Kaum jemand will für Putin kämpfen

Weil sich zu wenig Freiwillige finden, locken Putins Streitkräfte Häftlinge an

von Friedrich Schmidt
Putins Streitkräfte Emblem
Entwickeln derzeit wenig Abziehungskraft: Russlands Streitkräfte

Vor Kurzem unterschrieb Russlands Präsident Wladimir Putin einen Erlass, der die Zahl der Soldaten seiner Streitkräfte um 137 000 erhöhen soll. Offiziell liegt sie derzeit bei exakt 1 013 628. Aber schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine Ende Februar sollen es in Wirklichkeit nicht so viele, sondern nur rund 900 000 gewesen sein.

Putins Erlass tritt Anfang kommenden Jahres in Kraft, seine Regierung hat Budgetmittel bereitzustellen, um die neue Sollstärke zu erreichen. Verteidigungsminister Sergei Schoigu hat gerade beteuert, er könne die Armee mit dem bestehenden Vorbereitungssystem „ganz auffüllen“. Klar ist aber nur, dass Putin im sich hinziehenden Ukrainekrieg ständig Nachschub braucht.

Einerseits wirbt das russische Verteidigungsministerium direkt um neue Zeitsoldaten. Andererseits stellen viele Regionen „Freiwilligenbataillone“ auf. Hinter dem Begriff, der an die Massenmobilisierung gegen die deutschen Angreifer im „Großen Vaterländischen Krieg“ anknüpft, steht ebenfalls, sich für sechs Monate oder ein Jahr als Soldat zu verpflichten.

Die Logik dahinter erklären beispielsweise Zettel, wie sie in Moskauer Hausfluren hängen: Wehrersatzämter „laden Bürger von 18 bis 59 Jahren ein“, sich auf Zeit zu verpflichten. Das sei „nicht einfach Arbeit“, sondern ermögliche es, „bewusst und professionell seine verfassungsmäßige Aufgabe und Pflicht zu erfüllen, das Vaterland zu schützen“.

Anders als ein Wehrpflichtiger sei der Zeitsoldat „ein freiwilliger Beschützer der Heimat“. Russische Männer im Alter von 18 bis 27 Jahren haben grundsätzlich ein Jahr Wehrdienst abzuleisten, doch vermeiden dies traditionell viele mit medizinischen Attesten oder Einschreibungen an einer Hochschule.

Reiche Regionen, wenig Rekruten

Bei einem werktäglichen Ausflug zum zuständigen Wehrersatzamt im Westmoskauer Stadtteil Kunzewo finden sich keine Schlangen von Rekruten, nicht einmal einzelne Interessenten; immerhin erinnert ein Schild an dem Gebäude in der Partisanenstraße an dort wirkende Helden des Zweiten Weltkriegs. Jetzt werden in Moskau auf Werbetafeln an den Straßen „Helden“ mit jungen Soldatengesichtern gefeiert; wo und wie sie ihren „Ruhm“ erworben haben sollen, steht nicht dabei.

Ansonsten wirkt der Krieg in der Hauptstadt weit weg. Journalisten des Nachrichtenportals Mediasona und des russischen Diensts der BBC haben anhand von Behördenmitteilungen, Medienberichten und Beiträgen in den sozialen Medien bisher 6024 in der Ukraine gefallene russische Soldaten gezählt. Die tatsächliche Gefallenenzahl wird viel höher vermutet, offiziell hat das russische Verteidigungsministerium erst zweimal, zuletzt am 25. März, eigene Gefallenenzahlen vorgelegt.

In den offen zugänglichen Quellen – deren Zahl aber mit dem sich hinziehenden Krieg immer weiter abnimmt, vermutlich weil der Verschleierungsdruck wächst – kamen die Journalisten auf bisher 15 Gefallene aus Moskau und auf 46 Gefallene aus der zweitgrößten Stadt, Sankt Petersburg. Es entsteht ein Muster: Je reicher die Region, desto weniger Soldaten stellt sie.

Putin und sein Staatsfernsehen stellen die „Spezialoperation“ als Abwehrkampf gegen „Faschisten“ und einen Westen dar, der Russland bedrohe. Dieselbe Propaganda lockte schon 2014 und 2015 nicht genügend Freischärler in die Ukraine. Nun werden die „Freiwilligen“ vor allem mit hohem Sold und sozialer Absicherung angeworben. Die Aufstellung eines Bataillons ist für den jeweiligen Gouverneur ein Mittel, seine Loyalität zu Putin und seinen Nutzen für den Kreml zu zeigen.

Putins „Sofa-Truppen“

Aus Sankt Petersburg, wo die versprochenen drei „Freiwilligenbataillone“ offenbar noch nicht komplettiert werden konnten, wurde nun über Anwerbeversuche in der U-Bahn sowie unter Obdachlosen berichtet; versprochen werde dabei, neben hohem Sold, eine Einmalzahlung der Stadtregierung von umgerechnet knapp 5000 Euro. Derlei Summen fallen in ärmeren Regionen noch viel stärker ins Gewicht, wo die Streitkräfte ohnehin einer der wichtigsten Arbeitgeber sind.

Die meisten russischen Gefallenen kommen laut Mediasona und BBC aus den Regionen Dagestan im Nordkaukasus und Burjatien in Sibirien (gezählt wurden jüngst 278 respektive 256 Gefallene); sie zählen zu den ärmsten in Russland. Insgesamt fehlen allerdings aussagekräftige Zahlen darüber, wie viele Russen sich in den vergangenen Monaten als Zeitsoldaten verpflichtet haben.

