Geostrategie in der Ukraine
Die Sicherheitsinteressen Russlands und der USA in der Ukraine: Und wo bleibt Europa?
Im geopolitischen Denken sind Raum, Macht (Ressourcen und Fähigkeiten) und Zeit die einflussgestaltenden Determinanten der Außenpolitik. Geostrategie, ursprünglich Wehrgeopolitik, als Teilgebiet der Geopolitik fokussiert die politische und militärische Macht in einem bestimmten geographischen Gebiet. Sie analysiert und prognostiziert das Verhalten der Staaten in diesem Raum unter den Faktoren politisches System/Governance, Technologie und Fähigkeiten der Machtprojektion anhand eigener und konkurrierender militärischer, ökonomischer und diplomatischer Kräfte und erstellt auf dieser Grundlage Analysen potenzieller Bedrohungen.
Durch den angenommenen Primat geographischer Bedingtheit von Politik haben territoriale Standorte politische Standpunkte zur Folge. Durch das monopolisierte Prisma solcher Raumbilder verkürzen oder verengen sich nachbarschaftliche, regionale oder globale Betrachtungen der Politikgestaltung, es entstehen verzerrte „kognitive Landkarten“.
In autoritären Staaten gehen politische Macht und Militär weitgehend eine symbiotische Beziehung ein. Strategisch-kulturell ist das Rollendenken ihrer Eliten dichotomisch (Freund-Feind) und nullsummenorientiert. Geostrategie ist hier eine Form der Kriegskunst. Diplomatie wird nicht als ein Win-win-Instrument bewertet, sondern vielmehr nach der Position von Friedrich dem Großen. Er meinte: „Diplomatie ohne Waffen ist wie Musik ohne Instrumente.“
Durch den Primat der Politik in Demokratien ist hingegen die Staatskunst der Kriegskunst übergeordnet. Die Geostrategie folgt – abhängig von der jeweiligen Regierung jedoch im historischen Längsschnitt mehrheitlich – dem Pfad machtpolitischer Gleichgewichtspolitik und Interessenausgleich. Die Geografie ist ein, aber nicht der treibende Faktor in der Außenpolitik.
Russland: Staat vor Gesellschaft
Russland steht exemplarisch für die Position einer langen beständigen geostrategischen Kulturverankerung. Der Staat, ob zaristisch, kommunistisch oder in sogenannter gelenkter Demokratie geführt, hat als identifiziertes Subjekt der Geschichte immer Vorrang gegenüber der Gesellschaft als nur wahrgenommenes Objekt. Die territoriale Ausdehnung des russischen Reichs mit seinen Riesenentfernungen zwischen Zentrum und Peripherie begünstigte stets die politische Kontrolle durch zentralistisch-autoritäre hierarchische Herrschaftsstrukturen.
Das durchzieht wie ein roter Faden die russische Geschichte in ihren zahlreichen Epochen. Imperiales Streben und zugleich ein exzessives Sicherheitsbedürfnis haben den Zirkelschluss „bedrohend, weil bedroht empfunden“ geschaffen: Der politische Westen versucht nach dieser Lesart immer, russische Schwächen systematisch auszunutzen, die Moskau wiederum mit regionaler Machtprojektionen und Einflusssphären zu kompensieren versucht.
Das jüngste Paradebeispiel sind die Vertragsentwürfe an die Nato zur Gewährleistung russischer Sicherheit im Rahmen eines europäischen sicherheitspolitischen Regelwerks vom Dezember 2021. Es ist ein Lehrstück geostrategischer Intention.
Europas Friedensordnung ist zerbrochen
Strukturell und ideenpolitisch zerbrach die europäische Friedensordnung auf den Grundlagen der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 und der Charta von Paris 1990 bereits mit der Krimannexion 2014. Der Nato-Gipfel in Wales 2014 reagierte im üblichen Kompromiss doppelstrategisch. Die Bündnispartner „verurteil(t)en auf das Schärfste die eskalierende und illegale militärische Intervention Russlands in der Ukraine und fordern von Russland, dass es seine Streitkräfte in der Ukraine und an der ukrainischen Grenze aufhält und abzieht.
