Russland: Feste feiern im Niedergang

Trotz Krieg und Sanktionen sind Russlands Konsumenten optimistisch, zahlreiche Unternehmer reduzieren Investitionen

von Maxim Kireev
Russlands Konsumenten feiern
Russland feiert, der Krieg ist weit weg, aber die Wirtschaft rechnet mit schlechteren Zeiten.

Nirgendwo scheint der Krieg in der Ukraine an diesem Samstag weiter weg als in Petersburgs mondänem Viertel Petrogradka. Zwischen Designerstühlen, Palmen in Kübeln und Ständen mit koreanischem Kim Chi, italienischer Pizza oder indischem Butter Chicken mit Basmatireis drängen sich Hunderte Besucher des Balagan, das vor wenigen Tagen neu eröffnet hat. Noch im Frühjahr, als westliche Sanktionen die Wirtschaft des Lands scheinbar ins Wanken gebracht hatten, drohte das Projekt zu scheitern.

Mit ein paar Monaten Verspätung geht es nun doch an den Start. Getarnt als etwas chaotische Markthalle, verteilt auf drei großzügigen Stockwerken, hat das neue Gastronomie-Cluster beste Chancen, zu einer angesagten Location in Russlands zweitgrößter Metropole zu werden.

Bei einem Craft-Bier mit Tomatengeschmack oder einem trockenen Weißwein aus Neuseeland wird dabei kaum über die Vernichtung gesprochen, die Russlands Armee gerade über das Nachbarland Ukraine bringt. Längst werden solche Themen nur noch im streng Privaten angesprochen.

Düstere Wirtschaftsaussichten

Die neue Normalität, in der sich Russland einzurichten scheint, wirkt absurd. Gerade auch vor dem Hintergrund der düsteren Wirtschaftsaussichten, die sich an staatlichen Statistiken ablesen lassen.

Erst vor wenigen Tagen hat das Moskauer Wirtschaftsministerium eine Prognose veröffentlicht, wonach Russland mindestens eine zweijährige Rezession bevorsteht, die die Wirtschaftsleistung des Lands um fast zehn Jahre zurückwerfen wird. Doch vorläufig sind die wirtschaftlichen Auswirkungen noch längst nicht für alle Russen spürbar. Viele wollen auch nichts wissen von schlechten Aussichten.

Sowohl die Russische Zentralbank als auch das Umfrageinstitut FOM haben zuletzt eine deutliche Verbesserung der Konsumentenstimmung festgestellt. Fast 15 Prozent der Bürger gaben im Juli an, dass sich ihre persönliche Lage verbessert habe, während 48 Prozent keine Veränderungen spürten. Fast ein Viertel der Befragten glaubte zudem, dass sich ihre persönliche Situation weiter verbessern werde, der höchste Wert seit 2018. Ökonomen halten diesen Optimismus für irrational. „Die Menschen verstehen offenbar nicht, was auf sie vor dem Hintergrund der zunehmenden Isolation des Lands zukommt“, meint Ewgeni Suworow, Chefökonom der Bank Zentrokredit.

Ein ganz anderes Bild zeigt sich in der russischen Wirtschaftswelt. Nach Angaben der Rating-Agentur S&P befindet sich die Stimmung der Unternehmer derzeit auf dem tiefsten Punkt seit zwölf Jahren. In der jüngsten Umfrage von S&P im Juni sahen fast die Hälfte der russischen Firmen schrumpfende Umsätze und geringere Einkünfte auf sich zukommen. Damit seien russische Unternehmer deutlich pessimistischer als der globale Durchschnitt, heißt es in einer Mitteilung der Agentur.

Das hat handfeste Gründe. Laut einer Zentralbank-Studie steht fast jedes dritte russische Unternehmen vor der schwierigen Herausforderung, nicht mehr lieferbare Vorleistungen und Maschinen aus dem Westen in ihrer Produktion zu ersetzen. So hat der russische Autokonzern Lada erst vor wenigen Tagen angekündigt, einen neuen Lieferanten für Airbags gefunden zu haben. Fast ein halbes Jahr musste der Konzern Fahrzeuge ohne diese herstellen. Die Suche nach einem Partner für ABS-Systeme laufe hingegen weiter.

Auch kleine Unternehmen sind betroffen. Tatjana Petrowna betreibt eine Keramikmanufaktur, die Vasen und Geschirr herstellt. „Unsere Tonmassen und Glasuren kamen allesamt aus Deutschland, einige aus Spanien oder Kanada. Diese Produkte sind zwar nicht von Sanktionen betroffen, aber da die Logistik zusammengebrochen ist und viele Banküberweisungen an westliche Lieferanten wochenlang steckenbleiben, haben unsere Großhändler diese Produkte aus ihrem Angebot genommen“, berichtet die Russin. Aus Russland gebe es Keramikglasur dagegen nur in den einfachsten Farben, womit sie kaum noch Chancen habe, sich von den großen Massenfertigern abzuheben.

Der starke Rubel hilft

Im Alltag spüren viele Menschen im Land davon allerdings noch wenig. Zwar haben sich Hunderte westliche Konzerne, insbesondere aus dem Modebereich oder der Automobilbranche, aus Russland zurückgezogen. Der Gang in einen russischen Supermarkt zeigt jedoch, dass viele internationale Marken von Milka und Ritter Sport bis hin zu Zewa, Persil oder Schwarzkopf noch immer in den Regalen zu finden sind.

Zwar sind die Waren zuletzt deutlich teurer geworden, doch der Schock währte nur kurz. Im Vergleich zum Jahresanfang liegt die offizielle Teuerungsrate in Russland bei gut zehn Prozent. Weil viele Lieferanten und Importeure die Preise im Frühjahr aus Angst vor einem vollständigen Handelsembargo zu stark in die Höhe geschraubt hatten, sinken diese derzeit wieder. Bereits im Juni und Juli hatte die Statistikbehörde Rosstat jeweils einen Preisrückgang im Vergleich zum Vormonat um fast 0,4 Prozent gemessen.

Das ist auch auf den starken Rubel zurückzuführen, der sich dank der hohen Energiepreisen und einem nach wie vor überaus großen russischen Handelsbilanzüberschuss auf einem Höhenflug befindet. Erhielt man für einen Franken Anfang Februar noch 83 Rubel und im März zeitweise bis zu 146, sind es heute nur noch 62.

Dies hat den Import von Konsumgütern wieder angekurbelt und auch Grauimporte von Produkten lukrativ gemacht, deren Hersteller sich vom russischen Markt zurückgezogen haben. Ein Paradebeispiel dafür ist das iPhone. Apple verkauft seine Geräte in Russland offiziell nicht mehr und hat auch den App-Store geschlossen. Am Tag des Kriegsbeginns kostete ein iPhone 13 mit 128 Gigabyte Speicher in einer russlandweit tätigen Elektronikkette fast 80 000 Rubel, damals etwa 900 Franken. Am selben Tag wurden die Preise auf 104 000 Rubel angehoben. Mittlerweile ist der Preis des Basismodells aber wieder deutlich gesunken und liegt je nach Händler noch zwischen 70 000 und 90 000 Rubel.

Neue Handels- und Logistik-Routen

Tatsächlich scheint sich der russische Außenhandel zumindest im Konsumbereich anzupassen. Statistiken zeigen, dass die russischen Einfuhren aus China und insbesondere aus der Türkei das Niveau von vor der Krise überschritten haben. Allein im Juli lieferten türkische Händler Waren im Wert von 730 Millionen Dollar nach Russland, rund 75 Prozent mehr als im gleichen Vorjahresmonat. Chinas Exporte kletterten im Juli gegenüber dem Vorjahresmonat um 20 Prozent auf 6,7 Milliarden Dollar.

„Vor allem bei Verbrauchsgütern steigen die Einfuhren dank neuen Logistik-Routen“, schreibt die russische Zentralbank in einer Analyse zum Zustand der russischen Wirtschaft. Gleichwohl warnen die Währungshüter vor überhöhtem Optimismus. „Bei der Einfuhr von Investitionsgütern und Komponenten konnte der Einbruch der Importe bislang nicht kompensiert werden“, geben die Experten zu bedenken.

Sanktionen, so der Bericht weiter, seien jedoch nicht der einzige Grund für den Rückgang der Einfuhren. Nicht weniger wichtig sei auch, dass Unternehmen weniger investierten und mit Sorge in die Zukunft blickten. „Die Unternehmen sind gezwungen, vorsichtig zu sein.“

Dass der Tiefpunkt noch lange nicht erreicht ist, weiß auch Moskaus Wirtschaftsministerium. Russlands Vize-Regierungschef Andrei Belousow schätzt, dass die Investitionen mindestens bis ins nächste Jahr zurückgehen werden. Der Tiefpunkt, sagte Belousow bei einem Auftritt in Moskau, werde erst in der ersten Hälfte 2023 erreicht sein.

Dieser Beitrag ist ursprünglich am 22.8.2022 erschienen in: Neue Zürcher Zeitung / © Neue Zürcher Zeitung

 

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