Dreht Russland am Gaspreis?
Was für den Gaspreisanstieg verantwortlich ist und warum Gazprom auf einem schmalen Grat wandert
„Verwaltungsratsvorsitzender der Betreibergesellschaft Nord Stream und Nord Stream 2 sowie des Mineralölunternehmens Rosneft“ ist ein langer und sperriger Titel, den es auch in kurz gibt: Gerhard Schröder. Der Bundeskanzler a. D. sah sich am vorigen Dienstag genötigt, zur Feder zu greifen und über das Handelsblatt eine Garantie in Sachen Verlässlichkeit des russischen Gasgeschäfts abzugeben. „Der Schuldige für den Preisanstieg ist für manche ... schnell gefunden: der russische Präsident Wladimir Putin. Er drehe den Gashahn zu, daher müssten wir Europäer einen kalten Winter fürchten“, schrieb Schröder und stellte apodiktisch fest: „Dass dies mit der Realität nichts zu tun hat, scheint nicht zu interessieren.“
Selbstverständlich interessieren die Details zur russischen Gaspolitik, sie elektrisieren die Märkte sogar und führen zu wilden Spekulationen von Moldau bis Portugal. In Deutschland schwankt die Stimmung zwischen nervöser Empörung und demonstrativer Gelassenheit, wenn etwa das Wirtschaftsministerium Zahlen zur Gasversorgung veröffentlicht, die nun wahrlich wenig Grund zur Beunruhigung liefern.
Die in großer Regelmäßigkeit wiederkehrenden Gaskrisen in Europa haben natürlich auch mit dem russischen Marktverhalten zu tun, weil der EU-Teil des Kontinents mehr als ein Drittel seines Gasbedarfs aus Russland bezieht. Gleichwohl ist der globale Energiemarkt aus vielen Gründen in diesem Jahr durcheinandergeraten: Nach der Pandemie ist die Industrieproduktion und damit auch der Energiebedarf stärker gestiegen als vorhergesagt. Vor allem die wirtschaftliche Erholung Chinas trägt zum Energiekonsum bei. China profitiert vom Flüssiggasmarkt, wo das Produkt per Schiff zum Höchstbietenden gebracht wird. Großhandelspreise am niederländischen Handelspunkt TTF sind seit Januar um 400 Prozent gestiegen.
Zusätzlich wird der Markt durch die Debatte über den Kohleausstieg angeheizt. Mit der drohenden Dekarbonisierung vor Augen werden Preise neu kalkuliert und Wachstumsmodelle neu gerechnet.
Warum liefert Russland nicht mehr Gas?
Am Marktverhalten Russlands scheiden sich die Geister, weil eine Beurteilung in diesem Fall auch immer zum Politikum wird. Sicher scheint aber zu sein, dass sich der weltgrößte Förderer, Gazprom, auf einer schwierigen Gratwanderung befindet zwischen politischer Marktbeeinflussung und Verlässlichkeit. Bisher gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass Russland seiner Vertragspflicht nicht nachkommt. Aber mehr als vereinbart fließt eben auch nicht – und die Frage bleibt unbeantwortet, warum der gestiegene Bedarf nicht nach marktwirtschaftlichen Regeln befriedigt wird.
Russland hat gleich zwei Probleme mit der Europäischen Union: Das Thema Verlässlichkeit der Gasversorgung könnte schnell umschlagen und die Umstellung auf neue Energiequellen in Europa beschleunigen. Vor allem aber wird dem russischen Staat seine Abhängigkeit vom fossilen Energiegeschäft immer stärker bewusst. Der EU-Botschafter in Moskau, Markus Ederer, erinnerte gerade daran, dass 20 Prozent des russischen Bruttosozialprodukts, 40 Prozent des Budgets und 60 Prozent der Exporte vom kohlenstofflastigen Energiesektor abhingen – und die meisten Energie-Handelspartner Russlands streben CO2-Neutralität bis 2050 an.
Das Thema Verlässlichkeit könnte sich also als zweischneidiges Schwert herausstellen. In Brüssel wurde exakt registriert, dass der russische Botschafter bei der EU, Wladimir Tschischow, in einem Interview mit der Financial Times andeutete, dass Russlands Einstufung als „Gegner“ durch die EU nicht gerade hilfreich gewesen sei. „Tausche Gegner gegen Partner, und die Dinge werden sich leichter lösen lassen“, ließ er unmissverständlich fallen.
Wie intensiv Russland das Spiel mit der Versorgung treiben kann, zeigen Hilferufe aus der Republik Moldau, wo die Versorgung um angeblich ein Drittel der bisherigen Gasmenge zurückgegangen ist. In Bulgarien, wo im November zum dritten Mal in diesem Jahr gewählt werden muss, machte Russlands Botschafter Druck und forderte eine langfristige vertragliche Bindung an Gazprom. Die Sorge: Sofia könnte sich andere Lieferanten im Kaukasus suchen. Ungarn hat vor wenigen Tagen zu guten Konditionen einen neuen Liefervertrag mit Gazprom geschlossen – unter Umgehung des bisherigen Transitlands Ukraine, was zu heftigen Spannungen zwischen den beiden Ländern geführt hat.
Das ultimative Spiel um Einfluss aber steht in Deutschland bevor, wo nach der Fertigstellung der Pipeline Nord Stream 2 ein Poker um Zulassung und Freigabe begonnen hat. Gerade wird die Röhre mit Gas befüllt, angeblich zum Test der Dichtigkeit. Die Sorge ist aber, dass Russland die Versorgung bewusst knapp halten könnte, um die Inbetriebnahme der neuen Pipeline als einen Akt der Rettung zu erzwingen. Dazu müssen aber regulatorische Hürden überwunden und eine Betriebsgenehmigung der EU-Kommission erteilt werden. Geschätzter Zeitbedarf: bis Februar oder März. Zu lange, wenn die neue Bundesregierung die Haltung Deutschlands zur Röhre überdenken – und am Ende eine Entscheidung gegen Russland fällen könnte.
Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 13.10.2021 / Alle Rechte vorbehalten: Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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