Alle Kirchen gegen ‚Bruderkrieg‘
Kritik an Moskaus Patriarchen Kirill: Gute Hirten müssen Friedensstifter sein
Nach einem Monat Krieg in der Ukraine waren laut ukrainischen Angaben mindestens 59 Gotteshäuser – Kirchen, Moscheen und Synagogen – beschädigt oder vollständig zerstört worden. In dieser Schreckensbilanz spiegelt sich die multireligiöse Landkarte der Ukraine wider. Die Mehrheit der Bevölkerung bekennt sich zur Orthodoxie, gemäß der jüngsten Umfrage des Razumkov Centre vom November 2021 sind es 60 Prozent. 8,8 Prozent der Befragten gaben an, zur Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) zu gehören, 0,8 Prozent zur römisch-katholischen Kirche, 1,5 Prozent zu Kirchen der Reformation, 0,2 Prozent zum Islam und 0,1 zum Judentum.
Die Orthodoxie in der Ukraine ist in zwei große orthodoxe Kirchen gespalten: die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), die zum Moskauer Patriarchat gehört, und die 2018 neu entstandene Orthodoxe Kirche der Ukraine, der der Ökumenische Patriarch Bartholomaios Anfang 2019 die Autokephalie verliehen hat.
Das aktuelle Größenverhältnis zwischen den beiden orthodoxen Kirchen ist schwer zu bestimmen und abhängig davon, welche Statistik man konsultiert: Gemäß der staatlicherseits erhobenen Anzahl der Gemeinden ist die UOK die größte Kirche, während gemäß der jüngsten Umfrage des Razumkov Centre die OKU mehr Mitglieder zählt: 24,1 Prozent der Befragten bekannten sich zu ihr und 13,3 Prozent zur UOK. 21,9 Prozent gaben an, sie seien „einfach orthodox“ und 39,4 Prozent gaben keine Antwort.
Regional gesehen ist die OKU vor allem im Westen und Zentrum des Lands stark vertreten, während die UOK ihren Schwerpunkt im Osten und Süden der Ukraine hat. Seit der Gründung der OKU gab es zahlreiche Übertritte von Gemeinden der UOK zur neuen Kirche – eine Entwicklung, die sich mit dem jetzigen Krieg noch verstärkt hat und zeigt, wie dynamisch die orthodoxe Landschaft in der Ukraine ist.
Ukrainische Kirchen verurteilen den Krieg
Alle größeren Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Ukraine gehören dem 1996 gegründeten „Allukrainischen Rat der Kirchen und Religionsgemeinschaften“ an, der als gemeinsame Interessensvertretung der Glaubensgemeinschaften gegenüber Staat und Gesellschaft fungiert. Gleich am ersten Kriegstag am 24. Februar hat der Rat den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine unmissverständlich verurteilt und an die internationale Gemeinschaft appelliert, „alles Mögliche zu tun, um die Offensive des russischen Aggressors zu stoppen“. Er unterstrich zudem, dass er „die Streitkräfte der Ukraine und all unsere Verteidiger [unterstützt], wir segnen sie bei ihrer Verteidigung der Ukraine vor dem Aggressor und beten für sie“.
In seinem jüngsten Appell vom 1. April hat der Rat einmal mehr die internationale Gemeinschaft aufgerufen, die ukrainische Armee mit modernen Luftverteidigungssystemen auszustatten, um die Bevölkerung vor russischen Luftangriffen schützen zu können. Zudem wandte er sich an die politische und religiöse Führungselite Russlands und forderte sie auf, „Sofortmaßnahmen zur Beendigung der Blockade von Mariupol, Berdjansk und Cherson sowie anderer Städte der Ukraine zu ergreifen und humanitäre Korridore zu organisieren, um die Bewohner zu evakuieren“.
Religion & Gesellschaft in Ost und West
"Ukraine – ein Land im Krieg"
Ausgabe 3/2022
Symbolträchtig versammelten sich auch Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften zu gemeinsamen Friedensgebeten in der Kiewer Sophienkathedrale, einem der bedeutendsten Heiligtümer im Land. Gemeinsam engagieren sich die Glaubensgemeinschaften bei der Versorgung von Flüchtlingen und deren Unterbringung, rufen die Menschen zur Freiwilligenarbeit auf und öffnen die Keller der Gotteshäuser zum Schutz der Bevölkerung vor Bomben und Granaten. Metropolit Luka (Kovalenko) von Saporischschja von der UOK begleitete Mitte März einen Hilfskonvoi mit Lebensmitteln und Medikamenten nach Mariupol sowie einen Konvoi mit Flüchtlingen aus Berdjansk.
