Religiöser Eifer gegen die Bibel
Am 11. März 1931 verbot das Sowjetregime die Einfuhr und den Verkauf der heiligen Schrift
Es klingt nach einer unerhörten und einschneidenden Maßnahme: Die Bibel, die heilige Schrift der größten religiösen Gruppe im sowjetischen Vielvölkerreich, darf nicht mehr verkauft werden. Auch ihre Einfuhr aus dem Ausland in die Sowjetunion ist verboten. Und doch hat diese Anordnung vom 11. März 1931 in der sowjetischen Geschichte weder schweren Erschütterungen verursacht noch tiefe Spuren hinterlassen.
Ein Blick auf die dramatischen Umstände, in deren Kontext das Verbot erfolgte, hilft, dieses scheinbare Paradox zu verstehen. Anfang der 1930er-Jahre lief der erste Fünfjahresplan auf Hochtouren, das ganze Land befand sich in einer Mischung aus revolutionärem Rausch und Bürgerkrieg. Die forcierte Industrialisierung im Schnelltempo ging Hand in Hand mit der Zwangskollektivierung aller Bauern, auch gegen deren erbitterten Widerstand. Sie war ein blutiger und langer Krieg der Stadt – der Machtbasis der Bolschewiki – gegen das Dorf, das sich immer noch außerhalb der Kontrolle der Sowjetmacht befand.
Kampfgeist und Kulturrevolution
Für die Anhänger der Bolschewiki war es die ersehnte Rückkehr zum kompromisslosen Kampfgeist der frühen Jahre. Die Jahre der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) von 1921 bis 1928 waren für die Revolutionäre eine demoralisierende Zeit der Kompromisse, des Rückzugs und der Kapitulation.
Begleitet wurde der neue Aufbruch in die sozialistische Utopie Ende der 1920er-Jahre von einer ebenfalls verschärften Kulturrevolution. Ein zentrales Kapitel war der Frontalangriff gegen die organisierte Religion in einem Staat, der in Glaubensfragen angeblich Neutralität walten ließ.
Zwar hatten Christen verschiedener Konfessionen auch schon in den Jahren der NÖP keinen gesteigerten Grund zur Freude, ebenso wie die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften. So wurde 1922 das gesamte Kircheneigentum konfisziert, und die im selben Jahr geschaffene "Kommission für die Durchführung des Dekrets über die Trennung von Kirche und Staat beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei" aus dem Jahr 1918 war nicht grundlos besser bekannt unter dem Namen "Antireligiöse Kommission". Doch waren ein Gemeindeleben und eine gewisse Normalität durchaus noch möglich.
Von 1928 an änderte sich das grundlegend. Mit Kollektivierung und Industrialisierung begann auch ein Feldzug gegen die Religion. Sonntage wurden zu Arbeitstagen, Gemeinden rechtlich drangsaliert, Kirchen abgerissen, geschlossen oder in Pferdeställe umgewandelt, Moscheen in Alkohollager, und aus Synagogen wurden Klubs. Priester und Geistliche wurden oftmals als "Konterrevolutionäre" bezichtigt, verhaftet, in Lager verbannt oder erschossen.
Das Verbot von "religiöser Propaganda" aus dem Jahr 1929 wurde begleitet von einer Schwemme antireligiöser Publizistik. Der schon 1925 gegründete "Verband der Gottlosen" – eine "zivilgesellschaftliche" Organisation, die sich größter staatlicher Förderung erfreute – nannte sich auf seinem zweiten Kongress 1929 militant in "Verband der kämpfenden Gottlosen" um und organisierte zahllose Demonstrationen, parodierte religiöse Symbole, befeuerte den Hass auf die Geistlichkeit und forderte die Schließung von Gotteshäusern.
Die Bibel: konterrevolutionäre Literatur
Vor dem Hintergrund dieser Kampagne war die Entscheidung vom 11. März 1931, die Bibel offiziell auf die Liste der "konterrevolutionären Literatur" aufzunehmen, deren Einfuhr und Verkauf in der Sowjetunion verboten war, in der Tat eigentlich nur eine kleine Fußnote. Und auch ihre Folgen waren weniger dramatisch, als man vermuten könnte.
Die Bibel war den Bolschewiki schon immer suspekt gewesen. Ihr Druck und ihre Einfuhr aus dem Ausland waren in den vergleichsweise moderaten Jahren der NÖP zwar theoretisch möglich; praktisch aber waren Neuerscheinungen der Bibeln selten, selbst genehmigte Neuauflagen scheiterten oft an angeblichem Papiermangel in den Druckereien.
Gleiches traf auch auf die religiösen Schriften anderer Religionen zu. Diese Maßnahmen brauchten lediglich etwas verschärft zu werden, um das Erscheinen neuer Bibeln zu unterbinden.
Es ist freilich kaum anzunehmen, dass sich bis 1917 in jedem Haus und Hof eine Bibel gefunden hätte. Die Heilige Schrift war traditionell vor allem im Besitz der Geistlichen und derjenigen, die sie sich leisten und lesen konnten – was gerade auf dem Land die Ausnahme war, nicht die Regel.
Außerdem war längst nicht jede Bibel in russischer Sprache erschienen. Bis weit ins 19. Jahrhundert wurden Bibeln in Russland hauptsächlich in altkirchenslawischer Übersetzung gedruckt.
Der bloße Besitz einer Bibel blieb theoretisch zwar auch weiterhin straffrei, nur ihr Verkauf und ihre Einfuhr aus dem Ausland waren verboten. Doch tatsächlich konnte eine Bibel ihren Besitzer in den 1930er-Jahren in Lebensgefahr bringen, wenn sie in falsche Hände fiel. Und das geschah in den folgenden zehn Jahren nicht selten, denn die politische Polizei verfolgte bis zum deutschen Überfall eine systematische Politik der Konfiskation existierender Bibeln, aber auch anderer religiöser Gegenstände wie Ikonen, Kreuze oder Gebetbücher.
Die Bibel verschwand in den Untergrund
Doch je schärfer der Eifer der stalinistischen Suche, desto sorgfältiger wurde die Bibel versteckt und umso größer erschien ihr Wert. Dass ihre heilige Schrift für die Sowjets zu einem toxischen Buch geworden war, schien ihre Wahrheit und ihren Wert für viele nur zu bestätigen. Gerade unter den Bauern verbreitete sich in den dreißiger Jahren der Glaube, dass die Herrschaft der Bolschewiki mit dem Kommen des Antichristen gleichbedeutend sei. Die Religion verschwand nicht – wie der Marxismus und die Bolschewiki es prophezeit hatten. Sie verschwand nur im Untergrund.
Während des Kriegs gab es – primär aus taktischen Überlegungen und nach gründlicher Prüfung – eine ganz kleine Neuauflage. In den Nachkriegsjahrzehnten folgten einige wenige weitere, und ebenfalls stets sehr geringfügige Auflagen. All das änderte nichts daran, dass die Bibel in der Sowjetunion eine Rarität und ein "antisowjetisches" Buch blieb, das höchstens auf dem Schwarzmarkt zu erwerben war. Der geradezu religiöse Eifer, mit dem die Bolschewiki die Religion zunächst verfolgten, erschlaffte nach einem letzten Aufflackern unter Chruschtschow allerdings zunehmend. Das Heilsversprechen der Sowjetideologie – eine politische Religion – überzeugte offenbar nicht einmal mehr ihre Hohepriester.