Der süße Traum vom ewigen Frieden
Frieden gibt es nur, wenn wir Putin ächten und auch moralisch verurteilen
Wenn zwei des Lesens und Schreibens noch unkundige Kinder, die keinen Begriff von Krieg und Frieden haben, im gleichen Zimmer mit ihren Autos spielen, kann man sicher sein: Das eine wird bald dem anderen das Spielzeug wegnehmen. Und die Obrigkeit muss schlichtend eingreifen. Auf die Ebenen der Gesellschaft und der Staaten „hinaufgebrochen“, hat diese Schwäche der menschlichen Natur bekanntlich weit dramatischere Folgen. Deshalb war die Aufklärung bemüht, den menschlichen Drang zur Ausweitung der Einflusssphäre in vernünftige Bahnen zu lenken. Die Religionskriege des 17. Jahrhunderts luden dazu gebieterisch ein.
Viel Spott hat diesbezüglich der Abbé de Saint-Pierre ertragen müssen. Sein „Traktat über den fortdauernden Frieden“ aus dem Jahr 1712, verfeinert im „Abrégé“ von 1729, beinhaltete den Vorschlag, mittels eines Vertrags zwischen den europäischen Herrschern einen ewigen Bund zu schließen. Dieser sollte geeignet sein, die Völker „für alle Zeit“ vor Kriegen zu bewahren. Ein von allen Fürsten zu finanzierender Bund sollte über diesen Frieden wachen sowie über das Versprechen, „auf immer“ darauf zu verzichten, Streitigkeiten mit Waffengewalt auszutragen.
Sarkastisch betrachtet, beißt sich in Saint-Pierres Projekt die Katze in den Schwanz. Denn es sieht vor, dass die Zuwiderhandlung eines Fürsten gegen den Bund von Letzterem mit Waffengewalt zu ahnden sei. Gleichwohl gilt Saint-Pierre bis heute zu Recht als Urahn einer europäischen Friedensordnung.
Rousseau und der ewige Frieden
Jean-Jacques Rousseau hat in seinem „Gesellschaftsvertrag“ selbstbewusst „die wahren Grundsätze des Staatsrechts“ aufgestellt. An dessen Ende musste er jedoch bekennen, die auswärtigen Beziehungen des Staats sowie das „Kriegs- und Eroberungsrecht“ stellten für seinen beschränkten Gesichtskreis einen zu ausgedehnten Gegenstand dar. Dennoch beugte sich der Bürger von Genf über Saint-Pierres Utopie und versuchte im Jahr 1761, diese zu popularisieren.
Rousseau verhalf dadurch der grundsätzlich richtigen Einsicht zur Verbreitung, dass Staaten durch Vertragswerke verbunden werden sollten, um ihren Expansionsdrang zu hemmen. Seine ebenfalls Saint-Pierre gewidmete „Beurteilung eines fortdauernden Friedens“ ließ Rousseau allerdings erst postum drucken.
Bei allem Respekt vor Saint-Pierre fragte er skeptisch, ob ein europäischer Staatenbund zu wünschen oder zu fürchten sei. Da Staatenbünde nur durch Umwälzungen entstünden, könne die Umsetzung von Saint-Pierres Idee auf einen Schlag mehr Übel verursachen, als er für Jahrhunderte verhindern würde.
Kant und der ewige Frieden
Auch Kant laborierte an der definitiven Überwindung des Kriegs. Seinen Klassiker „Zum ewigen Frieden“ publizierte er in Saint-Pierres und Rousseaus Tradition in der Form eines Vertragswerks, gegliedert in „Definitivartikel“, Zusätze und einen Anhang. Ebenfalls legte Kant den Schwerpunkt auf völkerrechtliche Instrumente, um den ewigen Frieden zu sichern. Bei ihm ist auch die Überlegung zu finden, dass Republiken weniger kriegslustig seien, weil jeder Bürger zustimmen müsse, die Lasten des Kriegs zu tragen.
Die späteren Entwicklungen haben diese Hoffnung nur teilweise bestätigt. Aber Kant war nicht naiv: Gegen Spott und Hohn immunisierte er sich, indem er eingangs seiner Schrift fragte, ob der Titel „Zum ewigen Frieden“ allen Menschen gelte, besonders den Staatsoberhäuptern, „die des Krieges nie satt werden können“, oder nur den Philosophen, „die jenen süßen Traum träumen“.
Constant und der Frieden
Ein zweiter Strang zur Sicherung des internationalen Friedens ist nicht etatistisch geprägt, sondern gewissermaßen privatrechtlich und liberal. Er ist zu finden in der wenig beachteten, aber bedeutsamen Schrift von Benjamin Constant „Vom Geist der Eroberung und von der Anmaßung der Macht“ aus dem Jahr 1814. Der aus Lausanne stammende Nachfahre von Hugenotten hielt dafür, dass sich die Zeiten geändert hätten. Wertvorstellungen, wonach der Krieg der Befriedigung der Ruhmsucht diene, seien anachronistisch geworden.
