Ukraines langer Weg in die EU

Ein hartes „Nein“ belohnte Putins kriminelles Verhalten, aber noch gibt es große Vorbehalte

Der lange Weg ans Ziel: Ukraine in die EU
Let me know the way: Ukraines Weg in die EU wird eine "long and winding road".

Mit jedem Kriegstag wird das Drängen der Ukraine lauter, das bedrohte Land fleht förmlich um die Aufnahme in die EU. Doch wie eine heiße Kartoffel schieben die Gremien der EU das Thema hin und her.

„Was will eigentlich Berlin?“, fragen sich ausländische Diplomaten und Journalisten in Brüssel. Die Antwort lautet: Genaues weiß man nicht, Berlin beobachtet von der Seitenlinie.

Vielsagend-nichtssagend sind die Beschwichtigungen eines deutschen Diplomaten: „Wir warten erst einmal ab, welche Empfehlung die EU-Kommission zum ukrainischen Beitrittsgesuch aussprechen wird“, gibt er die formale Berliner Linie wieder.

Dabei ist das Votum der EU-Exekutive unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die zur Übergabe des Aufnahmeformulars an die ukrainische Regierung eigens nach Kiew reiste, ziemlich absehbar: Die EU-Kommission kann kaum anders als dem Land im Überlebenskampf die Hand zu reichen und seine Akzeptanz als EU-Beitrittskandidat zu empfehlen. Jede andere politische Geste wäre ein verheerendes Signal.

„Die Ukraine gehört zur europäischen Familie“, sagt die Kommissionschefin eindeutig. Allenthalben werden ukrainischer Heldenmut und der feste Wille zum europäischen Weg bewundert. Ein „hartes Nein würde doch nur Putins kriminelles Verhalten belohnen“, fasst Jonathan Katz in einem aktuellen Statement des German Marshall Fund zusammen.

Zur klaren Aussage ist die EU allerdings noch nicht bereit. Nicht nur, dass es ihr an einer gemeinsamen strategischen Kultur gebricht, sie ist auch nicht auf die Aufnahme und Verteidigung eines Lands im Kriegszustand vorbereitet. Zudem verfehlte auch eine Ukraine im Frieden bei weitem die EU-Kriterien zur Beitrittsreife.

So versteckt sich wie beim Schwarze-Peter-Spiel in schwieriger Lage nicht nur Berlin hinter der Kommission, sondern diese wiederum hinter dem Rat der EU-Regierungschefs. Beim kommenden EU-Gipfel am 23. und 24 Juni wird die Gemeinschaft Farbe bekennen müssen.

EU-Kandidat Ukraine? Nur 8 EU-Staaten dafür

Die Kommission empfiehlt mehrere Varianten, doch nur das einstimmige Votum der Chefinnen und Chefs ist entscheidend für die Aufnahme neuer EU-Mitglieder in die Union, wie auch die Zuerkennung des Kandidatenstatus dafür.  Unter welcher Formel eine Zusage gegeben werden könnte, ob es ein „vorläufiger Status “, ein „Vorbeitrittsraum“ oder ein klassischer „Beitrittskandidatenstatus“ sein wird, darüber wird zwischen den EU-Hauptstädten und der europäischen Diplomatie heftig gerungen.

Nur 8 der 27 EU-Mitgliedsländer stehen derzeit laut einer Umfrage des EU-Portals euractiv bedingungslos hinter der Gewährung des ersten Schritts an die Ukraine: der vollwertige Status als Aufnahmekandidat. Er geht dem langjährigen Aufnahme- und Verhandlungsprozess voraus.

Zu den Befürwortern zählen vornehmlich Osteuropäer, aber auch Irland. Andere äußern sich zögerlich bis abwartend. Größte Skeptiker: die Regierungen Deutschlands, Frankreichs, der Niederlande und Österreichs.

Doch die Dinge geraten in Bewegung, seit die Allianz der Europäischen Liberalen, ALDE, bei ihrem Parteitag Anfang Juni in Dublin die Partei des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky in ihre Reihen aufgenommen hat. Seit die Ukraine ihren Entwicklungsminister Oleksij Tschernyschow zu Sondergesprächen mit dem Kanzleramt und Bundesministerien nach Berlin sandte, steigt die Aufmerksamkeit auch in der deutschen Hauptstadt. Neben prominenten Befürwortern der Grünen, der SPD und der FDP, sprach sich der Europaparlamentarier und soeben neugewählte Chef der Europa-Konservativen EVP Manfred Weber für den Kandidatenstatus der Ukraine und eine klare Europa-Perspektive aus.

Andere Vorschläge wie ein Schnell-Beitrittsrabatt „auf der Überholspur“ oder die lose, geostrategische „political community“, eine Schnell-Idee des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, sind dagegen offenbar vom Tisch. „Wir brauchen keine Alternative zum EU-Beitritt“, giftete Selensky an das französische Staatsoberhaupt zurück.

Welche Einwände gibt es?

Schwerer wiegen Einwände außenpolitischer Kenner, für die ein EU-Beitritt ohne gesicherte Landesgrenzen vor einem Friedensschluss unvorstellbar ist.  Die EU-Verträge sehen die Aufnahme eines Antragstellers im kriegerischen Konflikt mit Nachbarn nicht vor. Wegen der Beistandsklausel (Art. 42, Abs. 7, EU-Vertrag) würde die gesamte EU zur Kriegspartei.

Auch ein „frozen conflict“ ist ein Hinderungsgrund. Dies auszublenden, rächte sich beispielsweise mit der Aufnahme Zyperns, das in bislang ungeklärten Dauerhändeln mit der Türkei liegt, zum Beispiel bei der Gasförderung im Mittelmeer.

Für die deutsche Regierung kaum denkbar ist auch eine Komplett-Zusage an das sogenannte Beitrittstrio – Ukraine, Georgien, Moldawien. Alle drei Länder haben Aufnahmegesuche an die EU gerichtet. „West-Balkanländer, die bereits Kandidatenstatus haben, dürfen keinesfalls benachteiligt werden“, formuliert ein Vertreter der deutschen Delegation in Brüssel eine der roten Linien Berlins.

Im Hintergrund wird über die französischen und deutschen Vorbehalte auch gemutmaßt, dass die zwangsläufigen Gewichts- und Achsenverschiebungen innerhalb des Staatenbündnisses Paris und Berlin zögern lassen: Gemeinsam kämen Polen und die Ukraine auf eine Bevölkerungszahl von mehr als 80 Millionen Einwohnern; sie hätten somit bei künftigen Entscheidungen im EU-Rat nicht nur ein großes Stimmengewicht, sondern auch gewaltiges osteuropäisches Druck- und Drohpotential. Die Kern- und Westachse um Deutschland und Frankreich dagegen wäre deutlich geschwächt.

Weithin unterschätzt wird auch der Prozess eines EU-Beitritts, ein kleinteiliges, mühevolles Verfahren, bei dem die Kopenhagener Kriterien von 1993 und deren späteren Ergänzungen die Standards für eine Mitgliedschaft sowie deren Erfüllung festlegen. Die Kandidaten müssen ihre wirtschaftliche und demokratische Reife nachweisen; auch sind sie verpflichtet, den sogenannten acquis communitaire, also den gesamten EU-Rechtsbestand, der mehr als 100 000 Seiten umfasst, in ihre nationalen Gesetzbücher aufzunehmen und ins nationale Recht umzusetzen. Derzeit unvorstellbar für ein Land wie die Ukraine, bei dem der Aufbau der öffentlichen Verwaltung auch nach einem Friedensschluss Jahre dauern wird.

Zunächst werden beim Start des Aufnahmeverfahrens 35 Politikbereiche im Kandidatenland gescreent – die sogenannten Verhandlungskapitel, darunter jene für Landwirtschaft, Energie, Umwelt, Verkehr, Sozialpolitik bis zu Steuern, Wettbewerbspolitik, öffentliches Auftragswesen, Justiz, Finanzkontrolle, aber auch der Zustand der Institutionen. Kapitel für Kapitel werden anschließend Reformziele definiert, deren Erfüllung Fachbeamte der EU-Kommission vor Ort prüfen müssen, wobei es notorisch zu Verzögerungen kommt, weil Zwischenziele und Hilfen ausgehandelt werden müssen. Auf der Grundlage abschließender Kommissionsempfehlungen entscheidet der EU-Rat der Regierungschefs schließlich über Aufnahme oder Ablehnung des Kandidaten.

Experten beurteilen die bisherigen Erfahrungen mit den EU-Osterweiterungen diplomatisch als „gemischt“. Viele Länder der ersten Osterweiterung vom Jahr 2004 haben auf wirtschaftlichem und sozialpolitischem Gebiet enorme Zugewinne vorzuweisen. Teilweise haben sie westliche und südliche Länder im Lebensstandard überholt. Beim kaufkraftbereinigten Bruttosozialprodukt pro Kopf lag 2019 etwa die Tschechische Republik vor Spanien und Portugal; alle baltischen Länder überholten mittlerweile Griechenland und Kroatien.

