Die Dostojewskis
Vom Glück in Not und Krankheit: Die Lebenserinnerungen an Dostojewski – verfasst von seiner Ehefrau
Wie ein kleines PS zum großen Jubiläum Dostojewskis erscheint die vom Aufbau-Verlag edierte Ausgabe der Lebenserinnerungen seiner Frau. Sie ist erst 1971 in der Sowjetunion herausgegeben worden. Auf ihrer Grundlage kam es 2015 zur erweiterten und ersten vollständigen Ausgabe, sie liegt im Umfeld des 200. Geburtstags von Fjodor Dostojewski jetzt bei Aufbau vor.
Anna Dostojewskaja ist nach einem kleinen Vorspann sofort bei der Situation, in der sie ihren Fjodor Michailowitsch kennenlernt. Als Dostojewski in 26 Tagen einen Roman verfassen musste, war er für das Diktat auf eine Stenografin angewiesen. Die Stenografin wurde sechs Monate später seine Frau. Man schrieb das Jahr 1867, Anna Dostojewskaja war als Braut 21 Jahre alt.
Sie erinnert sich an die Geschichte des Kennenlernens recht nachvollziehbar. Der Schriftsteller war so stark auf seinen Roman fixiert, dass er nicht bemerkt, welch reizende junge Frau sein Diktat mitschreibt und später ins Reine überträgt. Obwohl tagein, tagaus zusammen, kann er sich lange nicht ihren Namen merken.
Die Entstehung eines Romans in 26 Tagen – es wurde bekanntlich „Der Spieler“ – geschah nicht freiwillig. Dostojewski hatte so viel Vorkasse von seinem Verleger eingenommen, dass der einen neuen Roman zu einem bestimmten Zeitpunkt verlangte, in der Hoffnung, sein Autor schaffe ihn nicht. Dann hätte er für die geplante dreibändige Werkausgabe kein Honorar zahlen müssen.
Da trafen sich die Richtigen: einer, der immerfort unter Geldnot litt, und einer, dessen Gier kein Maß kannte. Dank Anna schaffen sie es in 26 Tagen. Sie rechnet ihrem späteren Mann vor, wie viele Druckbögen sie täglich geschafft haben und motiviert Dostojewski, die Arbeit nicht aufzugeben.
Der Umstand, dass Anna die um diese Zeit in Russland offenbar nicht unbekannte Stenografie – mehr als hundert Bewerber meldeten sich für einen Kurs, 25 kamen ans Ziel – so gut beherrscht, führt auch dazu, dass sie ihre Jahre der Ehe mit dem Schriftsteller im Tagebuch festhält und dies in der Kurzschrift, was einige Ausführlichkeit ermöglicht.
Sie benutzt die Stenografie nicht, um Geheimnisse vor ihrem Mann zu verbergen, sondern weil sie ihn nicht mit Unannehmlichkeiten erschrecken will. Ihre Liebe zu Dostojewski ist grenzenlos, dabei ist ihr Mann wahrlich nicht einfach.
Nicht nur, dass er von zwei schweren Krankheiten gehandicapt ist – Epilepsie und Tuberkulose, die später auch Todesursache ist –, er hat zehn Jahre lang, fünf in der Zeit der Ehe, als Glücksspieler die Familie an den Rand des Ruins geführt und war über die Maßen eifersüchtig. Um ihm dafür keinen Grund zu geben, hat seine Frau sich meist von Männerrunden ferngehalten und ist in Modedingen gleichaltrigen Frauen nicht gefolgt, um die 25 Jahre Altersunterschied zu ihrem Mann unsichtbar zu machen. Trotz ihres sehr konservativen Ehebilds legt Anna Wert darauf, von sich als einer unabhängigen Frau zu sprechen, die als Stenografin wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen wollte.
Dass gerade das Rollenbild der Frau in Bewegung war, zeigt eines der Eingangskapitel, in dem Anna die damals noch übliche Praxis der Brautwerbung beschreibt, die sie als so großes Unglück empfindet, dass sie am liebsten ins Kloster gegangen wäre. Dostojewski sah sich als Witwer von bald fünfzig Jahren kaum als Frauenheld und war umso glücklicher, dass Anna seine Werbung annahm, zumal sie keine ihre Weiblichkeit leugnende Nihilistin war, vor denen sich Dostojewski fürchtete. Wie sie zusammenkommen, macht glaubhaft, dass jeder für den anderen das große Glück bedeutet und es auch nicht mit Eskapaden aufs Spiel setzen wollte.
Woher rührt Dostojewskis Spielsucht?
Es wären für diese Buchvorstellung noch eine Fülle weiterer Anekdoten aus Anna Dostojewskajas Erinnerungen an ihren Mann wiederzugeben, aber das Vergnügen sei dem Leser nicht weggenommen. Zumal „Mein Leben mit Fjodor Dostojewski“ in der Summe mehr als ein anekdotischer Lebensbericht ist, sondern viel von der Zeit einfängt, die diese Leben geprägt hat.
Mein Leben mit Fjodor Dostojewski. Erinnerungen
Übersetzt von Brigitta Schröder
Insofern liest sich das Buch in Teilen als historischer Roman zwischen 1865 und 1881 in Russland, den Ehejahren. Für Dostojewskis Verbindung zu den Petraschewzen, die mit frühsozialistischen Ideen das Zarentum zu unterhöhlen versuchten, wurde er 1849 zum Tode verurteilt. Man setzte ihn der Qual einer Scheinerschießung aus, der vier Jahre Straflager folgten.