Gleichwohl aber sollte die abrüstungs- und rüstungskontrollpolitische Tür offen bleiben. „Wir streben weiter nach einer kooperativen, konstruktiven Beziehung mit Russland, die gegenseitige Transparenz- und vertrauensbildende Maßnahmen sowie ein besseres gegenseitiges Verständnis der Dispositive der nichtstrategischen nuklearen Kräfte der Nato und Russlands in Europa umfasst und die auf unseren gemeinsamen sicherheitspolitischen Sorgen und Interessen beruht.“ Ordnungspolitisch übersetzt bedeutete das, europäische Sicherheit wurde nur noch auf sehr begrenzten Sicherheitsfeldern mit Russland für möglich gehalten.
Der 24. Februar markiert in der Nato und der EU den ordnungspolitischen GAU gegenüber Russland. Die ökonomischen und energetischen Interdependenzstrukturen, die jahrzehntelang als friedensstiftendes Paradigma beurteilt wurden, erhalten das Stigma von Naivität. Sicherheit in Europa wird nun als Sicherheit gegen Russland definiert und installiert.
Ukraine: „Anti-Russland-Projekt der USA“
Nach der Reichsteilung des spätantikischen Römischen Reichs 395 in Westrom und Ostrom (Konstantinopel) kämpften beide Seiten jahrhundertelang um die Einheit. Ein vom Heiligen Stuhl religiös legitimierter internationaler militärischer Feldzug in den Orient wurde von Rom geostrategisch als probates Mittel bewertet, die eigene Machtposition im kirchlichen Schisma zu übergewichten. In diesem Sinn und mit der Parole „Deus lo vult“ (Gott will es) begründete Papst Urbal II auf der Bischofsynode 1095 in Clermont den Aufruf zum Ersten Kreuzzug gegen die „ungläubigen Seldschuken“ und die Rückeroberung von Jerusalem.
Die auf dieses Ziel hin einsetzende Propaganda hat frappierende Ähnlichkeit mit der von Präsident Putin gegen die „Nazis in Kiew“ und seiner Agitation der Rückeroberung oder Heimholung der Ukraine. Russlands Sicherheit will es (Securitas Russiae vult), so hallt sein Ruf.
Geostrategisch schien das Ziel der Ukraine-Invasion in der ersten Kriegsphase zu sein, schnell Kiew zu erobern, die Selensky-Regierung auszuschalten und durch ein Vasallen-Regime zu ersetzen. Diese politisch abhängige, treu ergebene Ukraine und weitere Integrationspolitik mit Belarus sollten eine russisch geführte Slawische Union als geopolitisches und geostrategisches Großprojekt in Europa etablieren.
Der Kreml hat offensichtlich seine Geostrategie dem realen Kriegsverlauf angepasst. Nunmehr scheint das Ziel nicht mehr die Gesamtkontrolle des Lands zu sein, sondern die infrastrukturelle Zerstörung in dem Maß, dass es nicht als perzipiertes „US-Brückenkopf-gestütztes Anti-Russland-Projekt“ existieren kann. Geplant zu sein scheint jetzt die permanente militärische Besetzung der Großregion Ostukraine sowie der gesamten Schwarzmeer-Südküste.
Geoökonomisch würde Russland so die an Kohle, Erze, Gas rohstoffreichen Gebiete wie auch für die Welternährung fruchtbaren Böden beherrschen. Die Restukraine wäre auf sehr lange Dauer ein kulturell-amputierter, sozioökonomisch verarmter, vom Westen finanziell teuer zu alimentierender Rumpfbinnenstaat, unfähig zur Mitgliedschaft in den euroatlantischen Strukturen.
Trenin und die „US-Welt-Hegemonie“
Zu potenziellen geostrategischen Entwicklungsoptionen Russlands auf der europäischen und globalen Metaebene entwickelte Dmitri Trenin, Mitglied des Rats für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands und vormaliger Direktor des Carnegie-Instituts in Moskau, im Mai dystopische sicherheitspolitische Szenarios.
Im Westen galt Trenin jahrelang als analytisch sehr geschätzter „liberaler“ Sicherheitsexperte. Wenn er nun Aussagen wie die folgenden trifft, muss davon ausgegangen werden, dass die Silowiki im Kreml sich noch härter positionieren.
