem auf einen solchen Schritt und sogar auf sehr viel weitergehende Maßnahmen gedrungen hatten. So war am 11. April ein Appell von Priestern an die Oberhäupter der Orthodoxen Kirchen und zwei Tage später ein weiterer Appell von Laien an Metropolit Onufrij veröffentlicht worden. In beiden Erklärungen wurde nicht nur verlangt, die gottesdienstliche Kommemoration von Patriarch Kirill als Kirchenoberhaupt zu beenden, sondern auch dessen Verurteilung und Exkommunikation als Vertreter der imperialistisch-nationalistischen Häresie der „Russischen Welt“ gefordert.
Dass es sich bei der von Staat und Kirche in Russland gleichermaßen propagierten Lehre der „Russischen Welt“ (in scharfer Abgrenzung zur „westlichen Welt“) um eine theologische Irrlehre handle, die einen politischen mit einem kirchlichen Imperialismus verbinde und nun zur Rechtfertigung des Kriegs diene, ist auch die Kernaussage einer theologischen Erklärung, die seit ihrer Veröffentlichung am 13. März – dem Sonntag der Orthodoxie – von fast 1500 orthodoxen Theologen weltweit unterzeichnet worden ist.
Die UOK will sich von Moskau lösen
Gerade vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, wie gelassen bislang die ROK auf die Beschlüsse des Landeskonzils der UOK reagiert. Zwar hat zunächst der stellvertretende Leiter der Abteilung für die Beziehungen der ROK zur Gesellschaft und den Medien, Alexander Schtschipkow, davon gesprochen, die Kiewer Beschlüsse könnten der Anfang eines Schismas sein, welches vom amerikanischen Außenministerium absichtlich initiiert worden sei, doch bemühte sich der Heilige Synod der ROK umgehend, die Wogen wieder zu glätten.
In einer am 29. Mai veröffentlichten Erklärung ist nicht von Schisma die Rede, sondern davon, dass man die UOK nach Kräften unterstützen wolle, da diese derzeit „einem noch nie dagewesenen Druck seitens der Vertreter schismatischer Strukturen, lokaler Behörden, der Medien, extremistischer Organisationen und nationalistisch gesinnter Mitglieder der Öffentlichkeit“ ausgesetzt sei.
Tatsächlich ist es nicht nur die aus Sicht der ROK „schismatische“ OKU, die der UOK zu schaffen macht, da immer mehr Gemeinden zu dieser Kirche überwechseln, sondern auch die Tatsache, dass seit Kriegsbeginn vor allem im Westen der Ukraine lokale Behörden den Gemeinden der UOK die Anerkennung entziehen und ihre Kirchen der OKU übergeben. Ein am 22. März ins ukrainische Parlament eingebrachter Gesetzesentwurf sieht sogar das Verbot des Moskauer Patriarchats auf dem gesamten Gebiet der Ukraine vor. Doch der Parlamentspräsident hat verlauten lassen, während der Dauer des Kriegs werde über diese Gesetzesvorlage nicht verhandelt.
Die Beschlüsse des Landeskonzils müssen vor dem Hintergrund dieser Situation gesehen werden. Obwohl in der Erklärung vom Freitag nirgends von „Autokephalie“ die Rede ist, ist davon auszugehen, dass es die UOK ernst meint mit der Loslösung von Moskau.
Darauf deutet auch die Aussage des Konzils hin, man habe die „Wiederaufnahme der Myronbereitung“ erörtert – ein Kennzeichen von autokephalen Orthodoxen Kirchen. Allein die Diözese der Krim hat umgehend erklärt, sie lehne die Beschlüsse des Landeskonzils ab und bleibe unter der Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats.
Metropolit Onufrij kommemorierte am letzten Sonntag in der Liturgie erstmals nicht mehr Patriarch Kirill als sein kirchliches Oberhaupt, sondern wie die anderen Ersthierarchen autokephaler Kirchen die Oberhäupter aller anderen Orthodoxen Kirchen, mit denen Kirchengemeinschaft besteht. Hoffen lässt auch das Bekenntnis des Landeskonzils, trotz aller Vorbehalte und Schwierigkeiten den Dialog mit der OKU aufzunehmen, obwohl deren Autokephalie und die apostolische Sukzession ihrer Bischöfe nicht anerkannt werden. Denn im Vergleich zu den physischen und psychischen Verheerungen des Kriegs und den kirchlich-theologischen Verwerfungen zwischen Kiew und Moskau ist dies das geringere Problem.
Dieser Beitrag ist zuvor in der FAZ erschienen. Wir danken dem Autor für die Erlaubnis, den Text auf KARENINA zu veröffentlichen.
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