Das Oberhaupt der OKU, Metropolit Epifanij (Dumenko), wendet sich seit dem Beginn des Angriffskriegs mit täglichen Botschaften an die ukrainische Bevölkerung und fordert sie zum Widerstand gegen die russische Aggression auf. Die Gläubigen der UOK rief er zu einer Vereinigung der beiden orthodoxen Kirchen im Land auf, da alle unter der russischen Invasion litten, und jede russische Bombe auf die Ukraine den Mythos von der „Heiligen Rus’“ und dem „dreieinigen Volk“ endgültig zerstöre. Am 21. März verabschiedete der Hl. Synod der OKU eine Resolution, wie sich religiöse Einrichtungen der UOK der OKU anschließen können.
Ebenfalls medial sehr präsent ist das Oberhaupt der UGKK, Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, der sich mit täglichen Video-Botschaften an die Bevölkerung wendet. Am 2. April erklärte er: „Heute wird in der Ukraine die Sünde des Kains begangen. Das unschuldige Blut von Abel schreit vom ukrainischen Boden zum Himmel. Heute schreit der Herr zu unseren Mördern, zu den Kains des dritten Jahrtausends: ‚Was hast du getan? Das Blut deines Bruders schreit zu mir von der Erde.‘“
Während das Eintreten der OKU und der UGKK für die Unabhängigkeit der Ukraine kaum überraschend ist, da sich beide Kirchen dezidiert als proukrainisch verstehen, war die deutliche und schnelle Reaktion der UOK nicht von vornherein erwartbar gewesen. Deren Oberhaupt, Metropolit Onufrij (Berezovskij), nahm ebenfalls das biblische Motiv vom Brudermord auf und verurteilte den „Bruderkrieg“ bereits in den ersten Kriegstagen: „Das ukrainische und das russische Volk entstammen dem Taufbecken des Dnipro, ein Krieg zwischen diesen Völkern ist eine Wiederholung der Sünde Kains, der seinen eigenen Bruder aus Neid tötete. Für einen solchen Krieg gibt es keine Entschuldigung, weder von Gott noch von den Menschen.“
Der Hl. Synod der UOK appellierte am 28. Februar an das Kirchenoberhaupt, Patriarch Kirill, „Ihr hochpriesterliches Wort zu sprechen, damit das brudermörderische Blutvergießen auf ukrainischem Boden aufhört. Wir bitten Sie, die Führung der Russischen Föderation aufzufordern, die Feindseligkeiten [...] unverzüglich einzustellen.“
Bemerkenswert sind diese deutlichen Stellungnahmen insofern, als dass sich die Kirchenleitung der UOK seit der „Revolution der Würde“ und der anschließenden Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs im Donbass fast gänzlich mit Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Fragen zurückgehalten hatte. Vor dem Hintergrund, dass sich ein Teil der Gemeinden der UOK seit 2014 auf der von Russland besetzten Krim und in den von den Separatisten kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine befand, hatte die Kirchenleitung die russische Aggression bisher nie klar verurteilt.
Zusätzlich gelähmt wurde die Kirche durch die innerkirchliche Fraktionierung unter den Bischöfen und Geistlichen in ein pro-russisches, pro-ukrainisches und ein neutrales Lager. Dieser Schlingerkurs der UOK zwischen kirchlicher Verbundenheit zum Moskauer Patriarchat und Loyalität zu einer eigenständigen Ukraine führte dazu, dass die Kirche in der ukrainischen Öffentlichkeit immer mehr als verlängerter Arm Moskaus wahrgenommen wurde. Dem suchte die UOK teilweise mit gezielten Medienkampagnen entgegenzutreten.
Nach der Gründung der OKU im Herbst 2018 und dem eskalierenden Kirchenkonflikt isolierte sich die UOK innerukrainisch weiter. Auf der einen Seite richteten sich fragwürdige Gesetzesprojekte gegen sie: So verlangte ein Ende 2018 verabschiedetes Gesetz, dass Religionsgemeinschaften, die Teil einer religiösen Organisation mit Hauptsitz in einem als Aggressor-Staat definierten Land sind, dies bereits in ihrem Namen anzeigen müssen. Auch gab es einzelnen Fälle von gewaltsamen Übergriffen auf Gemeinden der UOK. Auf der anderen Seite eröffnete die UOK zusammen mit dem Moskauer Patriarchat eine regelrechte Kampagne gegen ihre angebliche Verfolgung in der Ukraine:
Im Juni 2021 versammelte sie mehr als 20 000 Gläubige und Geistliche zu einem „Steh-Gebet“ in Kiew, um gegen ihre Diskriminierung zu protestieren. Ein paar Wochen später erklärte Metropolit Ilarion (Alfejev), der Leiter des Außenamts des Moskauer Patriarchats, am 28. Juli 2021 zum Feiertag der „Taufe der Rus’“, der an die Christianisierung der Kiewer Rus’ im 10. Jahrhundert erinnert, dass die UOK „unverdienten Angriffen, Unterdrückung und Verfolgungen ausgesetzt“ sei, weil sie die Einheit mit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) bewahren wolle.
Ideologische Rechtfertigung des Angriffskriegs
Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Rede zur Anerkennung der „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk am 21. Februar den Angriff auf die Ukraine unter anderem mit dem Schutz der UOK vor einer angeblichen Verfolgung seitens der ukrainischen Regierung rechtfertigte. Dieses Narrativ wie die ideologischen Konstrukte von der untrennbaren „Heiligen Rus’“ oder der „Russischen Welt“, die seit mehreren Jahren sowohl von der Kreml-Führung als auch von der Kirchenleitung der ROK propagiert
werden, zeigen, dass sich die weltliche und kirchliche Elite in Russland bis heute nicht mit der Unabhängigkeit der Ukraine und einer eigenständigen ukrainischen Nation abfinden konnte. Je nach Bedarf setzt das Oberhaupt der ROK, Patriarch Kirill, das Mitte der 1990er-Jahre entstandene Konzept der „Russischen Welt“ (russkij mir) oder das Ende des 19. Jahrhunderts entfaltete Konzept der „Heiligen Rus’“ ein.
Das Konzept der „Russischen Welt“ definiert einen gemeinsamen Zivilisationsraum, der durch die russische Sprache und Kultur sowie traditionelle und konservative Werte definiert ist. Die Länder der „Heiligen Rus’“ – Russland, Belarus, die Ukraine und die Republik Moldau – verbindet zudem eine religiöse Herkunft, das „gemeinsame Taufbecken“ der Kiewer Rus’ und der überlieferte orthodoxe Glaube.
Die „Russische Welt“ fand nach der Annexion der Krim und der kriegerischen Abspaltung der Separatistengebiete im Donbass 2014 zumindest in offiziellen kirchlichen Stellungnahmen kaum mehr Erwähnung, doch zeigen die Reaktionen von Kirill auf den jetzigen russischen Angriffskrieg, dass er auf der Zugehörigkeit der Ukraine zur „Heiligen Rus’“ beharrt und nicht die politische Führung Russlands für den Konflikt verantwortlich sieht, sondern feindliche auswärtige Kräfte.
In den ersten Kriegstagen schwieg der Patriarch komplett zur russischen Invasion in der Ukraine, bzw. drückte allgemein sein Mitgefühl mit allen aus, „die vom Unheil betroffen sind“. Am ersten Sonntag nach Kriegsbeginn predigte er in der Moskauer Christ-Erlöserkathedrale, dass die Gefahr bestehe, dass äußere böse Kräfte, „die immer gegen die Einheit der Rus’ und der Russischen Kirche gekämpft haben, die Oberhand gewinnen. Gott bewahre uns davor, dass zwischen Russland und der Ukraine eine schreckliche Grenze gezogen wird, die mit dem Blut von Brüdern befleckt ist.“
Laut dieser Lesart hatte also nicht Russland die Ukraine angegriffen, sondern feindliche äußere Mächte bedrohten die historische, kulturelle und kirchliche Einheit von Russen, Ukrainern und Belarusen, die Russland nun verteidige – mithin eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. In ähnlicher Weise argumentierte Patriarch Kirill auch in seinem Antwortschreiben vom 10. März an den geschäftsführenden Generalsekretär des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) und orthodoxen Priester, Ioan Sauca, der ihn um Vermittlung bei den russischen Behörden gebeten hatte, um weiteres Blutvergießen zu verhindern.
Wie Putin in seiner Rechtfertigung des Kriegs wies Kirill in seinem Antwortschreiben auf die immer weiter aufrüstende Nato hin, die Russlands Sicherheit bedrohe, sowie auf die in ihren Rechten und Traditionen angeblich bedrohte Bevölkerung im Donbass. Zu dieser historischen-politischen Argumentation trat am 6. März noch eine theologische Rechtfertigung des Kriegs hinzu, als der Patriarch in seiner Predigt von einem „metaphysischen Kampf“ gegen schädliche westliche Einflüsse sprach, die sich für ihn vor allem in Gestalt von Gay-Pride-Paraden manifestieren:
„Im Donbass gibt es eine Ablehnung, eine grundsätzliche Ablehnung der sogenannten Werte, die heute von denen angeboten werden, die die Weltmacht beanspruchen. Heute gibt es einen Loyalitätstest gegenüber dieser Macht, eine Art Passierschein für diese ‚glückliche‘ Welt, eine Welt des übermäßigen Konsums, eine Welt der scheinbaren ‚Freiheit‘. [...] Der Test ist sehr einfach und gleichzeitig erschreckend – es handelt sich um eine Gay Parade.“ Mit diesen Äußerungen machte Patriarch Kirill endgültig deutlich, dass mit ihm nicht als friedensvermittelnde Kraft zu rechnen ist.
