Osteuropa

Staat, Familie, Vaterland

Autoritärer Konservatismus bringt in Polen, Russland und Weißrussland die Ideologie zurück in die Politik

Die jüngste Vergangenheit wird möglicherweise als Dekade des Populismus in die Geschichte eingehen. Eine weitverbreitete Erklärung dieses Erfolgs lautet, dass Populisten ihre politischen Programme nach den Präferenzen ihrer Wählerschaft ausrichten und so eine möglichst breite Unterstützung in der Bevölkerung herstellen.

Dieser Befund mag für die ersten Jahre vieler populistischer Herrscher zutreffen. Mittlerweile zeigt sich aber in der Herrschaft der vermeintlichen Populisten die Beharrungskraft konservativer Ideologien.

Auf bizarren Nebenschauplätzen werden ideologische Gefechte ausgetragen, die einer politischen Raison auf das Schärfste widersprechen. In Russland zerstört der Kreml den nationalen Schulterschluss, der die öffentliche Stimmung nach der Annexion der Krim prägte, wegen einer Youtube-Herausforderung durch den wenig populären Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. In Weißrussland provoziert der langjährige Diktator Lukaschenko mit einem eklatant gefälschten Wahlresultat die größten Proteste, die das Land seit Jahren gesehen hat. In Polen gefährdet die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) den sozialen Frieden, weil sie ihre ultrakonservative Haltung in der Abtreibungsfrage um jeden Preis durchsetzen will.

Warum sind Ideen langfristig wichtiger als machiavellistisches Machtkalkül?

Russland: „die einzigartige Zivilisation“

Wenn es in der Ära Putin eine ideologische Konstante gibt, dann ist es zweifellos die Überzeugung, dass Russland eine eigene Zivilisation bilde und nicht nach westlichen Vorbildern reformiert werden dürfe. Ideologisch konnte diese Position mit der berühmten Theorie des „Clash of Civilizations“ begründet werden. Der konservative Politikwissenschafter Samuel Huntington hatte in den neunziger Jahren die These formuliert, dass die globalen Konflikte der Zukunft sich nicht mehr zwischen Nationalstaaten, sondern zwischen unterschiedlichen Zivilisationen abspielen werden.

Huntington identifizierte neun verschiedene Zivilisationen, darunter die westliche und die orthodoxe. Die entscheidenden Merkmale in der von Russland dominierten orthodoxen Kultur erblickte Huntington im Fehlen der Kulturtraditionen von klassischer Antike, Renaissance und Aufklärung sowie in der kontinuierlichen imperialen Ausdehnung auf dem eurasischen Kontinent.

In Russland nahm man Huntingtons Theorie weniger als analytisches Begriffsangebot wahr. Vielmehr nutzte man sie als ideologische Begründung des russischen Sonderwegs.

In konservativen Kirchenkreisen wurde Huntingtons Theorie begeistert aufgenommen, nicht als Deutungsinstrument, sondern als Handlungsanweisung. Der Einfluss von Huntington lässt sich deutlich etwa in der Sozialdoktrin der russisch-orthodoxen Kirche aus dem Jahr 2000 nachweisen. Dort ist die Rede von „kulturellen Unterschieden“ zwischen den christlichen Kirchen. Die russische Orthodoxie zeichne sich durch Patriotismus aus und müsse die nationale Kultur bewahren. Die Gläubigen sind aufgerufen, der Staatsgewalt Gehorsam zu leisten und für sie zu beten.

Auch Präsident Putin stimmte Huntingtons Thesen auf dem Waldai-Forum 2015 explizit zu und meinte: „Der russischen Weltanschauung liegt die Vorstellung von Gut und Böse, von höheren Mächten, vom Göttlichen zugrunde. Das westliche Denken ist von Interesse und Pragmatik geprägt.“ In öffentlichen Auftritten verwendet er oft den Begriff der „einzigartigen russischen Zivilisation“.

Solche Aussagen verfügen über weitreichende politische Implikationen. Die Legitimation der Regierung beruht im eigenen Verständnis nicht in erster Linie auf dem Resultat von demokratischen Wahlen. Der Kreml versteht sich als Hüter bestimmter zivilisatorischer Werte, die nicht zur Disposition stehen. In der Strategie zur nationalen Sicherheit von 2015 werden als solche Werte etwa der Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen, die Familie und der Dienst am Vaterland genannt.

Vor diesem Hintergrund wäre jede Veränderung der politischen Führung schädlich für die „zivilisatorische Identität“ des Landes. Der bekannteste Oppositionelle des Landes stellt politisch keine Bedrohung dar. In einer neuen Studie des unabhängigen Lewada-Instituts geben nur gerade fünf Prozent der Befragten an, Nawalny zu vertrauen (Putin erreicht in derselben Umfrage 29 Prozent).

