Kirchenstreit über den Krieg
Die Ukrainische Orthodoxe Kirche stellt sich gegen Patriarch Kirill, ein Schisma ist das nicht
In einer ersten Euphorie entstand am Freitagabend der Eindruck, dass die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats sich endgültig von der Moskauer Kirchenhierarchie um Patriarch Kirill getrennt hat. Zwischenzeitlich war auch die Internetseite der Kirche, auf der sie ihre Erklärung veröffentlicht hatte, nicht erreichbar.
„Wir teilen nicht die Position des Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Kirill, zum Krieg in der Ukraine“, hieß es dort nach einem Landeskonzil, an dem Bischöfe, Priester, Ordensleute und Laien teilgenommen hatten. Das Konzil habe Änderungen des Kirchenstatuts angenommen, welche „die volle Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Ukrainischen Orthodoxen Kirche bescheinigen“.
Die hohen Erwartungen an die Versammlung entstanden auch dadurch, dass die Teilnehmer für die Dauer des Konzils ihre Telefone abgeben mussten. Ein wegweisendes Ergebnis sei zu erwarten gewesen, sagt die Theologin Regina Elsner, die am Berliner Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) forscht, der FAZ. Zum ersten Mal habe sich die Kirche explizit vom Moskauer Patriarchen distanziert, das sei ein „großer Schritt“, sagt Elsner.
Kirill steht fest hinter dem russischen Angriffskrieg und Kremlchef Wladimir Putin und begründet die Invasion unter anderem mit einem Kampf gegen angeblich dekadente westliche Einflüsse und spricht davon, dass der Krieg vor „Gay-Pride-Paraden“ schützen soll.
„Der Anfang von einem Weg“
Von einem Schisma kann allerdings noch keine Rede sein. „Es ist der Anfang von einem Weg, aber noch nicht das Ende“, sagt Ostkirchen-Kennerin Elsner über die Erklärung der bisher moskautreuen ukrainischen Orthodoxen. Relevant ist unter anderem die Frage, ob die Moskauer Kirchenhierarchie die Kiewer Deklaration als endgültigen Bruch auffasst. Das scheint bisher nicht der Fall zu sein.
Der Sprecher der Russischen Orthodoxen Kirche, Wladimir Legojda, erklärte auf Telegram, man habe „keine offizielle Erklärung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche erhalten“. Diese befinde sich „in einer sehr schwierigen Lage und stehe unter Druck aus vielen Richtungen: von den Behörden, von Intriganten, von nationalistisch gesinnten Menschen und den Medien“, bemühte Kirills Sprecher altbekannte Feindbilder.
Doch auch die Kiewer Konzilserklärung selbst lässt Interpretationsspielraum offen. „Sie ist deutlich, aber sie könnte noch deutlicher sein“, sagt Regina Elsner. Eine Formulierung im Sinne von „wir verurteilen die Position des Patriarchen“ wäre eindeutiger gewesen. Auch sei die im Prinzip seit 30 Jahren bestehende Eigenständigkeit betont, aber keine Autokephalie gefordert worden.
Diese bezeichnet im orthodoxen Christentum die vollständige kirchenrechtliche Unabhängigkeit von Nationalkirchen, die damit keinem Patriarchen oder Metropoliten unterstehen. Autokephalie erlangt hatte in den vergangenen Jahren die mit der Ukrainischen Orthodoxen Kirche konkurrierende Orthodoxe Ukrainische Kirche. Sie hatte sich 2018 zunächst, dem Patriarchen von Konstantinopel, Bartholomaios I., unterstellt, bis dieser sie im Folgejahr für eigenständig erklärte.
Ukrainische Nationalkirche bleibt Utopie
Die Zahl der Gläubigen der jeweiligen Kirchen in der Ukraine lässt sich nicht einfach ermitteln. Nur die Zahl der orthodoxen Kirchengemeinden ist bekannt. Demnach gehören rund 12 000 Gemeinden der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats an, während die autokephale Orthodoxe Ukrainische Kirche sowie die mit Rom unierte griechisch-katholische Kirche ungefähr je rund 7000 Kirchengemeinden umfassen.
Diese Zahlen bedeuten jedoch keineswegs, dass die Kirche des Moskauer Patriarchats, die nun den öffentlichkeitswirksamen Befreiungsschlag wagt, am meisten Rückhalt hat. Ostkirchen-Kennerin Elsner verweist auf eine jüngste Umfrage, wonach sich rund 50 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer zur autokephalen Orthodoxen Ukrainischen Kirche bekennen, aber nur ungefähr 25 Prozent zur Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats.
Letztere ist spätestens seit Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar in einer delikaten Lage. Regina Elsner betont, dass sich die Kirche überraschend eindeutig gegen den Krieg gestellt habe und Bischöfe, die Russlands Invasion unterstützen, in der klaren Minderheit sind. Vor dem 24. Februar war die Orientierung nach Moskau deutlich stärker ausgeprägt.
Gleichwohl versucht sich auch die jüngste Erklärung in einem Mittelweg, indem sie an Kiew und Moskau appelliert, die Verhandlungen fortzusetzen, um „ein starkes und vernünftiges Wort zu finden, welches das Blutvergießen stoppen könnte.“ In den vergangenen Wochen äußerten sich die Bischöfe der Ukrainischen Orthodoxen Kirche jedoch auch über die „häufigen Fälle des Schürens von religiöser Feindschaft“ in der Ukraine besorgt. Als Beispiel nannten sie Gesetzesvorschläge zum Verbot des Moskauer Patriarchats.
Mit der Erklärung vom Freitagabend äußert sich die bislang eng mit Moskau verbundene Kirche auch über das Verhältnis zu den autokephalen Glaubensbrüdern. Sie spricht sich für einen Dialog aus, stellt für einen solchen jedoch Vorbedingungen, die für die in dem Dokument in Klammern geschriebene „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ kaum annehmbar sind.
Solange die eine die andere Kirche implizit oder explizit als illegitim betrachtet, wird die Glaubensspaltung anhalten – und die Idee der einen orthodoxen Nationalkirche eine ferne Utopie bleiben. Regina Elsner spricht davon, dass in dem seit Jahren andauernden Streit auch die Orthodoxe Ukrainische Kirche „viel Glas zerbrochen hat“. Es zeigt sich: Die exakt gleiche Liturgie in allen drei orthodoxen Kirchen im Land ist noch keine hinreichende Voraussetzung für Ökumene.
Dieser Beitrag ist ursprünglich am 29.5.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.