Gasmangel: Wird der Winter kalt?
Die Gas-Lagerbestände sinken, und Nord Stream 2 könnte Europa bald Kopfzerbrechen bereiten
Im kommenden Winter könnte es in Deutschland wie auch in einigen anderen EU-Ländern sehr kalt werden. Doch nicht wegen der Erderwärmung, die zwischendrin immer wieder auch für große Abkühlung sorgt, sondern weil die Heizsaison gefährdet ist.
Tatsächlich waren die größten europäischen Gasspeicher im deutschen Rehden und österreichischen Haidach noch nie so leer wie in diesem Sommer. Und leer bleiben sie deshalb, weil der russische Staatskonzern Gazprom die Liefermengen drastisch heruntergefahren hat, wohl um eine Drohkulisse aufzubauen, welche die Inbetriebnahme der umstrittenen Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 erzwingen soll.
Davon ist die laufende Versorgung vorerst nicht berührt, weil Gazprom, so der deutsche Energieexperte Heiko Lohmann, die gegenwärtig benötigten Liefermengen aus anderen europäischen Speichern zu nehmen scheint und diese „möglicherweise sogar durch den Zukauf von Handelsmengen auf dem europäischen Markt“ sicherstellt. Anders gesagt: Auch in anderen EU-Staaten leeren sich die Gasspeicher allmählich, was im Winter zu Versorgungsengpässen führen könnte.
Nord Stream 2: Geopolitisches Projekt
Seit Wladimir Putins Machtübernahme versteht sich Russland als Energiegroßmacht. Die neuen Gaspipelines Nord Stream 2 und Turk Stream sind keine „rein wirtschaftlichen Projekte“. Deren geopolitisches Ziel – neben der Bestrafung und Destabilisierung der unbotmäßigen Ukraine für ihre Westorientierung – ist vor allem „Teile und herrsche“ in Bezug auf die Europäische Union. Ein Blick auf die Karte der Gasnetze Europas genügt, um zu erkennen, wie die Ukraine und ihre osteuropäischen Nachbarn von Nord Stream 2 und Turk Stream in die Zange genommen werden sollen.
Wie einst zu Sowjetzeiten lässt sich der Kreml die Erweiterung seiner Einflusssphäre einiges kosten. Bei geostrategischen Projekten dieser Dimension scheinen die zu erwartenden Margen eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Analytiker der Sberbank CIB sehen die größten Bauunternehmer, die von Putins Freunden Arkadi Rottenberg und Gennadi Timtschenko kontrolliert werden, als Nutznießer des Pipeline-Geschäfts. Ihren Schätzungen nach erreichten die gesamten Ausgaben für Nord Stream 2, Turk Stream und Kraft Sibiriens 93,4 Milliarden Dollar. Dabei hätte Turk Stream nicht einmal in fünfzig Jahren und Nord Stream 2 auch nicht in zwanzig Jahren rentieren können. Machtpolitik und Korruption bedienen sich gegenseitig.
EU-Richtlinien und steigende Gaspreise
Nun aber läuft der Countdown. Ende August wurde die Klage des Nord-Stream-2-Betreibers gegen die Anwendung der im Jahre 2017 von der EU-Kommission erlassenen Richtlinie, die für den Wettbewerb auf dem Gasmarkt sorgt, vom Oberlandesgericht Düsseldorf abgewiesen. Laut dieser Richtlinie müssen Netz und Betrieb voneinander getrennt sein, soll anderen Unternehmen diskriminierungsfreier Zugang zum Netz gewährt und dürfen die Transportpreise nicht vom Transporteur kontrolliert werden.
Eine Stunde nach der Gerichtsentscheidung am 23. August, berichtete Bloomberg, habe Gazprom den Gasverkauf für 2022 über seine elektronische Handelsplattform ETP ausgesetzt. Danach befänden sich Gashändler nun „am Limit“: Ihnen fehle die Zeit, um die Speicher bis zum Winter, wenn die Nachfrage schlagartig steigen werde, füllen zu können. Seit Anfang des Jahres stiegen die Gaspreise in der EU um fast 193 Prozent, von denen gegen 30 Prozent auf die Halbierung der Gaslieferung durch die Pipeline Jamal-Europa seit Ende Juli zurückzuführen sind.
Verliert der Konzern auch beim Bundesgerichtshof, dann darf Nord Stream 2 lediglich die Hälfte des beabsichtigten Gasvolumens von 55 Milliarden Kubikmetern Gas durch die Röhre pumpen und muss einem anderen Gasanbieter den Zugang ermöglichen. Folglich wäre Gazprom gezwungen, die ukrainische Leitung auch nach dem Ende des vertraglich vereinbarten Transits im Jahre 2024 zu bedienen.
Der Wolf im Stall
Doch selbst wenn Gazprom auf dem Rechtsweg unterliegen würde, so der bekannte ukrainische Journalist Witali Portnikow, könnte das Unternehmen Mittel finden, gegen welche europäische Gesetze wenig ausrichten können. Allein ein Auftauchen neuer Unternehmen oder die Einbindung von Rosneft, das Putins Freund Igor Setschin gehört, könnte für „Wettbewerb“ sorgen. Die Renditen, bemerkt Portnikow, würden trotzdem in derselben Tasche landen.
Für die Ukraine und auch Deutschland käme die Stunde der Wahrheit im Winter 2023/24, wenn der Transitvertrag mit der Ukraine auslaufen würde. Dann „sehen wir uns mit Havarien von Gasleitungen in der Ukraine, leeren Gasspeichern und Aufrufen in Europa, EU-Gesetze zugunsten von Gazprom zu ändern, konfrontiert. Der Winter 2023/24 kann für Europa kalt und teuer werden.“
„Aber was tun?“, fragt Portnikow ratlos. „Die Europäer haben selbst den Wolf in den Stall gelassen.“
Die leeren Speicher in diesem Herbst könnten der Vorbote eines künftigen Frosts sein.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin. Ihr Beitrag ist ursprünglich am 9.9.2021 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung
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