Nüchterne Realpolitik ist gefragt
Die Bundesregierung allein wird in Moskau nicht ernst genommen, sie muss gemeinsame europäische Antworten auf das Verhalten Russlands anstreben
Kaum war öffentlich bekannt geworden, dass der bekannte russische Oppositionelle Alexej Nawalny Mitte August bei einer Wahlkampfreise ins sibirische Tomsk heimtückisch vergiftet worden sein musste, drehte sich die öffentliche Debatte in Deutschland binnen kürzester Zeit um das alte Streitthema Nord Stream 2. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass Gegner und Befürworter des Großprojekts nur auf die Gelegenheit gewartet hatten, um reflexartig ihre altbekannten Argumente vorzubringen und das Russlandbild der Gegenseite als realitätsfern abzukanzeln.
Die Debatte verdeutlicht, dass Außenpolitik in Deutschland heute untrennbar mit der Durchsetzung unserer Wertvorstellungen verbunden wird. Dies ist zweifellos eine wertvolle Errungenschaft und Lehre aus den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte. Zugleich offenbart sich aber erneut die den Deutschen eigene Naivität in Fragen der Außenpolitik.
Nord Stream 2: ein schädliches Projekt
Zweifellos ist Nord Stream 2 das aktuell bedeutsamste bilaterale deutsch-russische Wirtschaftsprojekt. Doch sollte die Bedeutung der Pipeline für den russischen Staatshaushalt nicht überschätzt werden.
Können wir wirklich davon ausgehen, dass Deutschland die russische Führung im Alleingang umstimmen kann? Was genau soll überhaupt erreicht werden? Vor lauter Diskussionen über Konsequenzen ist ganz in Vergessenheit geraten, eine sachliche Debatte über diese wesentlichen Fragen zu führen.
Ich hielt Nord Stream 2 von Anfang an für ein schädliches Projekt. Dass der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) es vor seinem ruchlosen, ja skandalösen Wechsel zum russischen Gaskonzern Gazprom anstieß und als rein deutsches Wirtschaftsprojekt behandelte, verursachte einen großen Vertrauensverlust in Europa.
Durch parlamentarischen Druck konnten wir Kritiker des Projekts die Bundesregierung inzwischen zu einem Umdenken bewegen und mit der Einbindung Polens, der Ukraine und der baltischen Staaten Fehler korrigieren. Nun, da die Pipeline nahezu fertig gebaut ist, kommen wir nicht mehr ohne Gesichtsverlust und hohe Vertragsstrafen da heraus.
Nord Stream 2 als Druckmittel nutzen
Wir sind angesichts des Kohle- und Atomausstiegs, der Skepsis gegenüber amerikanischem Schiefergas und Lücken beim Ausbau der Erneuerbaren Energien weiter auf russisches Gas angewiesen. Wenn wir das Projekt so kurz vor der Fertigstellung kippen, berauben wir uns eines weiteren Druckmittels gegenüber Russland. Besser ist es, wenn wir die Pipeline fertigstellen und uns vorbehalten, die Gaslieferungen am Ende nicht abzunehmen, zum Beispiel auch dann, wenn Russland die Umsetzung der Minsker Abkommen weiter verzögert.
Darüber hinaus ist es unwahrscheinlich, dass Deutschland weniger Gas aus Russland importieren würde, wenn wir das Projekt stoppen würden. Stattdessen wären wir weiterhin auf Transporte über den Landweg angewiesen, wodurch der Transit ineffizienter, ‚Reverse flow‘ zu unseren osteuropäischen Partnern weniger attraktiv und letztlich der Gaspreis für die Endverbraucher steigen würde.
Wenn wir uns das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen wollen, müssen wir die Zuliefererdiversifikation insgesamt ernster nehmen. Das ist eine Angelegenheit, die weit über die Debatte über Nord Stream 2 hinausreicht.
Russlands hybride Kriegsführung
Der Fall Nawalny legt nahe, dass in „Putins Reich“ ein Klima herrscht, in dem Leute glauben, politische Morde begehen zu können. So soll systematisch jede kritische Stimme mundtot gemacht werden. In 20 Jahren Regime Putin zählen wir mittlerweile ca. 20 politische Morde und Mordanschläge. Ob die Vergiftung des russischen Agenten Sergei Skripal in Salisbury im Jahr 2018, der Tiergartenmord an einem früheren tschetschenischen Rebellen im Jahr 2019 oder der Anschlag auf Nawalny: Es wird kaum noch versucht, die Verbindungen staatlicher Stellen zu den Tätern zu vertuschen. Dass beim Tiergartenmord ein mutmaßlich politischer Mord auf deutschem Boden geschah, begründete einen neuen Tiefpunkt der deutsch-russischen Beziehungen.