Das Nachschubproblem stellt die Machthaber vor ein Dilemma: Für militärische Erfolge braucht Putin ständig neue Männer, aber unpopuläre Maßnahmen scheut er. Die beiden „Volksrepubliken“ von Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine hatten kurz vor Russlands Überfall Generalmobilmachungen verkündet; dort sind mittlerweile Zehntausende Männer zu „Volksmilizen“ eingezogen und an die Front geschickt worden. Russlands Staatsfernsehen feiert Eroberungen der „alliierten Streitkräfte“ in der Ukraine.

Zugleich vermittelt die Formel von einer „nach Plan“ laufenden „Spezialoperation“ den Russen das Gefühl, der Konflikt sei räumlich und zeitlich begrenzt. Das ermögliche es ihnen, den Krieg auszublenden, wie der Meinungsforscher Lew Gudkow vom unabhängigen Lewada-Zentrum der FAS sagte. Auch wenn in Umfragen rund drei Viertel der Russen den Krieg respektive die „Spezialoperation“ unterstützen, würden es Putins oft als „Sofa-Truppen“ bezeichnete Unterstützer nicht gutheißen, zöge man ihre Männer, Söhne, Enkel zwangsweise ein. So wird weiterhin keine Generalmobilmachung verkündet.

Strafgefangene ziehen in den Krieg

Die Mühen, Nachschub zu rekrutieren, verdeutlicht Russlands laut zahlreichen Medienberichten immer umfangreicherer Einsatz von Strafgefangenen im Krieg. Die Angaben reichen von mehreren Hundert bis zu mehreren Tausend Mann. Im Mittelpunkt steht der als „Putins Koch“ bekannte und mit dem Kreml und dem Verteidigungsministerium verbundene Geschäftsmann Jewgeni Prigoschin, der als Kopf hinter der „Wagner“-Söldnertruppe gilt.

Er sucht ausweislich der Berichte in Begleitung von Geheimdienstmitarbeitern Straflager auf und wirbt dort mit dem sternförmigen Orden „Held Russlands“ an der Brust vor den Insassen dafür, in den Krieg zu ziehen. Putin habe ihm aufgetragen, den Krieg zu gewinnen, sage Prigoschin bei solchen Gelegenheiten, berichtete unter Berufung auf Häftlinge Olga Romanowa, die in Berlin exilierte Vorsitzende der Hilfsorganisation „Rus Sidjaschtschaja“ (Russland hinter Gittern) dem Onlinemagazin Republic.

Prigoschin, der nach eigenen Angaben von 1979 bis 1990 selbst in mehreren Strafkolonien einsaß, sei im Gespräch mit den Häftlingen ganz in seinem Element, „spricht mit ihnen eine Sprache“. Er sage, er bevorzuge Mörder, „keine gewöhnlichen, sondern bewusste“, stelle den Häftlingen viel Geld in Aussicht sowie die Chance, freizukommen, berichtete Romanowa.

Putin habe ihm, Prigoschin, versprochen, alle zu begnadigen, die länger als ein halbes Jahr kämpften. Die Vorbereitung auf den Einsatz geschehe in einem Straflager im südwestrussischen Rostower Gebiet. Sie ist nach Romanowas Schilderung anstrengend, aber schlicht.

Im Gefecht dienten die Sträflinge als Vorhut erfahrener Söldner, von denen viele früher der Armee oder den Sicherheitskräften angehört haben sollen. Zu den Motiven der Häftlinge wies Romanowa auf fehlende Resozialisierung, Perspektivlosigkeit, Armut, Anfälligkeit für Manipulationen und den Teufelskreis aus Gewalt und Straffälligkeit.

Allerdings gibt es auch Berichte darüber, dass Häftlinge, die Prigoschins Angebot ablehnten, in den „Strafisolator“ ihrer Lager in Einzelhaft gesteckt würden. Dabei sind Haftentlassungen an die Front sowie das Söldnertum in Russland illegal. „Die Situation ist außerhalb jedes Rechts“, sagte Romanowa.

Ohne Plazet der Mächtigen wäre die Praxis, Strafgefangene an die Front zu schicken, zu der nahezu täglich neue Fälle bekannt werden, nicht denkbar. Mittlerweile hat sie quasioffizielle Weihen. Der Regisseur und Putin-Vertraute Nikita Michalkow pries in seiner Youtube-Sendung, die mit Heiligenbildern und säuselnder Musik den Krieg verherrlicht, einen Häftling, der im Donbass verwundet worden sei und dann mit einer Granate drei ukrainische „Nationalisten“ mit in den Tod gerissen habe, um seine Kameraden zu retten.

Der im Alter von 16 Jahren erstmals verurteilte junge Mann „wusste, wofür man sterben kann“, raunte Michalkow. „Er spürte dort seine Notwendigkeit. Er wollte für sein vergangenes Leben büßen. Und der Staat antwortete mit Dankbarkeit auf seine Heldentat: Er wurde postum begnadigt und zudem Teilnehmern der Kampfhandlungen gleichgestellt, mit allen daraus erwachsenden Vorteilen und Zahlungen.“

Der Staatssender Rossija 1 zeigte einen Ausschnitt der Sendung in seinen Abendnachrichten. Unlängst hat das exilrussische Newsportal The Insider zudem über den Fall eines unter anderem wegen fünffachen Mordes und Raubes zu 25 Jahren Haft verurteilten Russen berichtet. Der Mittdreißiger habe davon nur zwölf Jahre abgesessen und sei am 5. August im Donezker Gebiet gefallen. Dafür erhielt er ausweislich von Fotos postum Orden, einerseits von den sogenannten Separatisten, andererseits von Putin die Medaille „Für Tapferkeit“.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 5.9.2022 erschienen in: Frankfurter Allgemeine Zeitung / Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

Nichts verpassen!

Tragen Sie sich hier ein für unseren wöchentlichen Newsletter: