Der stalinistische Pfarrerssohn

Vor 115 Jahren, am 16. Dezember 1905, kam der Schriftsteller Nikolai Wirta zur Welt

Wer kennt den laut russischem Geburtsregister am 16. Dezember 1905 im Gebiet Tambow geborene Nikolai Wirta heute noch? In der stalinistischen Sowjetunion aber war der Journalist, Schriftsteller und Dramaturg weithin bekannt. Für seine literarischen Werke – Romane, Theaterstücke und das Drehbuch zum Film “Die Schlacht von Stalingrad” – wurde Wirta zwischen 1939 und 1950 gleich viermal mit dem Stalinpreis und einmal mit dem Leninorden geehrt. Auch als Kriegsberichterstatter machte er sich im Zweiten Weltkrieg einen Namen.

Nach dem Krieg vertrat er die erstaunliche These, dass es im sowjetischen Theater keinen Konflikt mehr geben könne. Dort solle sich einzig ein Ringen zwischen dem Guten und dem noch Besseren darstellen.

Nach Stalins Tod änderte sich jedoch auch in Wirtas Oeuvre die Tonalität. So widmete er sich in seiner 1956 erschienenen Novelle "Steile Berge" den Verheerungen der Zwangskollektivierung in sowjetischen Dörfern.

Wirtas steile Künstlerkarriere im Stalinismus ist bemerkenswert, zumal sie vor einem tragischen Hintergrund erfolgte. Sein Vater, ein Landgeistlicher, wurde 1921 als ein Unterstützer des Bauernaufstands von Tambow von den Bolschewiki erschossen – einer von etwa 15 000 Bauern, die bei der grausamen Niederschlagung des Aufstands von der Roten Armee und Einheiten der Tscheka "liquidiert" wurden.

Die im Nachhinein vielleicht bemerkenswerteste Episode im Leben des 1976 gestorbenen Schriftstellers aber fand 1943 statt, vor dem Hintergrund der zeitweiligen und eng umgrenzten Lockerung der Zügel der stalinistischen Diktatur im Krieg gegen das nationalsozialistische Deutschland. So erfuhr auch die bisher religionsfeindliche Politik des Regimes insbesondere gegenüber der Orthodoxie eine gewisse Änderung. 1943 wurde mit Sergij erstmals wieder ein gesamtrussischer Patriarch eingesetzt und sogar die Bibel, bis dahin ein geächtetes und verbotenes Buch, sollte neu aufgelegt werden. Dem treu ergebenen Wirta jedoch übertrug das Regime zuvor die Aufgabe einer gründlichen Durchsicht, Redaktion und Zensur der Heiligen Schrift. Der stalinistische Pfarrerssohn prüfte gewissenhaft und befand: Die Bibel enthält keine Aussagen, die dem Kommunismus widersprechen. Der kriegsbedingten Neuauflage stand nichts mehr im Weg. AF

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