Diese Vorgeschichte der Ehe wird nur gestreift. Allerdings erklärt Anna aus dem überstandenen Elend berechtigt die Wahl von Dostojewskis Romanstoffen. Ihm waren Menschen in sozialen Grenzsituationen – zu denken ist zuerst an „Schuld und Sühne“ (heute: „Verbrechen und Strafe“) – nicht nur interessant, sondern vertraut. Wie lange hält im erlittenen Elend die Widerstandskraft vor dem Verbrechen zurück?
Anna versucht auch Dostojewskis Spielsucht aus der schockierenden Wirkung der Scheinerschießung zu erklären. Interessant, dass sie die Spielsucht – das Wort fällt im Buch – lange aus dem Erzählen heraushält. In einigen Fällen bekennt sich Anna dazu, ihren Mann zum Spielen angestiftet zu haben. Sie hatte herausgefunden, dass er zwar um Hunderte Rubel erleichtert, aber auch von Spannungen gereinigt wieder nach Hause zurückkehrt und sein Schreiben fortsetzen kann.
Dass in den Lebenserinnerungen, die immerhin 550 Seiten umfassen, nicht nur von Dostojewski erzählt wird, sondern auch von russischer Zeitgeschichte, hebt ihren Wert. Ein interessanter Aspekt ist das Leben vieler Russen im Ausland. Die Dostojewskis sind 1867 unter anderem vor ihren Gläubigern ins Ausland geflohen. Fjodor hatte eine hohe Summe an Schulden – die sich am Ende verzinst auf 20 000 Rubel belief – von seinem überraschend verstorbenen Bruder übernommen.
Vieles hatte sich durch seine Gutmütigkeit hinzuaddiert, denn mancher verlangte Geld aus Verträgen mit dem Bruder, was er nie beweisen konnte. Dostojewski gab ihm vertrauensselig einen Wechsel auf die Schuld.
Dostojewskis Wandlung zum orthodoxen Christen
Im Ausland zogen die Dostojewskis bald wie Nomaden von Dresden nach Genf, Mailand, Florenz, Prag, Wien, wieder Dresden und spürten das Heimweh immer stärker. Zumal dem Schriftsteller auch die Verbindung zu seinem Stoff verloren zu gehen drohte.
Viele Russen, denen sie im Ausland begegneten, hatten sich von ihrer Heimat innerlich verabschiedet und hetzten gegen den Zarismus, wo es ging. Nicht so die Dostojewkis. Anna und ihr Mann brauchten die Heimat als Luft zum Atmen.
Der einstige Sozialist hatte sich in der Ferne in einen konservativen Geist verwandelt, vor allem zu einem sehr gläubigen, der mit Umsturz nichts mehr im Sinn hatte. Der Zar musste Dostojewski nicht mehr fürchten. Anna erklärt in ihren Lebenserinnerungen den Wandel ihres Mannes zu einem orthodoxen Christen sehr spekulativ mit ihrer Einsamkeit im Ausland, die viel Zeit für Grübeleien und innerer Besinnung ließ.
Als sie 1871 wieder nach St. Petersburg zurückkehrten, brachte eine Zeitung eine Notiz darüber und sofort standen die Gläubiger bei ihnen Schlange. Ehefrau Anna, die die Finanzgeschäfte führte, meldet erst für 1880 das Ende ihrer Schulden, aber zu diesem Zeitpunkt blieb ihrem Mann nur noch ein halbes Jahr zu leben.
Zum Abbau der Schulden trug vor allem bei, dass die großen Romane – zuletzt der erste Teil von „Die Brüder Karamasow“ – beste Auflagen erzielten und sie selbst eine Buchhandlung betrieb, die man sich als frühe Form des Versandbuchhandels vorstellen muss. Kaufwillige schickten eine Bestellung mit dem notwendigen Geldbetrag, sie ließ das Buch kaufen und an den Besteller schicken. Daraus erwuchsen ihr Einnahmen von fast tausend Rubel im Jahr. Sie bestätigten ihre an der Seite von Dostojewski gewachsene Selbständigkeit.
Nach dem Tod ihres Mannes geht sie auf in ihrem Bemühen um die Herausgabe seiner Werke. Erst in ihren letzten Lebensjahren – sie stirbt 1918 – schreibt sie „Mein Leben mit Dostojewski“. Sie blieb auch über Fjodor Dostojewskis Tod hinaus seine Frau.
Sicher hätten ein paar Striche den manchmal ausschweifenden Passagen gut getan, aber offensichtlich wollte man es dem Original nicht antun. Die Stärke der entstandenen Beschreibung des Lebens ihres Mannes sind die Intimität ihrer Kenntnisse, die überwiegend nicht geschönt erscheinen, und das dabei eingefangene Zeitbild eines aufgeklärten Russlands. Es handelte sich um das Russland der großen Städte St. Petersburg und Moskau, das dabei war, sich am Konflikt zwischen „Westlern und Slawophilen“ zu zerreiben. Die Lebenserinnerungen von Dostojewskis Frau Anna führen nicht nur zu Dostojewski, sondern zu einem staunenswert von seiner Kultur getragenen Russland.
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