Wir beobachten mit großer Sorge, wie Russland seine Interessen unverfroren und schonungslos durchsetzt. Auch bei uns in Deutschland nehmen wir zunehmend aggressive Versuche der Einflussnahme wahr. Ob Spionage durch Agenten, gezielt lancierte Propaganda und Desinformation, eine Instrumentalisierung politischer Kräfte oder organisierte Hackerangriffe auf politisch bedeutsame Institutionen, wie wir es 2015 im Bundestag erleben mussten: All dies zeichnet ein Bild der „hybriden Kriegsführung“, bei dem Russland kaum Anstalten macht, sein Vorgehen überhaupt noch zu verdecken.
Dieses Vorgehen der russischen Machthaber, die teilweise absurd anmutenden Nebelkerzen in den staatlich gelenkten Medien und die aus diesem Gesamtbild sprechende Geringschätzung von diplomatischen Gepflogenheiten und der internationalen regelbasierten Ordnung lassen zunehmend Ernüchterung aufkommen. Die Eigenlogik des Systems Putin, das sich um jeden Preis selbst erhalten möchte, verursacht zunehmend intolerable Auswüchse und ist mittlerweile zu einer ernsthaften Belastungsprobe unseres Verhältnisses geworden.
Verklärte Russland-Romantik
Angesichts dessen müssen wir erkennen: Verklärte Russland-Romantik und unrealistisch-romantische Annahmen wie „Wandel durch Handel“ können heute nicht mehr die Konzepte für unseren Umgang mit Russland sein. Unser Verhältnis war lange von enger und verlässlicher wirtschaftlicher Kooperation geprägt, schließlich gibt es insbesondere in der Energiewirtschaft eine gegenseitige Abhängigkeit, die bis in die 1960er-Jahre zurückreicht.
Unser besonderes Verhältnis kann in dieser Krise vielleicht auch eine Chance bedeuten, da wir aus diesen Beziehungen ein breites Netz persönlicher und zivilgesellschaftlicher Kontakte und ein tieferes Verständnis für die russischen Eigenheiten schöpfen können und zudem über Druckmittel verfügen, die andere europäische Partner in dieser Form nicht haben.
Eine wirkungsvolle Russlandpolitik kann aber nicht mehr rein national betrieben werden. Die Bundesregierung allein wird, wie die jüngsten Ereignisse belegen, in Moskau nicht ernst genommen.
Wir müssen uns daher europäisch abstimmen und einheitliche Antworten auf das Verhalten Russlands finden. Nur dann erzeugen wir auch den notwendigen Druck.
Die USA importieren russisches Öl
Die Energiezusammenarbeit könnte zwar durchaus ein wichtiger Hebel sein. Erfolg werden wir hier aber nur haben, wenn Europäer und die USA es schaffen, sich ohne russische Beteiligung mit Energie zu versorgen. Ein Wegfall der Devisen würde Moskau hart treffen.
Tatsache ist, dass die USA im Jahr 2019 fast 190 Millionen Barrel russischer Ölprodukte importiert haben. Wenn wir Russland die Stirn bieten wollen, müssen wir in dieser Frage eine abgestimmte Position mit den Amerikanern finden. Unter einem Präsidenten Trump ist dies aber leider nicht zu erwarten.
Es ist daher ein wichtiges Signal, dass die EU-Außenminister geschlossen der deutsch-französischen Initiative zur Verhängung neuer Sanktionen gefolgt sind. Es ist richtig, auf Einzelpersonen abzuzielen, die in Zusammenhang mit der Tat und der Entwicklung des Gifts stehen und nicht die russische Bevölkerung zu bestrafen. Wir sollten weiter auch Handlungsmöglichkeiten in den internationalen Organisationen ausloten, in denen Russland Mitglied ist. Zum Beispiel in der OPCW oder im Europarat, wo Russland wegen der illegalen Krim-Annexion bereits zeitweise sein Stimmrecht verloren hatte.
Nicht alle Verbindungen kappen
Die Verbindungen zu Russland ganz abzubrechen können wir uns jedoch nicht leisten. Trotz aller Probleme sind wir zur Lösung globaler Herausforderungen wie Terrorismus, nukleare Proliferation, der europäischen Sicherheitsordnung, aber auch bei den Konfliktherden in Syrien, Libyen, der Ostukraine oder aktuell in Belarus auf Russland angewiesen.
Wenn Berlin und Brüssel in Moskau ernst genommen werden wollen, müssen wir aber begreifen, welche Sprache dort gesprochen wird. Andernfalls werden wir von Russland nicht ernstgenommen und schlichtweg ausgenutzt. Wir müssen uns ehrlich die Frage stellen, wie das System Putin funktioniert. Wir müssen ein ausgewogenes Verhältnis von Anreizen und Druckmitteln entwickeln und deutlich machen, dass wir ein Überschreiten roter Linien nicht akzeptieren können. Das Mittel der Wahl muss also eine zwar wertegebundene, aber streng interessenorientierte, nüchterne Realpolitik sein.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in englischer Sprache erschienen im European Council on Foreign Relations ecfr.eu