Trotzdem greift der Staat Nawalny massiv an: Der Kreml geht mit offensichtlich gesteuerter Justiz und sogar mit Gift gegen den Protestführer vor. Dabei geht es gerade nicht um den reinen Machterhalt, sondern um die Verteidigung eines konservativen, antiwestlichen Wertesystems, das die Herrschaft im Innersten zusammenhält.

Belarus: der neoleninistische Staat

Die Präsidentschaftswahlen in Weißrussland im August 2020 endeten nach offiziellen Angaben mit einem überwältigenden Sieg von Alexander Lukaschenko. Mehr als 80 Prozent der Stimmen wollte der Amtsinhaber gewonnen haben; seine Konkurrentin Swetlana Tichanowskaja hätte sich mit zehn Prozent begnügen sollen.

Wahrscheinlich hätte Lukaschenko auch eine faire Wahl gewonnen, allerdings nur mit einer deutlich knapperen Mehrheit. Die Fälschung war aber derart grob, dass die Opposition sogar verkünden konnte, das Ergebnis sei umgedreht worden. Mit erstaunlicher Beharrungskraft protestierte die weißrussische Bevölkerung gegen die manipulierte Wahl.

Weshalb braucht Lukaschenko regelmäßig einen überwältigenden Wahlsieg, der bei allen Präsidentschaftswahlen seit 2001 zwischen 77 und 84 Prozent liegt? Das einzige verlässliche Wahlresultat stammt aus dem Jahr 1994, als Lukaschenko knapp 46 Prozent der Stimmen holte.

Lukaschenko sieht sich als Garant eines Gesellschaftssystems, das ein sowjetisches Modell unter postsowjetischen Bedingungen weiterführt. Weißrussland ragt als Halbinsel der stehengebliebenen Zeit in den Ozean der Gegenwart hinein. Lukaschenko verweigert sich einem demokratischen Wettstreit der politischen Positionen. Er gehört keiner Partei an und tritt jeweils als unabhängiger Kandidat an. Letztlich vertritt Lukaschenko eine neoleninistische Herrschaftstheorie.

Lenin ging – im Gegensatz zu Marx – davon aus, dass die Geschichte durch eine politische Elite vorangetrieben werden müsse. Diese Elite verfügt bereits über die richtige Einsicht in die zweckmäßige Organisation des Staats. Jeder demokratische Kompromiss würde die notwendige Entwicklung des Staats nur beeinträchtigen. Die politische Macht ist aus dieser Sichtweise nicht das Ergebnis, sondern die Voraussetzung von Plebisziten.

Im Jahr 2005 veröffentlichte die präsidiale Verwaltungsakademie in Minsk ein Lehrbuch mit dem Titel „Die Grundlagen der Ideologie des weißrussischen Staats“. Eine zentrale Rolle bei der Definition der Staatsideologie spielt die Raison d’être des weißrussischen Staates. Das Lehrbuch behandelt die Staatenunion zwischen Weißrussland und Russland, die 1996 begründet wurde, in einem positiven Licht.

Allerdings habe Russland einen anderen gesellschaftspolitischen Weg als Weißrussland gewählt. Das weißrussische Modell könne nur durch den weißrussischen Staat gesichert werden. Dabei beansprucht die Staatsideologie, kommunistische, konservative, liberale und sozialdemokratische Elemente „organisch“ in sich zu vereinen.

Die eigentliche Legitimation von Lukaschenko liegt gemäß der Darstellung des Lehrbuchs darin, dass er bereits in den neunziger Jahren die weißrussische Entwicklung vorausgesehen habe und die Bevölkerung von der Richtigkeit dieser Option habe überzeugen können. Das angeblich stetig wachsende Vertrauen der weißrussischen Bevölkerung in eine starke Präsidentschaft wird durch statistische Angaben untermauert.

Hier liegt der eigentliche Grund, weshalb Lukaschenko sich bei den Präsidentschaftswahlen nicht mit weniger als 80 Prozent zufriedengeben kann: Wenn die Zustimmung der Bevölkerung auf realistische Werte abnähme, wäre die Exklusivität des weißrussischen Wegs und damit auch die Existenzberechtigung des weißrussischen Staats infrage gestellt.

Unter dem Eindruck der Massenproteste hat sich Lukaschenko in bezeichnender Weise zu einem möglichen Rücktritt geäußert. Er hielt fest, dass ein neuer Präsident nur unter einer geänderten Verfassung denkbar wäre.

