Fremde Sitten, globalisiert
Seehundrouladen? Muss nicht sein, aber Sibiriens Küche ist hin und wieder ein bisschen trendig
#16 – Peter Peters Zunge macht ihn zu einem wahren Kenner der Kochkunst und einem Meister des geschliffenen Worts. Für KARENINA schmeckt der Gastrosoph der russischen Küche nach.
Wenn man wie ich als Gastrosoph unterwegs ist, traut man sich hin- und wieder auch an verpönte oder fast verschollene Speisen. Vor Jahren habe ich einem Salzburger Wirtshaus legal während der kurzen Jagdzeit geschossenes Birkhuhn probiert – der unbekannte Schütze war offensichtlich nur an der Trophäe interessiert. Oder das Buffet mit Singvogel, Schlange und Reisratte in einer Palmweinschänke in Myanmar (auf den Vogel habe ich verzichtet). Ich habe in Island ammoniakhaltigen Gammelhai verkostet und in Grönland rype snaps, aromatisiert mit im Magen von Schneehühnern fermentierten Krähenbeeren. Anderes kenne ich nur vom Hörensagen, etwa die in der Erde vergrabenen Bärentatzen, von denen Old Shatterhand schwärmt.
Man muss nicht alles ausprobieren, aber es ist spannend zu erfahren, dass es auch ganz andere Speisesitten gibt, als wir uns trotz unserer scheinbar globalisierten Küche zu träumen wagen. Eins der verblüffendsten Kochbücher, das mir untergekommen ist, stammt von Tatjana Kuschtewskaja, einer unermüdlichen Mittlerin zwischen deutscher und russischer Kultur. Küche Sibiriens erschien 2006 im Berliner Wostok-Verlag und entführt in eine fremde Kochwelt.
Extrem: Pferdeblutwurst und Seehundrouladen
Nicht nur, dass ich hier etwas über Elchlippe und Bärenfett erfahre, nein die Autorin erforscht auch detailliert die Küchen der indigenen Ethnien. Sie schreibt über jakutische Pferdeblutwurst oder gesäuertes Rentierfleisch im Robbenfellsack, ein Rezept der winzigen Volksgruppe der Selkupen. Mit Innereien gefüllte Seehundrouladen sind typisch für die sibirischen Inuit, Rentierhirn in weißer Sauce für die Hirtenkultur der Nenzen. Da wirken die Gerichte der Sibirjaken, der seit dem 16. Jahrhundert eingewanderten Russen, die als Pelzjäger, Verbannte oder später Industriearbeiter in Sibirien heimisch wurden, schon richtig vertraut: Karpfen in Rote-Beete-Gelee, Blumenkohl mit Rosinen und Kürbiskernen oder Gefüllter Gänsehals.
Damit fängt die Autorin einen kulinarischen Kosmos ein, der vom Ural bis zum Pazifik, vom Polarmeer bis zum Altai-Gebirge reicht. Trotz sowjetischer Planstädte, Erdöl- und Erdgasbohrungen ist Sibirien geprägt durch dünne Besiedelung, fischreiche Flüsse, wildreiche Wälder. Dort, wo Getreide nur schwer reift und wo Permafrost Ackerbau erschwert, ist durch Jagd und Fischfang, Beeren- und Kräutersammeln die Ernährung autonomer als bei uns.
Nomadische Lebensweise ist aus praktischen Gründen auf die Symbiose mit Tieren als Milch- und Fleischspender fixiert. Der einst weit verbreitete Schamanismus assoziiert mit Fleischgenuss auch die Einverleibung magischer Kräfte.
Möglicherweise trendig: die naturnahe Küche Sibiriens
Armchair cooking? Im Lesesessel virtuelle Rezepte durchschmökern, die man nie realisieren wird?
Tatjana Kuschtewskajas kulinarisches Porträt ist mehr. Es zeigt, wie sich die naturnahe Küche Sibiriens mit topaktuellen Trends trifft. Ist rohe angefrorene stroganina die Urform des Carpaccio oder zumindest sibirisches Sushi? Gibt es die gleichen wilden Produkte und fermentierten Beeren, mit denen das Noma in Kopenhagen mit seiner Nordischen Küche Furore macht, nicht auch in Sibirien?
„Mit dem Fleisch schwarzer Krabben gefüllte Pelmeni, Bœuf Stroganoff aus Rentierfleisch mit Pilzen, Fisch in Gurkensud auf sibirische Art, sibirische Äschen mit Preiselbeeren“ – natürlich reizt einiges zum raffinierten Nachkochen. Oder einfach kascha, Buchweizengrütze mit sibirischen Zedernkernen. Für mich der krönende Abschluss einer gastrosophischen Recherche.
Im Freywillig-auffgesprungenen Granat-apffel von 1697, einem der frühesten Wiener Kochbücher, steht ein Luxus-Rezept für Fischsuppe mit Zirbennüssen. Ich habe halb Österreich mit der Frage genervt, ob es die noch gibt, und bin immer nur auf Zirbenlikör verwiesen worden. In Sibirien bin ich endlich fündig geworden.
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