Wie der Münchener Politikwissenschaftler Christian Hagemann 2022 in einer Studie für die Bundeszentrale für Politische Bildung feststellt, sind auch die 2007 aufgenommenen Länder Rumänien und Bulgarien fast 15 Jahre nach dem EU-Beitritt beim wirtschaftlichen Fortschritt beachtlich erfolgreich. Bei den Kapiteln „Korruption“, „Rechtsstaatlichkeit “ und „Regierungsführung“ indes werden trotz vieler Anstrengungen die geforderten EU-Standards noch immer nicht erfüllt. Teilweise fielen sie gemessen am „Demokratieindex“ – ein von der NGO „Freedom House“ zusammengestellter Kriterienkorb – zurück.

Ungarn wird seit 2019 schon gar nicht mehr in diesem Ranking aufgeführt – es zählt nach den Kriterien nicht mehr zum Lager der Demokratien, sondern wird als ein autokratisches-autoritäres System gewertet. Auch Polen und die Slowakei sind stark abgerutscht. Allein Estland hat sich seit dem Beitritt der „neuen“ Länder verbessert. Studienautor Hagemann kommt dennoch zum Schluss, dass sich Länder wie Rumänien und Bulgarien ohne EU-Beitritt nicht besser in Sachen Demokratie entwickelt hätten.

Ukraine erfüllt die EU-Standards noch nicht

Verglichen damit erfüllt die Ukraine als postkommunistisches Land bei Weitem nicht die EU-Standards. Durch Klientelwirtschaft und Klüngeleien, durch willkürliche Eingriffe in die Justiz wie etwa gestoppte Korruptionsverfahren, intransparente Einflüsse der Oligarchen auf Wirtschaft und Verwaltung geriet die Regierung Selensky vor dem Krieg immer wieder in die Negativschlagzeilen.

Mit einem Durchschnittsmonatseinkommen von rund 400 Euro liegen die Ukrainerinnen und Ukrainer beim Lebensstandard deutlich unter anderen Ländern Mittel- und Südosteuropas. Experten schätzen daher, dass trotz Vorbeitrittshilfen und erleichterten Binnenmarktzugängen allein der Aufnahmeprozess mindestens ein Jahrzehnt dauern wird.

Nicht berücksichtigt sind dabei die künftig notwendigen Wiederaufbauleistungen zur Beseitigung von Kriegsschäden, die in Höhe von mehreren Billionen Euro auf die EU zukommen dürften. Bereits jetzt erhält das Land Hilfen in Milliardenhöhe, um die Gehälter von Verwaltungs- und Militärbediensteten bezahlen zu können.

Dennoch: Will die Europäische Union als geopolitischer Akteur ernstgenommen werden, muss sie rasch ein positives Beitrittssignal an das Land in großer Notlage aussenden. Es zählt zu den Paradoxien des schrecklichen Kriegs, dass er die EU zusammengeschweißt hat, dass mittlerweile viele Länder Osteuropas bei den jüngsten Wahlen von ihrem Weg in Richtung „illiberale Demokratie“ umgekehrt sind, dass Ungarn isoliert ist, Polen dagegen in Sachen Flüchtlingshilfe und Solidarität zum neuen Vorzeigeland innerhalb der EU wurde.

Auch wächst laut Eurostat-Bevölkerungsumfragen der Wille zu einem europäischen Sicherheits- und Verteidigungsbündnis wie zu einem Kontinent der autarken Energieversorgung. Der geplante Nato-Beitritt Schwedens und Finnlands wird zudem vor allem deren europäischen Pfeiler stärken.

Hinzu kommt: Der Druck auf die EU zu überfälligen Reformen ihrer Entscheidungsprozesse und ihrer Institutionen steigt mit jedem neuen Mitglied.  Nicht unbedingt werden es die vieldiskutierten Mehrheitsentscheidungen und die Abschaffung der Veto-Rechte richten: Die mit Mehrheit gefassten Beschlüsse zur Aufnahme von Flüchtlingen in der Syrien-Krise 2015 wurden beispielsweise von etlichen Ostländern nicht befolgt. Dem schlechten Beispiel folgend, könnten es andere gleichtun, sobald sie sich von der Mehrheit überfahren und in ihrer Souveränität bedroht fühlen.

Vielmehr wird es auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ankommen, mit modularer Integration. So wie jetzt schon unterschiedliche Zugehörigkeiten zum Schengen- oder Euroraum gelten, müsste es wie in jedem Club weitere Platin-, Gold- oder Silber-Standards geben, je nach Übernahme und Erfüllung der EU-Gesetze, bei gleichwohl vollwertiger EU-Zugehörigkeit.  Oder wie die Analystinnen Sophie Pornschleger und Ilke Toygür in einem Beitrag für das European Policy Center (EPC) jüngst schrieben: „Nach Russlands Invasion in die Ukraine ist Einigkeit gut, aber Ehrgeiz ist besser.“

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