Artikel 79 der geltenden Verfassung stattet die Präsidentschaft mit enzyklopädischen Vollmachten aus, die kaum mit dem Prinzip der Gewaltenteilung zu vereinbaren sind: Der Präsident ist Staatsoberhaupt und garantiert die Freiheitsrechte der Bürger. Er verkörpert die „Einheit der Nation“ und bestimmt sowohl die Innen- als auch die Außenpolitik. Er sichert die politische und ökonomische Stabilität des Landes und koordiniert die Tätigkeit der Staatsgewalten.

Im Amt des Präsidenten, dessen Ausübung Lukaschenko nur sich selbst zutraut, manifestiert sich das leninistische Prinzip des „demokratischen Zentralismus“: Dem Volk, das sich noch nicht auf der gleichen Bewusstseinsstufe wie der Präsident befindet, dürfen nur vorbereitete politische Optionen zur Auswahl unterbreitet werden. Andernfalls gerät das gesamte ideologische Projekt des weißrussischen Staats ins Wanken.

Polen: „der Wechsel zum Guten“

In Polen gehen seit Monaten vornehmlich Frauen auf die Straße, um gegen die Verschärfung des ohnehin bereits sehr restriktiven Abtreibungsgesetzes zu protestieren. Zahlreiche Abgeordnete der konservativen Regierungspartei hatten beim Verfassungsgericht einen Antrag eingebracht, der Abtreibungen neuerdings auch nach Vergewaltigung oder Inzest, bei schweren Fehlbildungen des Fötus sowie bei akuter Gefährdung des Lebens der Mutter verbietet. Laut Meinungsumfragen lehnen etwa 80 Prozent der polnischen Bevölkerung diese Verschärfung ab.

Weshalb beschädigt die führende politische Kraft im Land ihre Popularität nachhaltig, nur um in einer Einzelfrage ohne gesellschaftspolitische Dringlichkeit eine extreme und nicht mehrheitsfähige Position durchzusetzen?

Letztlich geht es bei der Abtreibungsdiskussion für die Regierungspartei nicht um die Aushandlung einer politischen Position, sondern um die Durchsetzung einer höheren Wahrheit. Aufschlussreich ist hier etwa die Position des Philosophen Marek Cichocki, eines offiziellen Beraters des polnischen Präsidenten. Seine Essays sind kürzlich unter dem Titel „Nord und Süd“ auch auf Deutsch erschienen. Er wendet sich gegen die traditionelle Vorstellung, Polen gehöre zu „Osteuropa“. Polen stelle vielmehr eine seltene Exklave der römischen Latinität im Norden dar.

Cichocki hebt die Tradition der polnisch-litauischen Adelsrepublik hervor, in der politische Entscheidungen immer von einer moralischen Elite gefällt wurden. Durch diese historische Eigenart gehöre Polen gerade nicht zum Projekt des Westens mit seinen liberalen Traditionen. Der Hauptvektor der polnischen Politik bestehe nicht in individueller Freiheit, sondern in der Moral. Letztlich bedeutet diese Position, dass der einzelne Bürger nicht so handeln darf, wie er will, sondern das „Gute“ tun muss. Deshalb lautet das wichtigste Schlagwort der konservativen Agenda in Polen „Der Wechsel zum Guten“.

Cichocki gehört zu den wichtigsten polnischen Anhängern der politischen Theologie, wie sie von Carl Schmitt ausgearbeitet wurde. Cichocki hat über Schmitt promoviert sowie zahlreiche Werke von Schmitt ins Polnische übersetzt und herausgegeben. Für Cichocki – und mittelbar für die Regierungspartei – ist Schmitts Insistieren auf der dezisionistischen Natur des römischen Katholizismus als „politischer Form“ attraktiv. Entscheidungen beruhen in dieser Sichtweise auf moralischer Autorität und nicht auf demokratischen Mehrheiten.

Darüber hinaus ist auch Schmitts Geschichtsphilosophie handlungsbestimmend für die polnische Führung. Schmitt führte den Begriff des „Katechon“ in seine historischen Betrachtungen ein. Im Neuen Testament taucht der „Katechon“ als „Aufhalter“ der immer drohenden Zerstörung einer politischen Ordnung auf. Für Schmitt war etwa Kaiser Franz Joseph ein Beispiel für einen „Katechon“, der die Donaumonarchie durch die Autorität seiner Person vor dem Zerfall beschützte.

Ähnlich betrachtete der Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynski seinen Zwillingsbruder Lech bis zu dessen tragischem Tod bei der Flugzeugkatastrophe von Smolensk als „Katechon“. Heute übernimmt Jaroslaw Kaczynski selbst diese Rolle und versucht, die heilige polnische Gesellschaftsordnung vor der drohenden Auflösung in liberale Beliebigkeit zu schützen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung, 27. Februar 2021.

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