Lenin und Lulu
Wie Sanddorn, das sowjetische Surrogat für Zitrusfrüchte, nach Mecklenburg gelangte
#8 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt er der russischen Küche nach.
Waren Sie schon einmal in Ludwigslust? Das „Versailles des Nordens“ mit dem großzügigen Landschaftspark war einst die Residenz der Herzöge und Großherzöge von Mecklenburg-Schwerin. Zu DDR-Zeiten beherbergte es Behörden. Heute dokumentieren die restaurierten und mit Antiquitäten ausstaffierten Innenräume des Schlosses wieder die feudale Epoche.
Doch es gibt weiterhin ein Relikt des Sozialismus, das Touristen nach „Lulu“ zieht, wie das Städtchen im Jargon abgekürzt wird. Winzig, schmackhaft, gesund und so leuchtend orange, dass Nina Hagen in einem legendären Song ihrem Freund bittere Vorwürfe machte, weil er im Urlaub auf Hiddensee den Farbfilm vergessen hatte und so den wildwachsenden Sanddorn nicht schön bunt ablichten konnte.
Von der Sowjetunion lernen. Dieser politisch überstrapazierte Slogan war und ist für Ludwigslust segensreich. Denn Lulus Gärtner ernten im ältesten europäischen Anbaugebiet für Sanddorn den Rohstoff für köstliche Produkte: Sanddornsaft, Sanddorngummibären, Sanddorntorte, Sanddornwein, Sanddornhonig, Sanddornlikör und mittlerweile ganz zeitgeistig auch Sandorngin. Gesundheitsbewusste können Sanddornöl erwerben, mit dem angeblich schon Dschingis Khan seine reitenden Mongolen kurierte (und das gegen Strahlenschäden helfen soll). Beauty-Farmen pflegen mit Sandornsalbe und Sanddornmaske. Das „rote Gold Mecklenburgs“, um es ganz im Sowjet-Jargon zu formulieren, ist zu einem bedeutenden Nischenprodukt, zu einem expandierenden Wirtschaftsfaktor, zu einem Stück heimatlicher Identität geworden.
Leuchtendes Dornenpferd
Wie kam es dazu? Tatsächlich setzte man bereits in den ersten Jahren der Sowjetmacht auf die säuerliche, stachlige Frucht, die an der Ostsee und in Sibirien wild wächst. Der junge Staat war von Agrumen-Importen abgeschnitten, im Kaukasus tobte noch der Bürgerkrieg – so bot sich Sanddorn als gesundes einheimisches Surrogat für Zitrusfrüchte an. Es soll ein Dekret von Lenin geben, das erstmals Sanddornanbau statt Wildsammeln forcierte. Nowosibirsk wurde zum Zentrum der Zucht und planmäßigen Kultivierung auserkoren.
Interessant ist, dass sich auch das isolierte Nazideutschland für Sanddorn zu interessieren begann. 1941 erschien eine Studie, die den Vitamin-C-Gehalt von Sanddorn pries, Universitäten vergaben in den letzten Kriegsjahren Dissertationen zum Thema „Leuchtendes Dornenpferd“, so wörtlich übersetzt der lateinische botanische Name hippophae rhamnoides.
Die Zitrone des Ostens
Der Zitronenmangel der DDR war sprichwörtlich. So wurde früh Sanddornpflücken propagiert. Aber erst Ende der 1970er-Jahre entschloss man sich nach Zusammenarbeit mit sowjetischen und osteuropäischen Forschern für professionellen Anbau. 1980 wurden erstmals drei Hektar in Ludwigslust mit der 1979 zugelassenen Zuchtsorte Leikora bepflanzt. Mittlerweile sind es nach einem Einbruch nach der Wende mehr als 120 Hektar von der PG Storchennest biologisch bewirtschafteter Plantagen. Der Bevölkerung wurde die „Zitrone des Ostens“ auch durch das Narrativ schmackhaft gemacht, dass die Kosmonauten, die Helden des Weltalls, sich mit dieser Wunderbeere während ihrer Raumflüge gestärkt haben sollen.
Lulu ist nicht schwer zu erreichen – gut 120 Kilometer ostwärts von Hamburg, zwei Stunden Autofahrt westwärts von Berlin, ein Katzensprung von der Landeshauptstadt Schwerin. Trotzdem zu weit? Dann gibt es Alternativen: Berliner Eismanufakturen präsentieren stolz Sanddorneis aus Ludwigsluster Früchten. Und wenn man sich nach Brexit und Covid mal wieder in London rumtreibt, einfach in der Newburgh Street reinschauen bei Mühle. Die Rasierpinselmanufaktur aus der erzgebirgischen Gemeinde Stützengrün, ein Vorzeigebetrieb der Neuen Bundesländer, vertreibt in ihrem edlen, 2018 eröffneten Flagship-Store in Soho natürlich auch Sanddornrasierseife. Regionale Identität mit globaler Ausstrahlung – ganz im Sinne von Lulu.
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