„Wandel durch Handel“: Diesen Mechanismus hat schon Constant erkannt. Denn wir seien in das Zeitalter des wirtschaftlichen Austauschs eingetreten, welches notwendig das Zeitalter des Kriegs ersetzen werde. Krieg durchkreuze vorrangig gewordene Handelsinteressen und werde deshalb von den modernen Völkern abgelehnt. Zu denken sei dabei nicht nur an die Lage im Inland, sondern auch an die immer engeren internationalen Wirtschaftsbeziehungen.
Ein „Eroberungssystem“, so Constant, könne heute deshalb nur noch auf „Lug und Trug“ seitens der Regierung gründen. Das Volk müsste von ihr getäuscht werden, um Krieg führen zu wollen. Aber selbst dann hätte eine Regierung, weil die Menschen so stark vom Widerwillen gegen Eroberungen erfüllt seien, weder im Falle des Sieges noch der Niederlage Unterstützung im Volk zu erwarten.
Ächtung des Aggressors
Internationale Organisationen und Verträge, Bündnisse, Demokratisierung und die Vorrangigkeit der Wirtschaft, von deren Verkehr man den Aggressor ausschließt: Diese Rezepte wurden seit dem beginnenden 19. Jahrhundert verfeinert und stellen heute den Goldstandard dar, wenn es – jenseits der militärischen Mittel – den Geist der Eroberung zu bekämpfen gilt. Der Widerstand gegen Putins Krieg zeigt es.
Es gibt jedoch einen Gedanken Constants, den sich weiterzudenken lohnt. Er sieht ein Element des Kampfs gegen das „Eroberungssystem“ in der globalen Ächtung und moralischen Verurteilung des Aggressors. Als gelte es, den Eroberer nicht nur mit Granaten einzudecken, sondern auch mit Moralpredigten, hat Constant vorgeschlagen, man solle ihm seitens der Völker sagen: „Wollt Ihr in einem gesitteten Zeitalter herrschen, so lernt Gesittung. Beansprucht Ihr friedliebende Völker zu regieren, so lernt den Frieden.“ So werde der Eroberer „dem Abscheu aller ausgeliefert“. Und das System der Eroberung werde „verdammt zu ewiger Schmach“.
Es mag scheinen, dass dies ein schwaches Werkzeug ist, verglichen mit der militärischen Härte eines Aggressors. Es gilt jedoch zu bedenken, wie Reinhart Koselleck in „Kritik und Krise“ den Umwälzungsprozess zwischen dem Westfälischen Frieden und der Französischen Revolution beschreibt. Demnach wurde ein Umschwung bewirkt durch die immer öffentlichere Kritik und die moralische Verurteilung jener Kaste, welche die politische Macht monopolisiert hatte.
Im Untergrund der Klubs, der Logen und der intellektuellen Zirkel zu politischer Machtlosigkeit verurteilt, untergrub eine anschwellende moralische Verurteilung die herrschenden Kräfte und zerrte sie vor das Tribunal der Vernunft. Kritik schuf zum Macht- und Gewaltstaat eine immer offensiver auftretende, moralisch überlegene Gegenöffentlichkeit. Der Kritik ist es schließlich gelungen, die Machthaber in die Krise zu treiben und die Oberhand zu gewinnen, denn sie vermochte die Köpfe und Herzen der Menschen zu gewinnen.
Heute: Geduldiges Bemühen um Frieden
Heute stellt sich die Frage, wo diese an sich machtlose, aber doch nicht zu unterschätzende geistige Elite geblieben ist. Sie existiert, getraut sich aber mehrheitlich nicht, die westliche Kultur, die zweifellos auch ihre Schwächen hat, gegen die Feinde der Freiheit, des Rechtsstaats und der Menschenrechte als die moralisch überlegene Kultur zu verteidigen. Sie druckst herum, wenn totalitäre Aggressoren, die den Westen verachten, ein Land wie die Ukraine angreifen, gerade weil es Teil der westlichen Freiheitskultur werden möchte.
Trotz der unleugbaren Tatsache, dass der Geist der Eroberung im Kinderzimmer beginnt, ist auch heute nicht die Zeit moralischer Selbstrelativierung des Westens. Geduldiges Bemühen um einen stets vorläufigen Frieden mittels der völkerrechtlichen, wirtschaftlichen und moralischen Instrumente, die Rousseau, Kant und Constant konzipiert haben, ist auch heute der richtige Weg.
Er muss im nüchternen Bewusstsein gegangen werden, dass es den „ewigen Frieden“ in dieser Welt und Zeit nicht geben wird. Dessen war sich im Übrigen auch Kant bewusst. Den Titel seiner staatstragenden Friedensschrift hat er, wie er ironisch bemerkt, dem Schild eines holländischen Gastwirts entlehnt.
Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen sowie theologischen Fragen. Sein Beitrag ist ursprünglich am 9.6.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung