Wohlgesinnte Nachbarn
Eine Rezeptionsgeschichte literarischer Beziehungen zwischen Deutschland und Russland
Angesichts der beschämenden Versuche, den Kreml-Kritiker Alexei Nawalny als Putin-Konkurrenten erst durch Gift, jetzt durch Straflager auszuschalten, fragt man sich, wie immer größer werdender Schaden für die deutsch-russischen Beziehungen abzuwenden ist. Kann dafür ein Buch mit dem Titel „Deutschland Russland. Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte“ etwas leisten?
Herausgegeben von dem Gießener Literaturwissenschaftler Carsten Gansel handelt es sich um ein Kompendium einer Jahrhunderte alten und für beide Seiten fruchtbaren Beziehungsgeschichte, die ins Gewicht fallen sollte. Dabei könnte, wer es aufschlägt, glauben, hier werde nur ein spezielles Interesse bedient, eines der Wissenschaft. Doch die Lektüre der mehr als 600 Seiten war für mich, der dem Thema als Leser und gelegentlich als Literaturkritiker einzelner Werke gegenübersteht, höchst spannend und aufschlussreich.
Russische Autoren in deutschen Verlagen
Die deutschsprachige Rezeption russischer Literatur beginnt im späten 18. Jahrhundert, steht aber im 19. Jahrhundert fast still. Russland gewinnt unter den Reformen von Zar Alexander II. Interesse zurück, damit auch seine Literatur: Turgenjew, Dostojewski, Tolstoi. „Kaum ein deutschsprachiger Verlag konnte sich leisten, die Russen nicht zu publizieren“, schreibt der Germanist und Slawist Jürgen Lehmann in seinem Überblicksaufsatz zu Beginn.
Russland spiegelt sich im Werk deutscher Autoren. Rilke hatte eine russische Phase in dieser Zeit. Paul Celans Interesse an Russland und seiner Literatur fällt dann schon in die zweite Rezeptionsphase. Wer nach Topographien der literarischen Beziehungsgeschichte fragt, stößt auf das Berlin der 20er-Jahre. Und das hat einen Grund, schreibt Lehmann: „Angesichts zunehmender außenpolitischer Isolierung im Gefolge der Oktoberrevolution und des Versailler Friedensvertrags rücken die junge Sowjetmacht und die Republik von Weimar näher zusammen.“
Der 1910 für Musik- und Theaterliteratur gegründete Drei Masken Verlag legt eine „Russische Bibliothek“ auf. In deren Ankündigung wird darauf hingewiesen, dass Deutschland in einer anders gewordenen Welt nur noch Russland als wohlgesinnten Nachbarn habe.
Opfer von Stalins Terror
Diese kulturelle Schicksalsgemeinschaft endete in den Jahren des Stalinschen Terrors von 1936 an. Deutsche Emigranten in der Sowjetunion erlebten ihn am eigenen Leib. Der Worpsweder Maler Heinrich Vogeler, glühender Bewunderer der Sowjetunion, ist nicht das einzige Beispiel, aber eines der tragischsten. Aufsätze im Buch wenden sich einzelnen russischen Autoren zu, die Opfer von Stalins Terror wurden.
Stefan Papst beschreibt Sergei Tretjakows Poetologie. Tretjakow – 1937 erschossen – kam als Futurist das große Epos gar nicht in den Sinn, sein Bekenntnis galt dem „operierenden Schriftsteller“. Es ging nicht um Schöpfung, also Fiktion, sondern um Aufzeichnung der Fakten. Der Leser sollte nicht Konsument, sondern potenzieller Produzent sein. Eine Poetik, die sich ganz in den Dienst der Dynamik dieser frühen sozialistischen Jahre stellte und deren Credo die Korrektur der Zeit, der Umstände war.
Auch der 1901 geborene Gerhard Sawatzky, ein Wolgadeutscher, geriet in Stalins Mühlen. Carsten Gansel erzählt das Schicksal des Manuskripts von „Wir selbst“ und seines Autors. Er hat Sawatzkys 1000-seitiges Epos vor zwei Jahren zum ersten Mal ediert. Es war als Roman über das Schicksal der Russlanddeutschen nach der Oktoberrevolution angelegt und wurde ein sowjetdeutsches „Neuland unterm Pflug“.
Nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion wurde es sofort verboten und vernichtet. Sawatzkys Leidensgeschichte endete 1944 im Gulag. Die Ehefrau rettete die maschinengeschriebene Urfassung des Romans, die erst Mitte der 80er-Jahre im Zuge von Perestoika in Auszügen in der deutschsprachigen Literaturzeitschrift Heimatliche Welten erschien. Wie bei Tretjakow wird auch am Schicksal Sawatzkys deutlich, in welchem Maß die russisch-sowjetische Literatur dieser Zeit eine Topographie des Schreckens ist.
Verwechslung: modern und westeuropäisch
Umso bemerkenswerter liest sich der Aufsatz von Matthias Aumüller über Moderne und Modernismus. Er korrigiert stereotype Rezeptionsbilder, in denen die frühe Moderne nach der Oktoberrevolution von Majakowski und anderen verschwand und plötzlich als sozialistischer Realismus in den 30er-Jahren wieder auftauchte. Aumüller geht dieser „verschwundenen Moderne“ nach und stellt die Frage, ob diese Einschätzung nicht nur die Verwechslung von zwei Begriffen ist: modern und westeuropäisch.