Innerorthodoxe Kritik am Moskauer Patriarchat
Die Stellungnahmen von Patriarch Kirill zum russischen Angriffskrieg und das völlige Übergehen der Hilferufe der UOK an ihr kirchliches Oberhaupt lösten bei deren Gläubigen und Geistlichen Fassungslosigkeit und Entsetzen aus. Von den Kriegshandlungen sind bisher vor allem die russischsprachigen Gebiete im Osten und Süden der Ukraine betroffen, wo die UOK regional stark verankert ist. So sind auch die meisten vom Krieg beschädigten bzw. zerstörten Sakralbauten Kirchen der UOK.
In Reaktion auf Kirills Rechtfertigung des Angriffskriegs haben zuerst Geistliche in der Eparchie Sumy, die an der Ostgrenze der Ukraine zu Russland liegt, angekündigt, den Patriarchen nicht mehr in der Liturgie zu kommemorieren, um so ein Zeichen der Distanzierung von der Kirchenleitung in Moskau zu setzen. Diesem Schritt folgte später die ganze Eparchie und weitere einzelne Geistliche und Eparchien in anderen Regionen der Ukraine.
Als Antwort warnte der Patriarch die aus seiner Sicht „schismatischen“ Geistlichen vor Konsequenzen. Eine Folge wird jedoch sicherlich sein, dass das Moskauer Patriachat den Großteil seiner Gläubigen und Gemeinden in der Ukraine – immerhin ein Drittel seiner Gemeinden weltweit – verlieren wird.
Einige sind bereits zur OKU übergetreten, und zudem gab es Aufforderungen zur Einberufung einer Bischofsversammlung der UOK, um das Moskauer Patriarchat zu verlassen und über den zukünftigen Status der UOK zu beraten. Zumindest mittelfristig scheint eine vereinigte orthodoxe Kirche in der Ukraine möglich, auch wenn die Auseinandersetzungen der letzten Jahre das Verhältnis zwischen UOK und OKU zweifellos immer noch belasten.
Aber nicht nur von Seiten der UOK stieß das Verhalten der Moskauer Kirchenleitung auf Kritik, sondern auch bei russischen Gläubigen und Geistlichen. Knapp 300 Geistliche riefen in einem offenen Brief zu einem sofortigen Waffenstillstand und Versöhnung auf. Zu den ersten Opfern des am 4. März von der Duma verabschiedeten Zensurgesetzes gehörte ein Priester in der Oblast Kostroma, der zu einer Strafe von 35 000 Rubel verurteilt wurde, weil er am 6. März – an dem Tag, als Patriarch Kirill vom „metaphysischen Kampf“ sprach – über das biblische Gebot „Du sollst nicht töten“ gepredigt hatte.
Mit deutlicher Kritik an Patriarch Kirill reagierte auch Metropolit Jean (Rennetau) von Dubna, Erzbischof der orthodoxen Kirchen russischer Tradition in Westeuropa, der ihn darauf hinwies, dass eine Billigung „dieses grausamen und mörderischen Angriffskriegs als einen ‚metaphysischen Kampf ‘“ nicht evangeliumsgemäß sei: „Nichts kann rechtfertigen und niemals ist es zu rechtfertigen, wenn die ‚guten Hirten‘, die wir sein sollen, aufhören, ‚Friedensstifter‘ zu sein.“
Auch auf der Ebene der Gesamtorthodoxie wurde der russische Angriffskrieg von den Oberhäuptern einzelner orthodoxer Lokalkirchen scharf verurteilt und deutliche Kritik an der Kirchenleitung der ROK geübt. Am 13. März, dem „Sonntag der Orthodoxie“, veröffentlichten namhafte orthodoxe Theologinnen und Theologen eine Deklaration zur Lehre über die „Russische Welt“, in der sie diese als „Häresie“ verurteilten, welche die Kirche zerstöre und spalte. Durch die Handlungen der Moskauer Kirchenleitung droht die Glaubwürdigkeit und das Ansehen der ROK auf lange Zeit Schaden zu nehmen.