Gebt uns rohes Fleisch
Wie das Schabfleisch Tatar nach Russland und zu seinem Namen kam
#29 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt der Gastrosoph der russischen Küche nach.
Wieso heißt angemachtes rohes Schabfleisch eigentlich Tatar? Wikipedia weiß es: Das Gericht, französisch als beefsteak tartare bezeichnet, wurde 1921 von dem Starkoch Auguste Escoffier erfunden. Also der übliche Fall von Russian sounding, von willkürlicher Benennung mit dem Ziel exotischen Mehrwerts auf der Zunge? Immerhin sorgen ja die Zutaten Gurken und Senf für ein gewisses russisches Flair. Ganz so einfach ist es nicht. Escoffier oder wer auch immer das Gericht auf die Speisekarten gebracht hat, hat den Namen nicht aus der Luft gegriffen.
Denn erstens gab es die weitverbreitete Legende, südrussische Reitervölker würden ihr Fleisch unter dem Sattel (oder auch ohne) weich und mürbe reiten. Darin steckt nur ein Körnchen Wahrheit – tatsächlich wurden Fleischlappen auf wundgeriebene Stellen gelegt, um die Tiere zu schonen.
Zweitens könnten sich ethnographische Nachrichten herumgesprochen haben, dass im Russischen Reich als Spezialität rohes Fleisch verzehrt wurde – zum Beispiel als sibirische Rentier-Stroganina oder als persisch beeinflusstes Rezept der Turkvölker und Armenier: gemörsertes Rind, mit Gewürzen, Kräutern, Knoblauch und Bulgur vermengt und zu kleinen Bällchen geformt, ganz wie heute çiğ köfte in der Osttürkei.
Wichtiger aber dürfte gewesen sein, dass der Begriff tartare so wunderbar in den Zeitgeist passte, dass er sich dauerhaft auf unserem europäischen Speisezettel etabliert hat. Und das hatte viel zu tun mit russischer Selbststilisierung, die wiederum auf europäische Trends reagiert.
Der Kult des Barbarischen
Bitte verzeihen Sie, wenn ich weit aushole: Infolge der erfolgreichen Kirchenkritik der Aufklärung durchzieht ganz Europa eine Sehnsucht nach vorchristlichen Wurzeln, die teilweise in bewusster Selbstbarbarisierung mündet. Man sucht nach Identitäten, die gleichermaßen von Religion und klassischer Antikenfixierung entfernt sind.
Celtic Revival und Bardenkult der Britischen Inseln sind noch poetisch geprägt. Aber bald nimmt diese Mode auch heroische, kriegerische Züge an und wird so zu einem Vehikel des Nationalismus, zum Gegenmodell der zivilisierten bürgerlichen Gegenwart. Frankreich entdeckt die Gallier als Vorfahren und errichtet dem trutzigen Freiheitskämpfer Vercingetorix Denkmäler. Der (nord)italienische König Umberto I. lässt sich ebenfalls in bewusster Romverachtung als gallischer Wüterich in Bronze gießen – seine Turiner Statue mit Flügelhelm und Keltenzöpfchen vor der Superga, der bedeutenden Basilika, könnte eine Figur aus „Asterix und Obelix“ sein. Deutschland identifiziert sich auf einmal mit den längst vergessenen Nibelungen und den Schwerterhelden der Wagner-Opern.
Der Trend greift auch nach Osteuropa aus. Die Ungarn prahlen mit ihrer hunnischen Steppenvergangenheit und die Polen fühlen sich in ihrem turkophilen Sarmatismus bestätigt.
Es gab Nationen, die sich mit diesem Trend schwertaten. Dann nämlich, wenn die Vergangenheit, die Abstammung eher peinlich war und nicht ins selbstverordnete Weltbild passte. Spanien brauchte lange, um seine maurische Epoche nicht mehr zu verdrängen.
Das seinen Platz im Konzert der europäischen Mächte suchende Russland weigerte sich zunächst, seine bis ins 17. Jahrhundert dauernde islamische, tatarische und mongolische Prägung positiv zu werten. Auch wenn in Moskau ein Stadtteil bis heute Kitai-Gorod heißt, was man als China-Stadt oder turksprachlich als Festungsstadt übersetzen könnte.
Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzt eine zunächst heftig befehdete Neubewertung, ein spätromantischer Umschwung im Denken ein. Das asiatische, mit antikisierender Gelehrsamkeit auch skythisch titulierte Erbe wird nun bewusst herangezogen, um den ungebärdigen, leidenschaftlichen, sprunghaften und kampfbereiten Nationalcharakter zu beschwören – etwa wenn Dostojewskis „Spieler“ in Baden-Baden halb scherzhaft deutsche Spießigkeiten mit den Worten verreißt, dass sie sein Tatarengemüt reizen.
Das geht teilweise so weit, dass ethnische, ja „rassische“ Andersartigkeit als Distinktionsmerkmal gegenüber banalen Europäern, als exotischer Reiz gesehen wird. So war der Maler Wassily Kandinsky stolz auf seine tungusischen Vorfahren und sein „Mongolengesicht“.
Teile der russischen Elite kokettieren mit ihrem „Barbarentum“, nachdem man entdeckte hatte, dass in den Adern führender Adelsgeschlechter wie der Stroganows Tatarenblut rollte, dass Dichter wie Turgenjew ihre Abstammung auf die Goldene Horde zurückführen konnten. Ethnologen belegten, dass russische Kostüme wie Kaftan oder der Morgenmantel chalat ebenso asiatischen Ursprungs waren wie Volksmärchen oder Bauernmöbel.
Wie rohes Fleisch zu Kraftnahrung wurde
Den Höhepunkt erreicht dieser russische Kult des Barbarischen, des neuheidnischen Sauvagismus, in den Jahren um den 1. Weltkrieg. 1918 droht der revolutionsbegeisterte Dichter Aleksander Blok dem bourgeoisen Westen:
Ihr seid Millionen. Wir – Legion, Legion, Legion.
Versucht nur, euch mit uns zu schlagen!
Ja, unsre schrägen Augen, gierig schon,
Verkünden: Wir sind Skythen, Asiaten!
Dem Publikum, das bei Escoffier speiste, dürfte diese modische ideologische Verknüpfung von Russentum, neoheidnischem Skythenkult und Gewalt durch einen provozierenden Auftritt von Djagilews Ballets Russes vertraut gewesen sein. 1913 hatte die Pariser Uraufführung von Strawinskys Skythenballett Sacre de printemps wegen des Menschenopfer-Sujets und der stampfenden Rhythmen einen veritablen Theater-Skandal ausgelöst, der von der internationalen Presse kommentiert wurde.
All diese Projektionen stecken hinter dem Welterfolg des Tatars, der zugleich eine Umwertung der kulinarischen Werte darstellte. Denn bisher war die einhellige Meinung der europäischen Welt, dass das Verzehren von Rohem eine primitive Kulturstufe darstelle. Jetzt wurde es auf einmal zur Kraftnahrung umgedeutet, als ideale „Rohkost“ für den élan vital, als Überwindung zu zivilisierter, zu verfremdeter, zu dekadenter Nahrung gefeiert. Welch Gaumenkitzel für Westeuropäer und Exilrussen: animalische Raubtierkost, gezähmt durch das salonhafte Zeremoniell der cuisine française.
Roh: Steak tartare aus Pferdefleisch
Heute ist diese „skythische Option“, die Selbststilisierung der Russen als Abkömmlinge herrischer asiatischer Kriegervölker, die sich dadurch vom „faulen Westen“ abheben, obsolet geworden. Der Kommunismus hat das Land gründlicher europäisiert als die Reformen Peters des Großen. Man setzt lieber wieder auf die slawophile Karte, beschwört die Eintracht von Herrschaft und orthodoxer Kirche.
Und so ist auch das einst so wilde, so provozierende Tatar aus der Mode gekommen. Der Tatarenmythos zieht nicht mehr, die weitgehende Entmachtung ihrer Selbstverwaltung auf der Krim lässt sie längst nicht mehr als stolzes freies Reitervolk erscheinen, das sich von niemandem etwas vorschreiben lässt.
Die kulinarische Szene sucht andere rohe Reize: venezianisches Carpaccio, das spielerisch an die karmesinroten Farbtöne des Renaissancemalers Vittore Carpaccio erinnert. Oder roher Fisch als japanisches Sushi und Sashimi oder limettenmariniertes peruanisches Ceviche.
Immerhin, die französische Hochküche versucht, eine Erinnerung an das tatarische Element des Tatars zu rekonstrieren. Puristen, konstatiert die „Kochbibel“ Larousse Gastronomique, bereiten steak tartare aus Pferdefleisch zu: Womit wir zum Schluss tatsächlich kulinarisch in den südrussischen Wolgasteppen angelangt wären, einem Kerngebiet der tatarischen Reiterkultur, wo Pferd schon immer als Festmahl galt.
Lesen Sie weitere Beiträge unseres Gastrosophen Peter Peter in unserer Rubrik Leben/Kulinarisches.