Trenin zufolge planen die USA und ihre Verbündeten, „Russland als unabhängigen Faktor aus der Weltpolitik auszuschließen und die russische Wirtschaft vollständig zu zerstören. Der Erfolg dieser Strategie würde es dem US-geführten Westen ermöglichen, die ‚Russland-Frage‘ endgültig zu lösen und günstige Aussichten auf einen Sieg in der Konfrontation mit China zu schaffen.“
Als primäres außenpolitisches Ziel für die Festigung seines Lands als souveräner globaler Akteur seien zunächst „strategische Erfolge in der Ukraine zu erzielen“. Ein „russischer Erfolg in der Ukraine wäre ein schmerzhafter Schlag für die US-Welt-Hegemonie“ und schaffte vorteilhafte Bedingungen für den „Aufbau eines neuen Systems internationaler Beziehungen zusammen mit nicht-westlichen Ländern und die Bildung, in Zusammenarbeit mit ihnen, einer neuen Weltordnung“.
Im Kontext der notwendigen „multilateralen Kooperation“ mit diesen Staaten sollten „neue internationale Institution geschaffen werden“. Die bereits existierenden, wie die „Eurasische Wirtschaftsunion, die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit, die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die Gruppierung Russland-Indien-China, BRICS und die Mechanismen für Dialog und Partnerschaft zwischen der Russischen Föderation und ASEAN, Afrika und Lateinamerika brauchen für die weitere Entwicklung einen Schub“.
Zweck und Ziel der neuen globalen geostrategischen Architektur ist, die Interessen Moskaus durchzusetzen und institutionell zu verankern. „Russland ist in der Lage, eine führende Rolle bei der Entwicklung einer Rahmenideologie für diese Organisationen zu spielen, die Interessen der Partnerländer zu harmonisieren und gemeinsame Agenden zu koordinieren.“
Trenin schlussfolgert aus der US-Politik eine weitere Annäherung zwischen Moskau und Peking. Bei Eintritt gesteigerter Spannungen zwischen den USA und China „sollte Russland bereit sein, Peking politisch zu unterstützen sowie ihm in begrenztem Umfang und unter bestimmten Bedingungen militärisch-technische Hilfe zu leisten, während es eine direkte Beteiligung am Konflikt mit Washington vermeidet“.
Bidens Politik der Stärke in Europa
Ebenfalls im Mai machte US-Präsident Biden seine geostrategischen Ziele öffentlich. Die wichtigsten Eckpunkte sind: Die Ukraine erhält weitere finanzielle milliardenschwere Unterstützung sowie moderne Waffen in dem Umfang, „damit sie auf dem Schlachtfeld kämpfen und am Verhandlungstisch in der bestmöglichen Position sein kann“.
Die militärtechnischen Hilfen werden die Ukraine aber nicht in die Lage versetzen, damit russisches Gebiet zu treffen. Gemeint ist damit die begrenzte Reichweite. Die USA wollen keinen Krieg mit Russland. Sosehr er auch Putins Handlungen verurteilt, „werden die Vereinigten Staaten nicht versuchen, seinen Sturz in Moskau herbeizuführen“.
Russland muss für den Krieg einen „hohen Preis zahlen“. Anderenfalls „wird es anderen potenziellen Aggressoren signalisieren, dass auch sie Territorium erobern und andere Länder unterjochen können. Es wird das Überleben anderer friedlicher Demokratien gefährden.“
Diese Aussage und die Zusage, „auch weiterhin die Ostflanke der Nato mit Streitkräften und Fähigkeiten der Vereinigten Staaten und anderer Verbündeter (zu) verstärken“, bedeutet geostrategisch eine Politik der Stärke in Europa.
Aus deutschem Interesse muss deshalb der europäische Pfeiler innerhalb der Nato durch „Pooling und Sharing“ der konventionellen Kräfte so verbessert werden, dass die USA die europäische Verteidigungsfähigkeit im Sinne einer Statusparität in der Allianz anerkennen. Anderenfalls würde Europa zum bloßen Objekt von US-Sicherheitsinteressen.