Im Westen verstand man modern vor allem als eine formalästhetische Kühnheit und hing einer sehr exklusiven Literaturauffassung an. In der sowjetischen Literatur war „modern“ eine inhaltsästhetische Kategorie, was der Autor am Beispiel von Fjodor Gladkows Roman „Cement“ von 1925 belegt. Ins Spiel gebracht wird der Begriff „Ornamentale Prosa“, bei der traditionell der Versdichtung vorbehaltene Mittel in die Prosa übernommen werden.
Dieses Verfahren gibt es auch in anderen europäischen Literaturen der Moderne. Ein Prädikat, das Gladkow nicht vorenthalten werden darf, weil er eine sozialistische Heldengeschichte erzählt. Die eigentlich wegen ihrer Härte und Unerbittlichkeit nie als sozialistischer Realismus misszuverstehen war.
Schriftstellerreisen im Kalten Krieg
Zu den Aufsätzen, die mir die Lektüre überaus spannend machten, gehört auch jener von Andreas Degen, der sich mit Reisen im Kalten Krieg beschäftigt. Die Praxis, deutsche Schriftsteller in die Sowjetunion einzuladen, wurde bereits in den 20er- und 30er-Jahren als Versuch der Manipulation praktiziert und gelegentlich verfing sie wie bei Lion Feuchtwanger in dessen Reisebericht „Moskau 1937“.
Nach Gründung von BRD und DDR wurde die Praxis fortgesetzt: 1956 reisten Hans Henny Jahnn, Wolfgang Koeppen und Leo Weismantel auf Einladung in die Sowjetunion. Als Jahnn spontan gebeten wurde, in Moskau eine Rede zu einem Heine-Jubiläum zu halten, an dem auch der Ost-Führer Walter Ulbricht teilnahm und dies als Nachricht in westdeutsche Medien gelangte, schwor Jahnn seiner Absicht ab, etwas über die Reise zu schreiben. Auch die Vergabe des Lessings-Preises an ihn war zunächst erledigt, wurde erst aufgehoben, als Jahnn alle Kontakte zur Sowjetunion beendete.
Wolfgang Koeppen schwor nicht ab, weil er sich wegen Schreibblockaden ständig in Geldnöten befand und bereits einen Vorschuss für ein Radiofeature kassiert hatte. Koeppen fand allerdings, dass die Zukunft in der Sowjetunion „ein altes Herz“ habe.
Weismantel, der in einer bundesdeutschen Delegation zu den VI. Weltfestspielen der Jugend gereist war, musste nach seiner Rückkehr staatsanwaltschaftliche Ermittlungen über sich ergehen lassen. Auch ein Autounfall, in den er verwickelt war, stand damals unter Verdacht, ein Anschlag auf sein Leben gewesen zu sein.
Transkulturelle Literatur
Meine Vorstellung des Buchs gleicht einer Schneise, die ich mir durch die zwei Dutzend Aufsätze und Gespräche geschlagen habe. Sie kann wegen der fragmentarischen Wiedergabe hier nicht alles Gelungene würdigen. Bemerkenswert in meiner Auswahl ist ein Aufsatz der in Salzburg lehrenden Slawistin Eva Hausbacher über die deutsch-russische Gegenwartsliteratur. Er betrachtet vor allem die letzten zehn Jahre, an denen sich ablesen lässt, wie sich der deutschsprachige Literaturmarkt gegenüber Autoren osteuropäischer Herkunft geöffnet hatte.
Das zeigt sich nicht zuletzt an der Preisvergabe: Deutscher Buchpreis an Melinda Nadj Abonji, Terézia Mora (2018 auch Büchnerpreis) und Saša Stanišić. Den Bachmannpreis erhielten die russischstämmigen Autorinnen Olga Matynowa, Katja Petrowskaja und Tanja Maljartschuk.
Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die einen Kulturwechsel vollzogen haben, sind impulsgebend für die deutschsprachige Literatur. Besonders deutlich wird es an der neueren deutsch-russischen Literatur, zu der Olga Grjasnowa, Lena Gorelik, Alina Bronsky und Nino Haratischwili gehören. Dass es vorwiegend Frauen sind, die in diesem Kreis auftauchen, ist ein noch zu untersuchendes Phänomen. Die Autorin des Essays macht deutlich, dass die Bedeutung dieser transkulturellen Gegenwartsliteratur nicht allein darin besteht, individuelle Migrationserfahrungen aufzuarbeiten, sondern auch durch Gegenerzählungen, oft von russisch-deutschen Familiengeschichten, dazu führt, die deutschen Narrative im kulturellen Gedächtnis zu erweitern.
Neue Narrative der Beziehungsgeschichte
Was den Leser bei der Lektüre von „Deutschland Russland. Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte“ in Spannung versetzen kann, sind die neuen Bilder, die viele der Beiträge von der Geschichte des gegenwärtig belasteten deutsch-russischen Verhältnisses zeichnen. Bei Carsten Gansel, dem Herausgeber dieser Aufsatzsammlung, ist einem allgemeinen Interesse für deutsch-russische Themen ein spezielles gefolgt. Aufenthalte zum Zwecke der wissenschaftlichen Lehre führten am Rande zur fast schon kriminalistischen Spurensuche nach Heinrich Gerlachs Manuskript „Durchbruch bei Stalingrad“ und schließlich vor mehr als drei Jahren zum Projekt „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“, woraus die Neuedition von Sawatzkys „Wir selbst“, dem großen Epos der Geschichte der Wolgadeutschen, hervorging.
Nicht jeder Text ist im gleichen Maße zielführend, aber den Weg hinein in die Topographien vollziehen die meisten Autoren kenntnisreich und spannend und lassen den Leser heute auf eine Fortsetzung dieser fruchtbaren kulturellen Beziehungsgeschichte hoffen.
„Deutschland Russland. Topographien einer literarischen Beziehungsgeschichte“